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Full text of "Über Philosophie, Geschichte und Literatur"

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RUDOLF STEINER GESAMTAUSGABE 

VORTRAGE 



OFFENTLICHE VORTRAGE 



RUDOLF STEINER 



Uber Philosophic, 
Geschichte und Literatur 

Darstellungen an der Arbeiterbildungsschule 
und der Freien Hochschule in Berlin 



Autoreferate und Referate 
von vierunddreifiig Vortrdgen, 
gehalten in den Jahren 1901 bis 1905. 
MitBerichten uber Rudolf Steiners Wirken 
im «Giordano Bruno-Bund» 1902 



1983 



RUDOLF STEINER VERLAG 
DORNACH/SCHWEIZ 



Nach vom Vortragenden nicht durchgesehenen Nachschriften und Notizen 
herausgegeben von der Rudolf Steiner-NachlafSverwaltung 

Die Herausgabe besorgten H. Knobel und B. Gloor 



1. Auflage in dieser Zusammenstellung 
Gesamtausgabe Dornach 1983 



Einzelausgaben und Veroffentlichungen in Zeitschriften 
siehe zu Beginn der Hinweise 



Bibliographie-Nr. 51 

Alle Rechte bei der Rudolf Steiner-Nachlafiverwaltung, Dornach/Schweiz 
© 1983 by Rudolf Steiner-Nachlafiverwaltung, Dornach/Schweiz 
Printed in Germany by Konkordia GmbH, Buhl/Baden 

ISBN 3-7274-0510-4 



2« den Veroffentlichungen 
aus dem Vortragswerk von Rudolf Steiner 



Die Grundlage der anthroposophisch orientierten Geistes- 
wissenschaft bilden die von Rudolf Steiner (1861-1925) ge- 
schriebenen und veroffentlichten Werke. Daneben hielt er 
in den Jahren 1900 bis 1924 zahlreiche Vortrage und Kurse, 
sowohl offentlich wie auch fiir die Mitglieder der Theoso- 
phischen, spater Anthroposophischen Gesellschaft. Er selbst 
wollte urspriinglich, dafi seine durchwegs frei gehaltenen 
Vortrage nicht schriftlich festgehalten wiirden, da sie als 
«muridliche, nicht zum Druck bestimmte Mitteilungen» ge- 
dacht waren. Nachdem aber zunehmend unvollstandige 
und fehlerhafte Horernachschriften angefertigt und verbrei- 
tet wurden, sah er sich veranlafit, das Nachschreiben zu re- 
geln. Mit dieser Aufgabe betraute er Marie Steiner-von 
Sivers. Ihr oblag die Bestimmung der Stenographierenden, 
die Verwaltung der Nachschriften und die fiir die Heraus- 
gabe notwendige Durchsicht der Texte. Da Rudolf Steiner 
aus Zeitmangel nur in ganz wenigen Fallen die Nachschrif- 
ten selbst korrigieren konnte, mufi gegeniiber alien Vor- 
tragsveroffentlichungen sein Vorbehalt beriicksichtigt wer- 
den: «Es wird eben nur hingenommen werden mussen, dafi 
in den von mir nicht nachgesehenen Vorlagen sich Fehler- 
haftes findet.» 

Nach dem Tode von Marie Steiner (1867-1948) wurde 
gemafi ihren Richtlinien mit der Herausgabe einer Rudolf 
Steiner Gesamtausgabe begonnen. Der vorliegende Band 
bildet einen Bestandteil dieser Gesamtausgabe. Soweit erfor- 
derlich, finden sich nahere Angaben zu den Textunterlagen 
am Beginn der Hinweise. 



INHALT 



I 

VORTRAGE 
AN DER ARBEITERBILDUNGSSCHULE 

IN BERLIN 

Welt- und Lebensanschauungen von den altesten Zeiten 

bis zur Gegenwart 

Autoreferat. Zusammenfassung von zehn Vortragen, 
gehalten in Berlin am 7., 14., 21., 28. Januar, 4., 11., 
18.,25.Febraar,4.undll.Marzl901 17 

1 . Die griechischen Weltanschauungen 17 

2 . Die Weltanschauungen des Mittelalters und der Neuzeit . . 46 

3. Die neuen Weltanschauungen 57 

William Shakespeare 

Vortrag, Berlin, 6. Mai 1902 (Notizen) 66 

Die Frage der Autorschaft von Shakespeares Werken. Shake- 
speares Dramen als Charakterdarstellungen. Die Werke des 
Mittelalters, auch Dantes, als Ausdruck der christlichen 
Ideen. Die Entwickelung der Einzelpersonlichkeit im Zeit- 
alter der Renaissance. Shakespeares Lebenslauf . Die Wirkung 
der Shakespeareschen Dramen und ihrer unerreicht gebliebe- 
nen Charakterschilderung in fruheren Zeiten und heute. 

Uber romische Geschichte 

Vortrag, Berlin, 19. Juli 1904 73 

Vorletzter Vortrag aus einer Reihe von 10 Vortragen mit dem Thema 
«Geschichte der Urvolker und des Altertums bis zum Untergang der 
R6merherrschaft». 

Die Entwickelung des Romischen Staates. Das Amt des Pon- 
tifex Maximus und der Papst. Gegensatz von rdmischem 
Rechtsstaat und provinzial-kaiserlicher Macht. Entstehen des 



Beamtentums und des romischen Rechts als abstraktes Dog- 
menrecht. Das diesseksgerichtete neue religiose Gefuhl des 
aufkommenden Christentums durch Konstantin, und die 
Durchdringung der Kirche mit romischem Dogmenrecht. 
Das Konzil von Nicaa. Arianisches und athanasisches Chri- 
stentum. Der Untergang des Romischen Reiches durch die 
Germanen. Das romische Machtprinzip der Kirche. Kaiser 
und Papst. Das Monchstum als Reaktion auf das kirchliche 
Machtprinzip. Das Wesen des Christentums als Bewahrer 
von Freiheit und Wurde des Menschen. 

Geschichte des Mittelalters bis zu den grofien Erfindungen 
und Entdeckungen 

Vorwort von Marie Steiner zur 1 . Auflage 1936 94 

Erster Vortrag, Berlin, 1 8 . Oktober 1 904 96 

Das Mittelalter als wichtiger Zeitabschnitt in der Geschichte 
von der Volkerwanderung bis zur Erfindung der Buchdruk- 
kerkunst. Die Schilderung der Germanen durch Tacitus. 
Griechische Kunst, romisches Recht und germanisches Per- 
sonlichkeitserleben. Der allgemeine germanische Charakter. 
Das Faustrecht und der Kampf um die freie Personlichkeit. 
Der Ursprung der Stadtekultur. Palacky und der Sinn fur das 
Tragische bei den Germanen. Wiclif, Heinrich der Heilige, 
die Brudergemeinden. Die Erringung des Freiheitsbewulk- 
seins. 

Z.WEITER Vortrag, 25. Oktober 1904 105 

Die Umschichtungen der germanischen Stamme in Mitteleu- 
ropa vom Jahre 1 bis 600 n.Chr. Verwandtschaft der indo- 
germanischen Stamme. Tuisto und Manus. Eine dem Odys- 
seus geweihte Kultstatte am Rhein. Die gemeinsamen mythi- 
schen Vorstellungen. Asen und Asuras. Die siidliche und 
nordliche germanische Stromung. Germanen und Griechen. 
Die Volkerwanderung. Die Goten. Arianisches und athanasi- 
sches Christentum. Die Sefihaftigkeit ab dem 6. Jahrhundert. 
Ubergang von der Stammes- zur Dorfgemeinschaft. Entste- 
hung des Privateigentums. 



DritterVortrag, 1. November 1904 114 

Die Volkerverschiebungen im 5. Jahrhundert. Riickblick auf 
die ersten drei Jahrhunderte. Vordringen der germanischen 
Stamme gegen das romische Reich durch den Einfall der 
Hunnen 375 n.Chr. Ost- und Westgoten. Die Vandalen. Die 
Entstehung und Konsolidierung des Frankenreiches aus dem 
Grofigrundbesitz. Seine Durchdringung durch das iro-schot- 
tische Christentum. Die Unabhangigkeit von Rom. Aristote- 
les, Plato, Scotus Erigena. Das Waltharilied. Ende der Hun- 
nenherrschaft nach Attilas Tod, 453. Das allmahliche Mift- 
verhaltnis zwischen dem wahren Christentum und seiner po- 
litischen Verwendung durch die Frankenkdnige. Das Entste- 
hen der freien Stadte. 



VierterVortrag, 8. November 1904 124 

Sprunghafte Entwickelung im Mittelalter durch Stadtegriin- 
dungen, Erfindungen und Entdeckungen. Die Macht des 
Frankenvolkes und das Christentum als die zwei bestimmen- 
den Faktoren der Entwickelung. Das merowingische Konig- 
reich. Der Grundbesitz als Machtprinzip, als Gestalter des 
Reiches, verbunden mit Gerichtsbarkeit usw. Der sich daraus 
entwickelnde Beamtenadel als Rivale des Konigs. Gegensatz 
von Kirche als Grundbesitzer und dem freien Christentum 
der britischen Missionare Columban, Gallus, Bonifazius. An- 
lehnung der weltlichen Kirche und des Frankenreiches an 
den Papst. Das Einstromen von aufierer Wissenschaftlichkeit 
in die europaische Kultur durch die Araber. Die Stadtekul- 
tur. Walther von der Vogelweide. 



FunfterVortrag, 15. November 1904 135 

Die Germanen nach der Volkerwanderung. Die Dorfgemein- 
de. Gemein- und Privateigentum. Entstehung des Konigtums 
aus dem (Grofi)grundbesitz. Ubergang von den Merowin- 
gern zu den Karolingern. Eroberungsziige Karls des Grofien. 
Die Rolle der Kirche als Grofigrundbesitzer. Unterwerfung 
Bayerns und der Langobarden. Die Gau- oder Pfalzgrafen als 
weltliche Richter. Gegensatz von Adel und Bauerntum (Freie 



und Horige). Die Kloster als alleinige Kulturstatten. Schola- 
stik und Mystik. Gegensatz von Klostern und verweltlichter 
Kirche. Scotus Erigena. Die Stadtegriindung als Reaktion auf 
die Unterdriickung durch Adel und weltliche Kirche. 



SECHSTERVoRTRAG,6.Dezemberl904 145 

Die germanischen Volkerschaften nach der Volkerwande- 
rung. Der Grofigrundbesitz als Gestalter des Reichs Karls des 
Grofien. Kriege und Fehden als privatrechtliche Auseinan- 
dersetzungen. Die ungebildete Masse des Yolkes und die reli- 
gios-ethische Haltung des Klerus. Die drei niederen Wissen- 
schaften des Mittelalters: Grammatik, Logik, Dialektik. Die 
vier hoheren Wissenschaften: Geometrie, Arithmetik, Astro- 
nomic und Musik. Gegensatz von westlicher (Frankreich) 
und ostlicher (Mitteleuropa) Herrschaft. Einfall der Hunnen 
und Arnulf von Karnten. Heranbildung des Gegensatzes von 
weltlicher und kirchlicher Macht in Mitteleuropa. Die freien 
Stadte. 



SiebenterVortrag, 13.Dezember 1904 154 

Unterschied zwischen West- und Ostreich: Absolutes Konig- 
tum und Kriege zwischen Konigen und unbotmafiigen Her- 
zogen. Einfall der Magyaren. Anlehnung des Kaisers an die 
immer mehr politisierte Kirche. Eliminierung des freien Bau- 
ernstandes. Anfange von Handwerk und Handel. Besiegung 
der Magyaren, ihr Sefihaftwerden und ihre Christianisierung. 
Das Verhaltnis des Volkes zur Kirche. Der Einflufl der Ara- 
ber. Der Marienkultus. Weltuntergangsstimmung um das 
Jahr 1000. Die Clunyazenser-Reformbewegung. Das Faust- 
recht. Papst und Kaiser als Sonne und Mond. Die Entfaltung 
der Macht der Kirche. Canossa. Vorblick auf die Kreuzziige 
und deren Einflusse. 



AcHTERVoRTRAG,20.Dezemberl904 163 

Entstehung des «Reiches». Verschwinden des freien Bauern- 
tums. Der Ritterstand. Weltlicher Klerus und gebildeter Klo- 
sterklerus. Die Zerriittung des Wohlstandes. Der tiefreligiose 



Zug der Zeit. Die Kreuzzuge und ihre Auswirkungen. Das 
Hereinkommen der maurischen Wissenschaft. Mittelalterli- 
che Wissenschaft, Realismus und Nominalismus. Freiheit der 
Lehre. Albertus Magnus. Die Inquisition. Konrad von Mar- 
burg. Gegensatz von Stadt und Land. Die Kultur der Stadte. 
Die ersten Universitaten in Deutschland. Die Mystik von 
Eckhart, Tauler, Suso. Bibelubersetzungen bis Luther. Die 
Griindung grofierer Staaten unter Verlust der Freiheit an den 
Universitaten. Ausspruch Hegels iiber Geschichte. 



NEUNTERVoRTRAG,28.Dezemberl904 173 

Demokratisierung der Stadte. Die Ziinfte. Stadtepolkik ge- 
geniiber Fiirsten und Raubrittern. Begriindung einer mate- 
riellen Stadtekultur. Die Stadtebiinde. Vineta. Hanse. Erfin- 
dung des Schiefipulvers. Die Briider des gemeinsamen Le- 
bens. Katharer und Waldenser. Die Mystik. Gotik und 
Stadtebau. Die Totentanze. Bader und Spitaler. Die fahren- 
den Leute. Die Stellung der Juden. Das Ketzertum als Ursa- 
che der Kreuzzuge. Gottfried von Bouillon. Die Entstehung 
der Ghibellinenpartei. Friedrich Barbarossa und die Kyffhau- 
sersage. Die Monchsorden. Der Templerorden. Der Deutsch- 
ritterorden. Entstehung des Habsburgerreiches. 



Zehnter Vortrag, 29. Dezember 1904 185 

Das Schwinden der kaiserlichen Macht. Die moderne Staa- 
tenbildung im ausgehenden Mittelalter. Die Habsburgische 
Hausmacht. Die schweizerische Eidgenossenschaft. Papst 
und Frankreich gegen deutsche Fiirstenmacht. Unterdriik- 
kung der Bauern. Die Ketzerstromungen. Johannes Hus und 
das Konstanzer Konzil. Die Briider vom gemeinsamen Le- 
ben. Die Schreibinstitute als Vorstufe der Buchdruckerkunst. 
Die Bauernbiindmsse. Ubergang der Kultur an die Stadte. 
Einfall der Turken in Griechenland. Die Renaissance und der 
Humanismus. Reuchlin und Erasmus. Die Eroberung der 
Seewege nach Indien durch Diaz und Vasco da Gama. Ent- 
deckung Amerikas. Die Weltanschauung des Kopernikus. 
Notwendigkeit der Wissenschaft der Weltgeschichte. 



II 



VORTRAGE AN DER 
BERLINER «FREIEN HOCHSCHULE» 

Platonische Mystik und Docta ignorantia 

Kurze Zusammenfassung von drei Vortragen aus einem Kurs von sieben 
Vortragen iiber «Die deutsche Mystik und ihre Voraussetzungen». 

Erster Vortrag, 29. Oktober 1904 199 

«Mathesis», die mystische Welterkenntnis der Gnostiker. Die 
Entwickelung der mystischen Vorstellungen von Dionysius 
Areopagita bis Meister Eckhart. Die Denkweise des Mysti- 
kers. 

Zweiter Vortrag, 5. November 1 904 204 

Der Einflufi des r Platonismus auf die mittelalterliche Mystik. 
Das Erleben des Geistes durch den Mystiker; das Sich- 
Versenken in die Seele — die Katharsis des Mystikers; das 
Aufleben des Christus-Prinzips. 

Dritter Vortrag, 12. November 1904 210 

Leben und Personlichkeit des Nikolaus Cusanus. Sein Werk 
«Docta ignorantia». Drei Stufen der Erkenntnis bei Nikolaus 
Cusanus: Wissen, Beseligung oder Uberwissen, Vergottung. 
Die entsprechenden Stufen bei den Pythagoraern und in der 
Vedantaphilosophie. Vorlaufer des Cusanus. 



Schiller und unser Zeitalter 



Vorwort Rudolf Steiners zur 1. Auflage 1905 217 

ErsterVortrag,21. Januar 1905 218 

Schillers Leben und Eigenart 

Zweiter Vortrag, 28. Januar 1905 226 

Schillers Schaffen und seine Wandlungen 

Dritter Vortrag, 4. Februar 1905 234 

Schiller und Goethe 

Vierter Vortrag, 1 1 . Februar 1905 240 

Schillers Weltanschauung und sein Wallenstein 

Funfter Vortrag, 18. Februar 1905 247 

Schiller, das griechische Drama und Nietzsche 

Sechster Vortrag, 25. Februar 1905 254 

Schillers spatere Dramen 

Siebenter Vortrag, 4. Marz 1905 262 

Schillers Wirkungen im 19. Jahrhundert 

Achter Vortrag, 5. Marz 1905 269 

Was kann die Gegenwart von Schiller lernen? 

Neunter Vortrag, 25 . Marz 1905 276 



Schiller und der Idealismus (Asthetik und Moral) 



ANHANG 

Diskussionen und Vortrage Rudolf Steiners 
im «Giordano Bruno-Bund fur einheitliche Weltanschauung* 

in Berlin im Jahre 1902 

Die Einheit der Welt 

Berlin, imMarz 1902 287 

Diskussion im «Giordano Bruno-Bund fur einheitliche Welt- 
anschauung* mit Votum Rudolf Steiners zur Frage «Was 
bedeutet einheitliche Weltanschauung ihrem Begriffe und 
Werte nach?» 

Referiert in «Der Freidenker» 10. Jahrgang Nr. 8 und Nr. 9 vom 
15. April und 1. Mai 1902 

Wahrheit und Wissenschaft 

Berlin, 7. Mai 1902 298 

Diskussionsveranstaltung des Giordano Bruno-Bundes mit 
einleitendem Referat Rudolf Steiners «Vor welchem Forum 
kann iiber <einheitliche Weltanschauung> entschieden wer- 
den? - Versuch einer Antwort auf die Frage nach <Wahrheit 
und Wissenschaft>». 

Referiert in «Der Freidenker» 10. Jahrgang Nr. 15 und Nr. 16 vom 



1. und 15. August 1902 

Monismus und Theosophie 

Berlin, 8. Oktober 1902 311 

Diskussionsabend Berlin, 15. Oktober 1902 . . . .316 

Referiert von Otto Lehmann-Rufibiildt in «Der Freidenker» 
10. Jahrgang Nr. 21 vom 1. November 1902 

Hinweise 321 

Sachwort- und Namenregister 343 



Ubersicht iiber die Rudolf Steiner Gesamtausgabe .... 359 



I 



VORTRAGE AN DER ARBEITER- 
BILDUNGSSCHULE IN BERLIN 



WELT- UND LEBENSANSCHAUUNGEN 
VON DEN ALTESTEN ZEITEN 
BIS ZUR GEGENWART 

Autoreferat 
Zusammenfassung von zehn Vortragen, 
gehalten in Berlin vom Januar bis Marz 1901 



L Die griechischen Weltanschauungen 

Dafi der Mensch nicht dabei stehenbleiben kann, was ihm 
seine Sinne iiber die Natur und iiber sich selbst sagen, dar- 
iiber hat Aristoteles, den der grofie mittelalterliche Dichter 
Dante den Meister derer nennt, die da wissen, folgende 
schonen Worte gesprochen: «AUe Menschen verlangen von 
Natur nach dem Wissen; ein Zeichen dessen ist ihre Liebe 
zu den Sinneswahrnehmungen, die sie, auch abgesehen von 
dem Nutzen, urn ihrer selbst willen lieben; insbesondere 
die des Gesichts. Nicht blo£ des Handelns willen, sondern 
auch ohne solche Absicht, zieht man das Sehen sozusagen 
allem andern vor, weil dieser Sinn am meisten von alien 
uns Kenntnisse bringt und viele Eigenschaften der Dinge 
offenbart. Alle Tiere leben in ihren bildlichen Vorstellun- 
gen und haben nur wenig Erfahrung; das menschliche Ge- 
schlecht lebt dagegen auch in der Kunst und in dem ver- 
niinftigen Denken.» Und Hegel hat den scheinbar selbstver- 
standlichen, aber doch hochst wichtigen Satz besonders be- 
tont: «Das Denken macht die Seele, womit auch das Tier 
begabt ist, erst zum Geiste.» Der Mensch kann nicht an- 
ders, als sich iiber die Welt und iiber sich selbst zahlreiche 



Fragen vorlegen. Die Antworten, die er sich selbst, durch 
sein Denken, auf diese Fragen gibt, machen die «Welt- und 
Lebensanschauungen» aus. Trefflich hat Angelas Silesius, 
ein deutscher Denker des 17, Jahrhunderts, gesagt, dafi die 
Rose einfach blunt, weil sie bliiht; sie fragt nicht darnach, 
warum sie bliiht. Der Mensch kann nicht so dahinleben. Er 
mufi sich fragen, welchen Grund die Welt und er selbst ha- 
ben. In erster Linie stellt natur gemafi der Mensch sein Den- 
ken in den Dienst des praktischen Lebens. Er macht sich 
Werkzeuge, Maschinen und Einrichtungen mit Hilfe des 
Denkens, durch die er seine Bedurfnisse in vollkommene- 
rer Weise befriedigen kann, als dem Tiere dies mit den sei- 
nigen moglich ist. Aber in zweiter Linie will er durch sein 
Denken etwas erreichen, was mit dem praktischen Nutzen 
nichts zu tun hat; er will sich liber die Dinge aufklaren, er 
will erkennen, wie die Tatsachen zusammenhangen, die 
ihm im Leben begegnen. Die ersten Vorstellungen, die sich 
der Mensch iiber den Zusammenhang der Dinge macht, 
sind die religidsen. Er denkt sich, dafi die Ereignisse in der 
Natur von ahnlichen Wesen gemacht werden, wie er selbst 
eines ist. Nur stellt er sich diese Wesen machtiger vor, als er 
selbst ist. Der Mensch schafft sich Gotter nach seinem Bil- 
de. Wie er selbst seine Arbeit verrichtet, so stellt er sich 
auch die Welt als eine Arbeit der Gotter vor. Aus den reli- 
giosen Anschauungen heraus erwachsen aber allmahlich die 
wissenschaftlichen. Der Mensch lernt die Natur und ihre 
Krafte beobachten. Er kann sich dann nicht mehr damit be- 
gniigen, sich diese Krafte so vorzustellen, als wenn sie ahn- 
lich den menschlichen Kraften waren. Er schafft sich nicht 
mehr einen Gott nach seinem Bilde, sondern er bildet sich 
Gedanken iiber den Zusammenhang der Welterscheinun- 
gen nach dem Bilde, das ihm die Beobachtung, die Wissen- 
schaft liefert. 



Daher entsteht eine denkende Weltbetrachtung inner- 
halb der abendlandischen Kultur in der Zeit, in der die Na- 
turwissenschaft zu einer gewissen Hohe gekommen ist. Die 
ersten Manner der griechischen Kulturwelt, von denen uns 
erne Weltanschauung iiberliefert ist, die nicht mehr in reli- 
giosen Vorstellungen besteht, waren Naturforscher. Thales, 
der erste grofie Denker, von dem uns Aristoteles erzahlt, 
war ein fur seine Zeit bedeutender Naturforscher. Er hat 
die Sonnenfinsternis, die am 28. Mai 585 v.Chr. eintrat, 
wahrend sich das medische und lydische Heer am Halys- 
flusse gegeniiberstanden, bereits vorausberechnen konnen. 
Und auch sein Zeitgenosse Anaximander war ein grofier 
Astronom. 

Wenn in unserer Zeit die Pflege der «Welt- und Lebens- 
anschauung», die als Philosophic an unseren Hochschulen 
gelehrt wird, sich keines besonderen Ansehens erfreut, viel- 
mehr als eine einseitige und fur das Leben entbehrliche 
Schulgelehrsamkeit gehalten wird, so riihrt das davon her, 
dafi die Philosophen der Gegenwart meistens den rechten 
Zusammenhang mit den einzelnen Wissenschaften verlo- 
ren haben. Wer eine «Welt- und Lebensanschauung» auf- 
bauen will, kann nicht bei einer einzelnen Wissenschaft ste- 
hen bleiben. Er mufi alle Erkenntnisse seiner Zeit, alles, 
was wir uber die Natur- und Kulturentwickelung wissen, 
in sich verarbeken. Alle anderen Wissenschaften sind fur 
den Philosophen Handwerkszeug. Bei der groBen Menge, 
zu der allmahlich die Erkenntnisse geworden sind, ist es 
heute allerdings schwierig, eine umfassende «Welt- und Le- 
bensanschauung» auszubilden. So kommt es, dafi die Leh- 
rer der Welt- und Lebensanschauung oft sich mit Fragen 
befassen, die nicht einem wahren Bediirfnisse des Men- 
schen entspringen, sondern die ihnen ihr einseitiges, an ge- 
wissen Uberlieferungen haftendes Denken vorlegt. 



Eine wahrhafte «Welt- und Lebensanschauung» mufi sich 
mit den Fragen beschaftigen, die sich in keiner einzelnen 
Wissenschaft beantworten lassen. Denn jede einzelne Wis- 
senschaft hat es mit einem bestimmten Gebiete der Natur 
oder des Menschenlebens zu tun. Die «Welt- und Lebens- 
auffassung» mufi einen Gedankenzusammenhang suchen in 
dem, was alle einzelnen Wissenschaften uns an Erkenntnis- 
sen darbieten. Die einzelne Wissenschaft kann auch nicht 
jedermanns Sache sein. Dagegen hat die «Welt- und Lebens- 
anschauung» fur alle Menschen Interesse. Nicht jeder kann 
sie ausbauen, weil nicht jeder sich in alien Wissenschaften 
umschauen kann. Aber wie es unzahliger Kenntnisse be- 
darf, um einen Tisch zustande zu bringen, die sich nicht je- 
der aneigenen kann, der einen Tisch braucht, so bedarf es 
auch zum Ausbau einer «Weltanschauung» eines umfassen- 
den Riistzeuges, das nicht jedermann zur Verfugung stehen 
kann. Einen Tisch gebrauchen kann jeder, einen machen 
kann nur, wer es gelernt hat. Welt- und Lebensanschauung 
interessiert jeden; aufbauen und lehren kann und soli sie 
nur der, welcher sich das Riistzeug dazu aus alien einzelnen 
Wissenschaften holen kann. Die Wissenschaften sind nur 
die Werkzeuge der Welt- und Lebensanschauungen. 

Kant hat die Grundfragen, die in dem Menschen das Be- 
diirfnis nach einer Weltanschauung erzeugen, folgenderma- 
fien gestellt: «Was kann ich wissen? Was soli ich tun? Was 
darf ich hoffen?» Goethe hat die Sache kiirzer und bedeuten- 
der zum Ausdrucke gebracht, indem er sagte: «Kenne ich 
mein Verhaltnis zu mir selbst und zur Aufienwelt, so heifi 
ich's Wahrheit.» In der Tat will der Mensch durch eine 
Welt- und Lebensanschauung nichts anderes erreichen, als 
einen Aufschlufi dariiber, welchen Sinn sein eigenes Dasein 
hat, und wie er mit der Natur, die aufier ihm ist, zusam- 
menhangt. 



Die altesten griechischen Denker, so erzahlt uns Aristote- 
les, hielten die stofflichen Anfange fiir die alleinigen von al- 
ien. Das, woraus alle Dinge bestehen, aus dem alles entsteht 
und in das alles schliefilich wieder vergeht: dariiber dachten 
sie nach. In der feuchten Erde entwickeln sich die Samen 
der Lebewesen. Thales war Inselbewohner. Er sah, wie sich 
im Meere unendliches Leben entwickelt. Der Gedanke lag 
nahe, dafi das Wasser der Urstoff sei, aus dem sich alle Din- 
ge entwickeln. So kam es, dafi der erste griechische Denker 
das Wasser fiir den Grund aller Dinge erklarte. Aus Wasser, 
sagt er, entstehe alles, und in Wasser verwandle sich alles. 
Anaximander kam einen Schritt weiter. Er vertraute den 
Sinnen nicht mehr so viel wie Thales. Das Wasser kann 
man sehen. Aber alles, was man sehen kann, verwandelt 
sich in anderes. So dachte Anaximander. Das Wasser kann 
durch Gefrieren fest werden; es kann durch Verdunsten 
dampfformig werden. Unter Dampf und Luft dachten sich 
die Alten dasselbe. Ebenso nannten sie alles Feste Erde. Das 
feste Wasser, die Erde, kann sich in Flussiges, dieses in Luft 
verwandeln, sagte sich demnach Anaximander. Kein be- 
stimmter Stoff ist daher etwas Bleibendes. Er suchte des- 
halb den Urgrund auch nicht in einem bestimmten Stoff, 
sondern in dem unbestimmten. Anaximenes nahm dann 
wieder einen bestimmten Urstoff, namlich die Luft, an. Er 
sagt: «Wie unsere Seele, die Luft ist, uns zusammenhalt, so 
umfafk Hauch und Luft die ganze Welt.» 

Eine viel hohere Stufe der Weltanschauung beschritt 
Heraklit. Ihm drangte sich vor allem der ewige Wechsel 
aller Dinge auf. Nichts bleibt, alles verwandelt sich. Nur 
unsere Sinne tauschen uns, wenn sie uns sagen, dafi etwas 
bleibt. Ich kann^nicht zweimal in denselben Flufi steigen. 
Denn nur scheinbar ist es derselbe Flufi, in den ich das 
zweite Mai steige. Das Wasser, aus dem doch der Flufi be- 



steht, ist ein ganz anderes geworden. Und so ist es mit alien 
Dingen. Der Baum von heute ist nicht der von gestern. An- 
dere Safte sind in ihn eingezogen; vieles, was noch gestern 
in ihm war, hat er mittlerweile ausgeschieden. In den Aus- 
spruch: «Alles fliefk», faftt daher Heraklit seine Uberzeu- 
gung zusammen. Deshalb wird ihm das unruhigste Ele- 
ment, das Feuer, zum Bild alles Entstehens und Vergehens. 

Von ganz anderen Gesichtspunkten ging Empedokles von 
Agrigent aus. Seine Vorganger hatten nach einem einzelnen 
Urstoffe gesucht. Er liefi vier Urstoffe als gleichbedeutend 
nebeneinander gelten. Erde, Wasser, Luft, Feuer bestehen 
von Anfang an nebeneinander. Keiner dieser Stoffe kann 
sich in den andern verwandeln. Sie konnen sich nur in der 
verschiedenartigsten Weise mischen. Und durch ihre 
Mischung entstehen alle die verschiedenen Dinge in der 
Natur. Empedokles glaubt also nicht mehr daran, daft ein 
Ding wirklich entstehe und vergehe. Er glaubt, daft etwas 
scheinbar entstehe, wenn zum Beispiel Wasser und Feuer 
sich vermischen; und er glaubt, daft dasselbe Ding schein- 
bar wieder vergehe, wenn Wasser und Feuer wieder ausein- 
andertreten. Aristoteles erzahlt uns von Empedokles: «Sei- 
ne vier Anfange sollen nach ihm immer beharren, ohne 
Entstehen sein und sich in verschiedenen Verhaltnissen zu 
einem Gegenstande verbinden oder daraus sondern.» Em- 
pedokles nimmt Krafte an, die zwischen seinen vier Stoffen 
herrschen. Zwei oder mehrere Stoffe verbinden sich, wenn 
zwischen ihnen eine anziehende Kraft herrscht; sie trennen 
sich, wenn eine abstoftende Kraft zwischen ihnen wirkt. 
Diese anziehenden und abstoftenden Krafte konnen, nach 
der Uberzeugung des Empedokles, nicht bloft die leblose 
Natur aus den vier Stoffen aufbauen, sondern auch das gan- 
ze Reich des Lebendigen. Er stellt sich vor, daft naturge- 
maft, durch die Krafte, tierische und pflanzliche Korper 



entstehen. Und weil keine verstandige Intelligenz dieses 
Entstehen leitet, so entstehen, bunt durcheinander, zweck- 
mafiige und unzweckmafiige lebendige Gestalten. Nur die 
zweckmafiigen konnen aber bestehen; die unzweckmafii- 
gen miissen von selbst zugrunde gehen. Dieser Gedanke 
des Empedokles ist bereits demjenigen Darwins von dem 
«Kampf urns Dasein» ahnlich. Darwin stellt sich audi vor, 
dafi in der Natur Zweckmaftiges und Unzweckmafiiges 
entstehen und die Welt nur deshalb als eine zweckmaftige 
erscheine, weil im «Kampf urns Dasein» das Unzweckmafii- 
ge fortwahrend unterliege, also zugrunde gehen mufi. 

Anaxagoras, der Zeitgenosse des Empedokles, glaubte 
nicht, wie dieser, die zweckmafiige Ordnung der Welt aus 
dem blofien Wirken mechanischer Naturkrafte erklaren zu 
konnen. Er nahm an, da£ eine geistige Wesenheit, ein allge- 
meiner Weltverstand den Dingen ihr Dasein und ihre Ord- 
nung gibt. Er stellte sich vor, dafi alles aus kleinsten Teilen, 
den sogenannten Homoomerien, bestehe, die alle unterein- 
ander verschiedene Eigenschaften haben. Der allgemeine 
Weltverstand fiigt diese Ur-Teile zusammen, da£ sie zweck- 
volle Dinge und, im Ganzen, ein harmonisch angeordnetes 
Weltgebaude ergeben. Weil er an die Stelle der alten Volks- 
gotter einen allgemeinen Weltverstand setzte, wurde Ana- 
xagoras in Athen der Gottesleugnung angeklagt und mufite 
nach Lampsakus fliehen. In Athen, wohin er sich von Kla- 
zomena aus begeben hatte, stand er in Beziehungen zu 
Perikles, Euripides und Themistokles. 

Die kleinsten Teile, die Homoomerien, oder Samen aller 
Dinge, welche Anaxagoras annahm, stellte er sich ganz ver- 
schieden voneinander vor. An die Stelle dieser kleinsten 
Teile setzte Demokrit solche, die sich durch nichts anderes 
mehr unterschieden als durch Grofie, Gestalt, Lage und 
Anordnung im Raume. In alien iibrigen Eigenschaften sol- 



len die kleinsten Bestandteile der Dinge, die Atome, einan- 
der gleich sein. Was in der Natur wirklich vorgeht, kann 
nach dieser atomistischen Uberzeugung nichts anderes 
sein, als dafi die Lage und Anordnung der kleinsten Korper- 
teile sich andern. Wenn ein Korper seine Farbe andert, so 
hat sich in Wirklichkeit die Anordnung seiner Atome gean- 
dert. Aufier dem leeren Raum und den ihn erfullenden 
Atomen gibt es nichts in der Welt. Es gibt keine Macht, 
welche den Atomen ihre Ordnung verleiht. Diese sind in 
fortwahrender Bewegung. Die einen bewegen sich langsa- 
mer, die anderen schneller. Die schnelleren miissen mit den 
langsameren in Beriihrung kommen. Dadurch ballen sich 
Korper zusammen. Es entsteht also nichts durch einen Ver- 
stand in der Welt oder durch eine allgemeine Vernunft, 
sondern durch blinde Naturnotwendigkeit, die man auch 
Zufall nennen kann. Es ist aus diesen Uberzeugungen her- 
aus erklarlich, dafi die Anhanger Demokrits einen heftigen 
Kampf gegen die alten Volksgotter fiihrten. Sie waren ent- 
schiedene Gottesleugner oder Atheisten. Man mufi in 
ihnen die Vorlaufer der materialistischen Weltanschau- 
ungen spaterer Jahrhunderte sehen. 

Von einer ganz anderen Seite als die bisher genannten 
Denker suchten Parmenides und seine Anhanger den Welt- 
erscheinungen beizukommen. Sie gingen davon aus, dafi 
uns unsere Sinne kein treues, wahrhaftes Bild der Welt lie- 
fern konnen. Heraklit hat aus dem Umstande, dafi sich al- 
les ewig verwandelt, gerade den Schlufi gezogen, da£ es 
nichts Bleibendes gibt, sondern dafi der ewige Flufi aller 
Dinge dem wahren Sein entspricht. Parmenides sagte genau 
umgekehrt: weil sich in der Aufienwelt alles verwandelt, 
weil hier ewig alles entsteht und vergeht, deswegen konnen 
wir das Wahre, das Bleibende nicht durch Beobachtung der 
Aufienwelt gewinnen. Wir miissen das, was diese Auften- 



welt uns darbietet, als Schein auffassen und konnen das 
Ewige, das Bleibende nur durch das Denken selbst gewin- 
nen. Die Aufienwelt ist ein Sinnentrug, ein Traum, der 
ganz etwas anderes ist, als was uns die Sinne vorgaukeln. 
Was dieser Traum wirklich ist, was sich ewig gleich bleibt, 
das konnen wir merit durch Beobachtung der Auftenwelt 
gewinnen, das offenbart sich uns durch das Denken. In der 
Aufienwelt ist Vielfaltigkeit und Verschiedenheit; im Den- 
ken enthullt sich uns das Ewig-Eine, das sich nicht andert, 
das sich immer gleich bleibt. So spricht sich Parmenides in 
seinem Lehrgedicht «Uber die Natur» aus. Wir haben es da 
also mit einer Weltanschauung zu tun, welche die Wahr- 
heit nicht aus den Dingen selbst holen will, sondern welche 
den Urgrund der Welt aus dem Denken heraus zu spinnen 
sucht. Wenn man sich klarmachen will, aus welcher 
Grundempfindung eine solche Weltanschauung stammt, so 
mu& man sich vor Augen halten, dafi oftmals das Denken 
in der Tat die Wahrnehmungen der Sinne in der richtigen 
Weise auslegen, erklaren mufi, um zu einem befriedigenden 
Gedanken zu kommen. Wenn wir einen Stock ins Wasser 
halten, so erscheint er dem Auge gebrochen. Das Denken 
mufi nach den Griinden suchen, warum der Stab gebro- 
chen erscheint. Wir bekommen also eine befriedigende 
Vorstellung dieser Erscheinung nur dadurch, dafi unser 
Denken die Wahrnehmung erklart. Wenn wir den Sternen- 
himmel bloft mit den Sinnen betrachten, so konnen wir 
uns keine andere Vorstellung machen, als diejenige, dafi die 
Erde im Mittelpunkt der Welt stehe, und dafi sich Sonne, 
Mond und alle Sterne um dieselbe bewegen. Erst durch das 
Denken gewinnen wir eine andere Vorstellung. In diesem 
Falle gibt uns sogar das Denken ein ganz anderes Bild als 
die sinnliche Wahrnehmung. Man kann also wohl sagen, 
dafi die Sinne uns in gewisser Beziehung tauschen. Aber die 



Weltanschauung des Parmenides und seiner Anhanger ist 
eine einseitige Ubertreibung dieser Tatsache. Denn wie uns 
die Wahrnehmung gewisse Erscheinungen liefert, die uns 
tauschen, so liefert sie uns auch wieder andere Tatsachen, 
durch die wir die Tauschung richtigstellen konnen. Koper- 
nikus ist nicht dadurch zu seiner Anschauung von der Be- 
wegung der Himmelskorper gekommen, dafi er dieselbe 
aus dem blofien Denken heraus gesponnen hat, sondern da- 
durch, dafi er die eine Wahrnehmung mit anderen in Ein- 
klang gebracht hat. 

Im Gegensatz zu der Anschauung des Parmenides steht 
eine andere altere Weltansicht. Sie geht nicht darauf aus, die 
Zusammenhange in der Aufienwelt fur eine Tauschung an- 
zusehen, sondern sie will gerade durch eine tiefere Beob- 
achtung dieser Aufienwelt zu der Erkenntnis fiihren, dafi in 
der Welt alles auf einer grofien Harmonie beruht, dafi in al- 
ien Dingen Mafi und Zahl vorhanden ist. Diese Anschau- 
ung ist die der Pythagoraer. Pythagoras lebte im 6. Jahrhun- 
dert v.Chr. Aristoteles erzahlt von den Pythagoraer n, dafi 
sie sich gleichzeitig mit den oben genannten Denkern und 
auch noch vor ihnen der Mathematik zuwandten. «Sie 
fuhrten zuerst diese fort und, indem sie ganz darin aufgin- 
gen, hielten sie die Anfange in ihr auch fur die Anfange al- 
ler Dinge. Da nun in dem Mathematischen die Zahlen von 
Natur das erste sind, und sie in den Zahlen viel Ahnliches 
mit den Dingen und dem Werdenden zu sehen glaubten, 
und zwar in den Zahlen mehr als in dem Feuer, der Erde 
und dem Wasser, so gait ihnen eine Eigenschaft der Zahlen 
als die Gerechtigkeit, eine andere als die Seele und der 
Geist, wieder eine andere als die Zeit, und so fort fur alles 
ubrige. Sie fanden ferner in den Zahlen die Eigenschaften 
und die Verhaltnisse der Harmonie, und so schien alles an- 
dere seiner ganzen Natur nach Abbild der Zahlen und die 



Zahlen das erste in der Natur zu sein.» Wer die Bedeutung 
richtig zu wiirdigen weifi, welche Mafi und Zahl in der Na- 
tur haben, wird es nicht verwunderlich finden, dafi eine 
solche Weltanschauung, wie die pythagoraische, entstehen 
konnte. Wenn eine Saite von bestimmter Lange angeschla- 
gen wird, so entsteht ein gewisser Ton. Wird die Saite in 
bestimmten Zahlenverhaltnissen verkiirzt, so entstehen 
immer andere Tone. Man kann die Tonhohe durch Zahlen- 
verhaltnisse ausdriicken. Die Physik driickt auch die 
Farben in Zahlenverhaltnissen aus. Wenn sich zwei Korper 
zu einem Stoffe verbinden, so geschieht das immer so, da£ 
sich durch Zahlen ausdruckbare Gewichtsmengen des 
einen Korpers mit solchen des anderen Korpers verbinden. 
Solche Beispiele davon, welche Rolle Zahl und Mafi in der 
Natur spielen, lassen sich unzahlige anfuhren. Die pythago- 
raische Weltanschauung bringt diese Tatsache in einer ein- 
seitigen Weise zum Ausdruck, indem sie sagt: Mafi und 
Zahl sind der Urgrund aller Dinge. 

In alien bisher besprochenen Weltanschauungen schlum- 
mert eine Frage. Sie kommt in ihnen nirgends zu einem 
deutlichen Ausdrucke, weil die Denker offenbar der An- 
sicht waren, dafi sie sich mit den anderen Fragen, die sie ge- 
stellt haben, von selbst beantwortet. Es ist die Frage nach 
dem Verhaltnis des Menschen zur Welt. Wenn Thales alle 
Dinge aus dem Wasser entstanden glaubt, so denkt er sich 
auch den Menschen aus demselben Quell entsprungen. He- 
raklit war der Meinung, dafi der Mensch in dem ewigen 
Flufi der Dinge mit alien anderen mitschwimme; und Ana- 
xagoras dachte sich den Menschen durch seinen allgemei- 
nen Weltverstand aus seinen Ur-Teilchen aufgebaut, wie 
die Atomisten sich vorstellten, dafi der Zufall auch den 
Menschen aus den Atomen zusammengefiigt habe. Bei Em- 
pedokles taucht zuerst etwas von der Frage auf : In welchem 



Verhaltnis steht der Mensch zu der librigen Natur? Wie 
kann er die Dinge erkennen? Wie ist es ihm moglich, Vor- 
stellungen von dem zu machen, was doch aufter ihm ist? 
Empedokles gab die Antwort: Gleiches kann nur durch 
Gleiches erkannt werden. - Weil der Mensch aus densel- 
ben Stoffen und Kraften besteht wie die iibrige Natur, des- 
halb kann er diese auch erkennen. 

In ganz anderer Weise nahm eine Anzahl von Denkern 
diese Frage in Angriff, die gewohnlich verkannt werden. Es 
sind die Sophisten, deren bedeutendste Personlichkeit Pro- 
tagoras von Abdera ist. Sie werden gewohnlich wie Men- 
schen hingestellt, die mit dem Denken ein oberflachliches 
Spiel, eine eitle Disputiersucht getrieben haben, und denen 
aller Ernst zur Erforschung der Wahrheit gefehlt haben 
soil. Viel hat zu der Meinung, die sich iiber die Sophisten 
herausgebildet hat, die Art beigetragen, wie sie der reaktio- 
nare Lustspieldichter Aristophanes in seinen Dramen ver- 
spottet hat. Es mag sein, daft einzelne Sophisten die Kunst 
des Disputierens ubertrieben haben, es mag auch sein, daft 
unter ihnen manche waren, denen es nur um Haarspalterei- 
en und um ein geckenhaftes Auftreten zu tun war: bei den 
bedeutendsten von ihnen trifft das aber nicht zu, denn es 
waren Manner unter ihnen, die sich durch ein umfassendes 
Wissen auf den verschiedensten Gebieten auszeichneten. 
Von Protagoras mufi das besonders betont werden, aber 
auch von Gorgias wissen wir, daft er ein hervorragender Po- 
litiker war, und von Prodicus riihmt dessen Schiller Sokrates 
selbst, daft er ein ausgezeichneter Gelehrter war, der sich 
die Veredlung der Sprache bei seinen Zoglingen besonders 
angelegen sein lieft. 

Seine Grundanschauung spricht Protagoras in dem Satze 
aus: «Der Mensch ist das Maft aller Dinge, der seienden, daft 
sie sind, der nicht seienden, daft sie nicht sind.» Was kann 



dieser Satz bedeuten? Man kann sagen wie Parmenides: un- 
sere Sinne tauschen uns. Und man konnte noch weiter ge- 
hen als dieser und sagen: vielleicht tauscht uns auch unser 
Denken, Protagoras wiirde antworten: was geht es den 
Menschen an, ob die Welt aufter ihm anders ist, als er sie 
wahrnimmt und denkt. Stellt er denn die Welt fur jemand 
anderen und nicht fiir sich vor? Mag sie fur ein anderes We- 
sen sein wie immer: er hat sich darum nicht zu sorgen. Sei- 
ne Vorstellungen sollen ja nur ihm dienen; er soli sich mit 
ihrer Hilfe in der Welt zurechtfinden. Der Mensch kann 
gar keine anderen Vorstellungen iiber die Welt wollen, als 
diejenigen, die ihm dienen. Was auch noch immer in der 
Welt ist: wenn der Mensch es nicht wahrnimmt, kann es 
ihn nicht kiimmern. Fiir ihn ist da, was er wahrnimmt; und 
es ist fur ihn nicht da, was er nicht wahrnimmt. Das heiftt 
aber eben: der Mensch milk die Dinge mit dem Mafte, das 
ihm seine Sinne und seine Vernunft an die Hand geben. 
Protagoras gibt durch seine Anschauung dem Menschen 
eine feste Stellung und Sicherheit in der Welt. Er befreit ihn 
von unzahligen bangen Fragen, die er nur aufwirft, weil er 
sich nicht getraut, die Dinge nach sich zu beurteilen. 

Man darf sagen, daft durch die Sophistik der Mensch in 
den Mittelpunkt der Weltbetrachtung geriickt wird. Daft 
dies zur Zeit des Protagoras geschah, das hangt mit der Ent- 
wickelung der offenthchen Zustande in Griechenland zu- 
sammen. Das soziale Gefuge der griechischen Staatsverban- 
de hatte sich gelockert. Das hat ja seinen bedeutsamsten 
Ausdruck in den Peloponnesischen Kriegen, 431-404 
v.Chr., gefunden. Vorher war der einzelne fest in die sozia- 
len Zusammenhange eingeschlossen; die Gemeinwesen und 
die Tradition gaben ihm den Maftstab fur all sein Handeln 
und Denken ab. Die einzelne Personlichkeit hatte nur als 
Glied eines Ganzen Wert und Bedeutung. Unter solchen 



Verhaltnissen hatte unmoglich die Frage gestellt werden 
konnen: Was ist der einzelne Mensch wert? Die Sophistik 
ist ein ungeheurer Fortschritt nach der griechischen Auf- 
klarung zu. Der Mensch konnte nunmehr daran denken, 
sein Leben nach seiner Vernunft einzurichten. Die Sophi- 
sten zogen als Tugendlehrer im Lande herum. Wenn man 
die Tugend lehren will, so mu£ man der Uberzeugung sein, 
daft nicht die hergebrachten sittlichen Anschauungen maft- 
gebend seien, sondern daft der Mensch durch eigenes Nach- 
denken die Tugend erkennen konne. 

In solchen Vorstelhingen von der Tugend lebte auch So- 
krates. Man mufi ihn durchaus als einen Schiiler der Sophi- 
stik ansehen. Man weift wenig uber ihn. Die Berichte iiber 
das, was er gelehrt hat, sind zweifelhaft. Klar aber ist, daft 
er in erster Linie Tugendlehrer war, wie die Sophisten. 
Und sicher ist auch, daft er durch die Art, wie er gelehrt 
hat, hinreiftend gewirkt hat. Sein Lehren bestand darin, daft 
er im Gesprach das aus dem Zuhorer selbst herauszulocken 
suchte, was er als das Richtige anerkannte. Der Ausdruck 
«geistige Hebammenkunst» ist in bezug auf seine Lehren 
bekannt. Er wollte in den Geist des Schiilers nichts von au- 
ften hineinbringen. Er war der Ansicht, daft die Wahrheit 
in jedem Menschen gelegen sei, und daft man nur Hilfe zu 
leisten brauche, damit diese Wahrheit zutage trete. Faftt 
man das ins Auge, so zeigt sich, daft Sokrates der Vernunft 
in jedem einzelnen Menschen zu ihrem hochsten Rechte 
verhalf. Er brachte den Schiiler immer dahin, daft dieser 
sich von einer Sache den rechten Begriff machen konne. Er 
ging von den Erfahrungen des alltaglichen Lebens aus. Man 
kann betrachten, was zum Beispiel Tugend bei dem Hand- 
werker, was Tugend bei dem Kaufmann, was Tugend bei 
dem Gelehrten ist. Man wird finden, daft alle diese ver- 
schiedenen Arten des tugendhaften Lebens etwas Gemein- 



sames haben. Dieses Gemeinsame ist eben der Begriff der 
Tugend. Wenn man mit seinem Denken so vorgeht, so be- 
folgt man das sogenannte induktive Verfahren. Man sam- 
melt die einzelnen Erfahrungen, um einen Begriff von einer 
Sache zu erhalten. Wenn man diesen Begriff hat, so kann 
man die Sache definieren. Man hat die Definition der 
Sache. Ein Saugetier ist ein lebendiges Wesen mit einer 
Wirbelsaule, das lebendige Junge zur Welt bringt. Dies ist 
die Definition des Saugetieres. Sie gibt das Merkmal — Ge- 
baren von lebendigen Jungen - an, welches alien Saugetie- 
ren gemeinsam ist. So wirkte Sokrates als Lehrer eines 
scharfen, klaren Denkens. Das ist sein grofies Verdienst. - 
Der romische Redner Cicero hat von Sokrates gesagt, dafi 
er die Philosophic vom Himmel auf die Erde herabgeholt 
habe. Damit ist gemeint, dafi dieser seine Betrachtungen 
vorzuglich iiber den Menschen selbst angestellt habe. Wie 
der Mensch leben solle, das lag ihm vor alien Dingen am 
Herzen. Deshalb sehen wir nun in Griechenland, dafi dieje- 
nigen, die sich um eine Weltanschauung bemiihen, immer 
auch darnach fragen, welche sittlichen Ziele sich der 
Mensch stellen solle. 

Das tritt uns gleich bei den nachsten Nachfolgern des So- 
krates entgegen. Die Kyniker, deren hauptsachlichste Per- 
sonlichkeit Diogenes von Sinope ist, beschaftigen sich mit 
der Frage nach einem naturgemafien Leben. Wie soil der 
Mensch leben, damit sein Leben dem nicht widerspricht, 
was die Natur an Anlagen und Fahigkeiten in ihn gelegt 
hat? Die Kyniker wollten alles Verkiinstelte, Unnatiirliche 
aus dem Leben entfernen. DafS ihnen vor allem die grofite 
Einfachheit als das Beste erschien, ist erklarlich. Natiirlich 
ist, was alien Menschen ein gemeinsames Bedurfnis ist. Der 
Proletarier kam in dieser Lebensauffassung zu seinem 
Recht. Man kann sich daher denken, dafi den sogenannten 



hoheren Standen diese Philosophic wenig gefiel. Was die 
Kyniker forderten, stimmte ja mit den kiinstiich geschaffe- 
nen Bediirfnissen nicht iiberein. Wahrend urspriinglich der 
Name Kyniker nur von der Lehranstalt - Kynosarges - 
herriihrte, wo die Kyniker Unterricht gaben, bekam er spa- 
ter einen verachtlichen Beigeschmack. Neben den Kyni- 
kern wirkten die Kyrenaiker und die Megariker. Auch sie 
waren vor allem auf das praktische Leben bedacht. Die Ky- 
renaiker suchten der Lust zu ihrem Rechte zu verhelfen. 
Die Lust entspricht der Natur des Menschen. Die Tugend 
kann nicht darin bestehen, daft man die Lust in sich ausrot- 
tet, sondern darin, daft man sich nicht zum Sklaven der 
Lust macht. Wer nach Lust strebt, aber immer so, daft er 
Herr seiner Liiste bleibt, der ist tugendhaft. Nur wer zum 
Sklaven seiner Leidenschaften wird, ist tugendlos. 

Die Megariker hielten fest an dem Satze des Sokrates, daft 
die Tugend lehrbar sei, daft also die Vervollkommmmg des 
Denkens auch tugendhafter machen muft. Der wichtigste 
Vertreter der megarischen Lehre ist Euklides, Ihm war das 
Gute ein Ausfluft der hochsten Weisheit. Deshalb war es 
ihm in erster Linie um Erlangung der Weisheit zu tun. 
Und aus dieser seiner Schatzung der Weisheit wird ihm 
wohl der Gedanke erwachsen sein, daft die Weisheit selbst 
der Urquell der Welt sei. Wenn - so dachte er - der 
Mensch sich durch sein Denken zu Begriffen erhebt, so er- 
hebt er sich zugleich zu den Urspriingen der Dinge. Mit 
Euklid nimmt die Weltanschauung eine entschieden ideali- 
stische Farbung an. Man muft sich den Gedankengang des 
Euklid etwa so vorstellen: Es gibt viele Lowen. Die Stoffe, 
aus denen diese bestehen, bleiben nicht zusammen. Der 
einzelne Lowe entsteht und vergeht. Er nimmt Stoffe aus 
der Auftenwelt auf und gibt sie wieder an diese ab. Das, was 
ich mit den Sinnen wahrnehme, das ist das Stoffliche. Was 



an den Dingen sinnlich wahrnehmbar ist, entsteht also und 
vergeht. Dennoch hat ein Lowe, der vor hundert Jahren ge- 
lebt hat, mit einem Lowen, der heute lebt, etwas Gemeinsa- 
mes. Die Stoffe konnen es nicht sein. Es kann nur der Be- 
griff, die Idee des Lowen sein, die ich durch mein Denken 
erfasse. Der Lowe von heute und der Lowe vor hundert 
Jahren sind nach derselben Idee aufgebaut. Das Sinnliche 
vergeht; die Idee bleibt. Die Ideen verkorpern sich in der 
Sinnenwelt immer aufs neue. 

Ein Schiiler des Euklides war Plato. Er hat die Vorstel- 
lung seines Lehrers von der Ewigkeit der Ideen zu seiner 
Grunduberzeugung gemacht. Die Sinnenwelt hat nur einen 
untergeordneten Wert fur ihn. Das Wahre sind die Ideen. 
Wer blofi auf die Dinge der Sinnenwelt sieht, hat nur ein 
Scheinbild, ein Trugbild der wahren Welt. Platos Uberzeu- 
gung ist scharf in folgenden Worten zum Ausdruck ge- 
bracht: Die Dinge dieser Welt, die wir mit den Sinnen 
wahrnehmen, haben kein wahres Sein; sie bleiben nicht. 
Man kann ihr ganzes Sein ebensogut ein Nichtsein nennen. 
Wer nach dem Wahren strebt, kann sich folglich mit den 
Dingen der Sinnenwelt nicht begniigen. Denn das Wahre 
kann nur daher kommen, wo das Bleibende ist. Wenn man 
sich blofi auf die sinnliche Wahrnehmung beschrankt, 
gleicht man einem Menschen, der in einer finsteren Hohle 
festgebunden sitzt, so dafi er nicht einmal den Kopf drehen 
kann, und der nichts sieht, als beim Lichte einer hinter ihm 
brennenden Lampe die Schattenbilder der Dinge hinter 
ihm und auch seinen eigenen Schatten. Die Ideen sind zu 
vergleichen mit den wirklichen, wahren Dingen, und die 
Schatten mit den Dingen der Sinnenwelt. Auch von sich 
selbst erkennt derjenige, der sich auf die Sinnenwelt be- 
schrankt, nur einen Schatten. Der Baum, den ich sehe, der 
Blutenduft, den ich atme: sie sind nur Schattenbilder. Erst, 



wenn ich mich durch mein Denken zu der Idee des Baumes 
erhebe, habe ich das, was wahrhaft bleibend und nicht ein 
vergangliches Trugbild von dem Baume ist. 

Man mufS nun die Frage aufwerfen: wie denkt sich Plato 
das Verhaltnis seiner Ideenwelt zu den Gottesvorstellungen 
der Griechen? Dieses Verhaltnis ist aus Platos Schriften kei- 
neswegs mit vollkommener Klarheit festzustellen. Er 
spricht wiederholt von aufierweltlichen Gottern. Doch 
kann man der Meinung sein, dafi er sich mit solchen Aus- 
spriichen blofi an die griechische Volksreligion anlehnen 
wollte; und man wird nicht fehlgehen, wenn man seine 
Gotterbezeichnungen nur als bildliche Verdeutlichungen 
auffafk. Was Plato selbst als Gottheit auffafit, das ist eine 
erste bewegende Ursache der Welt. Man mufi sich, im Sin- 
ne Platos, vorstellen, dafi die Welt aus den Ideen und der 
Urmaterie besteht. Die Ideen verkorpern sich in der Urma- 
terie fortwahrend. Und den Anstofi zu dieser Verkorpe- 
rung gibt Gott, als der Urgrund aller Bewegung. Gott ist 
fur Plato zugleich das Gute. Dadurch erhalt die Welt einen 
grofien einheitHchen Zweck. Das Gute bewegt alles Sein 
und Geschehen. Die hochsten Weltgesetze stellen also eine 
moralische Weltordnung dar. 

Plato hat seine Weltanschauung in Gesprachsform nie- 
dergeschrieben. Seine Darstellungsform bildete in der gan- 
zen Folgezeit einen Gegenstand der Bewunderung inner- 
halb der abendlandischen Kulturentwickelung. - Plato 
stammt aus einem altadeligen Geschlecht in Athen. Aus Be- 
richten wissen wir, dafi er ein zur Schwarmerei geneigter 
Kopf war. Er wurde der treueste und verstandnisvollste 
Schiiler des Sokrates, der an dem Meister mit unbedingter 
Verehrung hing. Nach der Hinrichtung seines Lehrers be- 
gab er sich nach Megara zu Euklides. Spater unternimmt er 
grofie Reisen nach Cyrene, Agypten, Grofigriechenland - 



d. i. Siiditalien - und Sizilien. Im Jahre 389 v.Chr. kehrte 
er nach Athen zuriick. Doch unternahm er noch eine 
zweite und dritte Reise nach Sizilien. Nach der Riickkehr 
von seiner ersten sizilischen Reise griindete er in Athen sei- 
ne Schule, aus der viele der bedeutenden Manner jener Zeit 
hervorgingen. In Platos Schriften kann man eine allmahli- 
che Wandlung der Anschauungen beobachten. Er nimmt 
Vorstellungen an, die er bei anderen findet. In seinen er- 
sten Schriften steht er ganz auf dem Standpunkte, den er 
sich als Schiiler des Sokrates ausgebildet hat. Spater erlangt 
Euklides starken Einflufi auf ihn, und bei seinem Aufent- 
halte in Sizilien lernt er die Pythagoraer kennen. In Agyp- 
ten eignet er sich verschiedene morgenlandische Gedanken 
an. So kommt es, dafi seine Weltanschauung in seinen 
Schriften nicht so erscheint, daft sie wie aus einem Gusse 
ist. Er verleibt spater Vorstellungen, die er findet, seinen 
urspriinglichen Anschauungen ein. Wir diirfen zu diesen 
seine Seelenwanderungslehre rechnen. Die Seele ist schon 
vor dem Korper vorhanden. Ja, ihre Verkorperung, das 
heifit ihre Verbindung mit der Materie, wird als eine Art 
Strafe angesehen, die sie fur eine im vorweltlichen Sein zu- 
gezogene Schuld zu erleiden hat. Aber die Seele verkorpert 
sich nicht nur einmal, sondern wiederholt. Plato bringt 
diese Ansicht mit der allgemeinen Gerechtigkeit der Welt 
zusammen. Ware mit einem Leben alles zu Ende, so ware 
der Gute im Nachteil gegeniiber dem Schlechten. Es mufi 
vielmehr das Bose, das die Seele in dem einen Leben veriibt 
hat, in einem anderen gebufk werden. Erst wenn alle 
Schuld in den verschiedenen Leben ihre Suhne gefunden 
hat, kehrt die Seele in das Ideenreich zuriick, aus dem sie 
stammt. 

In ihrer Verbindung mit dem Korper bildet die Seele des 
Menschen keine Einheit. Sie zerfallt in drei Teilseelen. Die 



unterste Seele ist die des sinnlichen Lebens; sie hat den Er- 
nahrungs- und Fortpflanzungstrieb zu besorgen. Die mitt- 
lere Seele bezeichnet Plato als die Willenskraft im Men- 
schen. Auf ihr beruht der personliche Mut, die Tapferkeit. 
Und die hochste Seele ist die rein geistige. Sie hat die hoch- 
ste Erkenntnis zu besorgen. Sie ist im Ideenreich heimisch. 
Sie ist der eigentliche unsterbliche Teil der Menschenseele. 
Seine Unsterblichkeitsgedanken bringt Plato in Zusam- 
menhang mit der Vorstellung des Sokrates, dafi das Lehren 
nur in einer Art Hebammenkunst bestehe. Wenn das so ist, 
dann miissen alle Gedanken, die in dem Menschen erweckt 
werden, schon in ihm liegen. Sie liegen in ihm, weil er sie 
auch schon vor seiner Geburt, da ja auch schon die Seele 
vorhanden war, gehabt hat. Er erinnert sich also im Leben 
nur an die Gedanken, die ihm vor seiner Geburt schon ei- 
gen waren. 

Mit Platos Seelenlehre hangt wieder seine Ansicht von 
dem Staate zusammen. Auch der Staat ist die Verkorperung 
einer Idee. Und er ist eine solche Verkorperung nach dem 
Bilde der menschlichen Natur, wenn er vollkommen ist. 
Die einzelnen Seelenkrafte sind im Staate durch die ver- 
schiedenen Stande dargestellt. Die oberste Seele stellen die 
Regierenden dar, die mittlere Seele findet in den Wachtern, 
welche fur die Verteidigung da sind, und die unterste Seele 
in den Handwerkern ihr Ebenbild. Der platonische Staat 
ist ein kommunistischer Staat, aber mit einer streng aristo- 
kratischen Standegliederung. Fur die beiden oberen Stande 
empfiehlt Plato die Ehe- und Besitzlosigkeit. Es soli kloster- 
liche Gemeinschaft und Guterkommunismus herrschen. 
Die gesamte Jugenderziehung, mit Ausnahme der von der 
Familie zu besorgenden ersten leiblichen Kinderpflege, soli 
Aufgabe des Staates sein. 

Platos bedeutendster Schuler ist Aristoteles von Stagira in 



Thrakien. Er wurde mit achtzehn Jahren Platos Zogling. 
Aber er war ein Schuler, der bald seine eigenen Wege ging. 
Im Jahre 343 wurde Aristoteles Erzieher Alexanders, des 
Sohnes Konig Philipps von Mazedonien. Als Alexander sei- 
ne asiatischen Eroberungsziige unternahm, ging Aristoteles 
wieder nach Athen und eroffnete dort eine Schule. 

Das Verhaltnis der Weltanschauung des Aristoteles zu 
derjenigen Platos kann man durch folgenden Vergleich ver- 
anschaulichen. Platos Ideen sind der Materie, in der sie sich 
verkorpern, ganz fremd. Sie sind wie die Idee zu dem 
Kunstwerk, die im Kopfe des Kiinstlers lebt, und die er in 
seinen Stoff hineinbildet. Dieser Stoff, der Marmor einer 
Statue, ist etwas ganz Fremdes zur Idee des Kiinstlers. So 
denkt sich nun Aristoteles das Verhaltnis der Ideen zur Ma- 
terie nicht. Fur ihn liegt die Idee in der Materie selbst. Es 
ist, wie wenn ein Kunstwerk nicht vom Kiinstler seine Idee 
eingepragt erhielte, sondern wie wenn es von selbst sich sei- 
ne Gestalt durch eine dem Stoff innewohnende Kraft gabe. 
Aristoteles nennt die dem Stoff eingeborenen Ideen die 
Formen der Dinge. Es gibt also, im Sinne des Aristoteles, 
keine vom Stoffe getrennte Idee des Lowen zum Beispiel. 
Diese Idee liegt im Stoffe selbst. Es gibt, nach Aristoteles, 
keine Materie ohne Form und keine Form ohne Materie. 
Ein Lebewesen entwickelt sich vom Keim im Mutterleibe 
bis zu seiner ausgebildeten Gestalt, weil die Form in dem 
Lebensstoffe tatig ist und wie eine ihm eingeborene Kraft 
wirkt. In der ersten Anlage eines Lebewesens ist diese Kraft 
oder Form schon vorhanden; nur ist sie da noch aufierlich 
nicht sichtbar; sie schlummert gleichsam noch. Aber sie ar- 
beitet sich heraus, so daft der Stoff die Gestalt annimmt, die 
als schlummernde Kraft schon anfangs in ihm liegt. Im An- 
fange der Dinge gab es nur aufierliche formlose Materie. 
Die Kraft oder der Stoff schlummerte noch ganz in dersel- 



ben. Es war ein Chaos vorhanden mit einer unermefilichen 
in ihm schlafenden Kraft. Um diese Kraft zu erwecken, da- 
mit sich das Chaos zu der mannigfaltigen Welt der Dinge 
bilde, war ein erster Anstofi notwendig. Deshalb nimmt 
Aristoteles einen ersten Beweger der Welt, eine gottliche 
Weltursache an. 

Wenn die Idee oder, wie Aristoteles sich ausdriickt, die 
Form in jedem Dinge selbst liegt, so kann man nicht, wie 
Plato meint, die Dinge als blofie Trugbilder und Schatten 
ansehen und sich mit seinem Denken in eine ganz andere 
Welt erheben, falls man das Wahre erlangen will, sondern 
man mufi sich vielmehr gerade an die sinnlichen Dinge 
selbst wenden und das in ihnen liegende Wesen an den Tag 
bringen. Die denkende Beobachtung selbst gibt also Auf- 
klarung iiber die Welt. Weil Aristoteles davon uberzeugt 
war, deshalb wandte er seine Aufmerksamkeit vor allem 
der Beobachtung zu. Er ist dadurch ein Bahnbrecher der 
Wissenschaften geworden. Er hat die einzelnen Naturwis- 
senschaften gepflegt in einer so umfassenden Weise, wie es 
fur seine Zek nur irgend moglich war. Er ist der anerkann- 
te «Vater der Naturgeschichte». Von ihm liegen zum Bei- 
spiel feine und geistvolle Untersuchungen iiber die Ent- 
wickelung der Lebewesen von dem Keimzustande an vor. 
Solche Untersuchungen hingen mit seinen Weltanschau- 
ungsgedanken auf das naturlichste zusammen. Er mufite ja 
der Ansicht sein, daft zum Beispiel im Ei schon das ganze 
Lebewesen vorhanden sei, nur noch nicht auf aufierlich 
sichtbare Art. Er sagt sich: wenn aus dem Ei ein Lebewe- 
sen entsteht, dann mufi es dieses Lebewesen selbst sein, das 
sich in dem Ei zum Dasein herausarbeitet. Sehen wir ein 
Ei an, so hat es im Grunde eine doppelte Wesenheit. Es ist 
erstens so, wie es unseren Augen erscheint. Aber es hat 
noch eine unsichtbare Wesenheit, die erst spater zum Vor- 



schein kommen wird, wenn es ein ausgebildeter Vogel sein 
wird. 

Diese Anschauung fiihrt Aristoteles fur die ganze Natur 
durch. Nur vor dem Menschen macht er halt. Im menschli- 
chen Ei ist auch schon der ganze Mensch, sogar auch die 
Seele, insofern diese niedrige Verrichtungen vollzieht, die 
auch das Tier ausfiihren kann. Anders soli es aber mit dem 
Geiste des Menschen sein, der die hoheren Tatigkeiten des 
Denkens ausfiihrt. Dieser Geist ist noch nicht in dem 
menschlichen Keime. Wenn der Keim sich selbst iiberlas- 
sen bliebe, so konnte er es bloft bis zu einem tierischen We- 
sen bringen. Ein denkender Geist entstande nicht. Damit 
ein solcher werden kann, mufi in dem Augenblicke, wo die 
rein tierische Entwickelung des Menschen weit genug vor- 
geschritten ist, eine hohere Schopferkraft eintreten und den 
Geist in den Leib hineinschaffen. In der menschlichen Ent- 
wickelung geschieht alles auf naturliche Weise bis zu einem 
bestimmten Augenblicke, namlich bis dahin, wo der Leib 
so weit ist, dafi er den Geist beherbergen kann. Dann, 
wenn das eingetreten ist, wenn durch naturliche Entwicke- 
lung der Leib so weit gediehen ist, dafi er alle notwendigen 
Organe hat, die der Geist zu seinen Zwecken braucht, dann 
wird der Geist in seine leibliche Wohnstatte hineingeschaf- 
fen. So denkt sich Aristoteles, dafi die Geistseele des Men- 
schen in der Zeit entstanden ist; aber er lafit sie nicht durch 
dieselben Krafte entstehen, durch die der Leib entsteht, 
sondern durch einen hoheren Einflufi. Zu betonen ist je- 
doch, dafi die Organe, deren sich der Geist bedient, durch 
die Entwickelung des Leibes entstanden sind. Wenn also 
sich der Geist des Auges bedient, um sich iiber das Gesehe- 
ne Gedanken zu machen, so kann er das nur innerhalb des 
Leibes, der ihm ein Auge zuerst entwickelt hat. Deshalb 
kann Aristoteles auch nicht in dem Sinne von einer Un- 



sterblichkeit sprechen, dafi nach dem Tode der Geist in 
demselben Sinne fortbestehe, wie er vor dem Tode ist. 
Denn durch den Tod gehen seine Organe zugrunde. Er 
kann nicht mehr wahrnehmen. Er steht mit der Welt in 
keinem Zusammenhange mehr. Man darf also nicht be- 
haupten, dafi sich Aristoteles die Unsterblichkeit so vor- 
stelle, als wenn der Geist seinen Leib wie ein irdisches Ge- 
fangnis verlasse und mit den Eigenschaften weiter existiere, 
die man an ihm kennt, Es werden ihm vielmehr alle die Ei- 
genschaften entzogen, die er in seinem irdischen Dasein 
hat. Er fuhrt also dann in der Tat eine Art Schattendasein 
wie etwa die griechischen Helden in der Unterwelt. Und 
von diesem Leben in der Unterwelt tut ja Achilleus den be- 
riihmten Ausspruch: «Lieber ein Tagelohner im Lichte der 
Sonne, als ein Konig iiber die Schatten.» 

Bei einer solchen Ansicht von dem Geiste mufke Aristo- 
teles auch das sittliche Handeln als ein solches ansehen, das 
dieser Geist mit Hilfe der tierischen Seele ausiibt. Der tieri- 
sche Teil der Seele ist ja auf natiirlichem Wege entstanden. 
Wenn dieser Teil allein handelt, wenn also der Mensch sei- 
nen tierischen Trieben und Leidenschaften allein folgt, 
dann kann er kein tugendhafter Mensch sein. Er wird es 
erst, wenn der Geist sich der tierischen Triebe und Leiden- 
schaften bemachtigt und ihnen das rechte Maft gibt. Die tie- 
rische Wesenheit des Menschen wiirde in alien Dingen ent- 
weder zuviel oder zuwenig tun. Der bloft seinen Leiden- 
schaften folgende Mensch ist entweder tollkuhn oder feige. 
Der Geist allein findet die rechte Mitte zwischen Tollkiihn- 
heit und Feigheit, namlich die besonnene Tapferkeit. 

In bezug auf den Staat bekennt sich Aristoteles zu der 
Ansicht, dafi das Gemeinwesen den Bedurfnissen aller sei- 
ner Angehorigen Rechnung tragen miisse. Es gehort zum 
Wesen des Menschen, in einem Gemeinwesen zu leben. 



Einer der Ausspriiche des Aristoteles ist: «Wer fiir sich al- 
lein leben will, raufi entweder ein Gott oder ein Tier sein... 
Der Mensch aber ist ein politisches Tier.» Eine fiir alle 
Menschen richtige Staatsform nimmt Aristoteles nicht an, 
sondern er findet in jedem einzelnen Falle diejenige Staats- 
form fur die beste, die den Bedurfnissen des in Frage kom- 
menden Volkes am besten entspricht. Jedenfalls aber legt er 
dem Staate die Pflicht auf, fur das heranwachsende Ge- 
schlecht zu sorgen. Die Erziehung ist ihm somit Staatssa- 
che; und als Zweck der Erziehung erscheint ihm die Heran- 
bildung zur Tugend. 

Wer die griechische Kultur in ihrer Eigenart ganz verste- 
hen will, der darf nicht vergessen, dafi sich diese Kultur auf 
der Grundlage der Sklaverei aufbaute. Die Gebildeten in- 
nerhalb des Griechentums konnten zu ihrer Bildungsform 
nur dadurch gelangen, dafi ihnen die Moglichkeit dazu 
durch das grofte Heer der Sklaven geboten wurde. Ohne 
Sklaverei konnte sich auch der fortgeschrittenste Grieche 
keine Kultur denken. Deshalb sieht selbst Aristoteles die 
Sklaverei als eine Naturnotwendigkeit an. Er halt sie ein- 
fach fiir selbstverstandlich, denn er glaubt, dafi viele Men- 
schen durch ihr ganzes Wesen so beschaffen seien, dafi sie 
zur vollen Freiheit gar nicht taugen. Nicht ubersehen darf 
aber werden, dafi sich der Grieche das Wohl seiner Sklaven 
angelegen sein liefi; und auch Aristoteles spricht von der 
Verpflichtung des Herrn, fiir seine Sklaven gewissenhaft zu 
sorgen und in ihnen die Menschenwiirde zu achten. 

Aristoteles hat durch mehr als ein Jahrtausend die abend- 
landische Bildung beherrscht. Viele Jahrhunderte hindurch 
beschaftigte man sich nicht mit den Dingen der Natur 
selbst, sondern mit den Meinungen des Aristoteles iiber 
diese Dinge. Seinen Schriften wurde vollkommene Autori- 
tat zugemessen. Alle Gelehrsamkeit bestand darin, die 



Schriften des alten Weisen zu erklaren. Dazu kommt, daft 
man lange Zeit hindurch diese Schriften nur in einer sehr 
unvollkommenen und unzuverlassigen Gestalt hatte. Des- 
halb galten die verschiedensten Meinungen als solche, wel- 
che von Aristoteles herruhren sollten. Erst durch den 
christlichen Philosophen Thomas von Aquino wurden die 
Schriften des «Meisters derer, die da wissen» in einer Weise 
hergestellt, daft man sagen konnte, man habe es mit einem 
einigermaften zuverlaftlichen Text zu tun. Bis zum 12. Jahr- 
hundert beschaftigte man sich aufterdem fast einzig und al- 
lein mit einem Teil des aristotelischen Denkens, mit seinen 
logischen Untersuchungen. Man mufi allerdings sagen, daft 
Aristoteles auf diesem Gebiete ganz besonders bahnbre- 
chend geworden ist. Er hat die Kunst, richtig zu denken, 
das heiftt die Logik, in einer Weise begriindet, daft noch 
Kant am Ende des 18. Jahrhunderts der Ansicht sein konn- 
te, die Logik sei seit Aristoteles um keinen wesentlichen 
Schritt vorwartsgekommen. Die Kunst, in der richtigen 
Weise durch entsprechende Schliisse des Denkens aus einer 
Wahrheit die andere abzuleiten, zu be weisen, hat Aristote- 
les meisterhaft in ein System gebracht. Und da die Gelehr- 
samkeit im Mittelalter weniger Interesse daran hatte, den 
menschlichen Geist durch Naturbeobachtung zu erwei- 
tern, sondern die Offenbarungswahrheiten durch logische 
Beweise zu stiitzen, so muftte ihr an der Handhabung der 
Denklehre besonders gelegen sein. 

Was Aristoteles wirklich gelehrt hatte, das wurde bald 
nach seinem Tode getriibt durch die Auslegungen, die seine 
Nachfolger seinen Anschauungen gaben, und auch durch 
andere Meinungen, die sich an die seinigen anschlossen. 
Wir sehen in den nachsten Jahrhunderten nach Aristoteles 
zunachst drei Weltanschauungen auftauchen, den Stoizis- 
mus, den Epikureismus und den Skeptizismus. 



Die stoische Schule stiftete Zeno von Kition auf Zypern, 
der von 342-270 v.Chr. lebte. Die Schule hat ihren Namen 
von der bunten Saulenhalle (Stoa) in Athen, wo ihre Lehrer 
den Unterricht erteilten. Das offentliche Leben in Grie- 
chenland war seit den Tagen der Sophisten einer noch star- 
keren Lockerung verfallen. Der einzelne stand immer mehr 
fur sich da. Die Privattugend trat immer mehr an die Stelle 
der offentlichen in den Mittelpunkt des Denkens. Die Stoi- 
ker sehen als das Hochste, was der Mensch erreichen kon- 
ne, den vollkommenen Gleichmut im Leben an. Wer durch 
seine Begierden, durch seine Leidenschaften in seelischen 
Aufruhr versetzt werden kann, dem kann ein solcher 
Gleichmut nicht zuteil werden. Er wird durch Lust und Be- 
gierde dahin und dorthin getrieben, ohne daft er sich befrie- 
digt fuhlen kann. Man soli es daher so weit bringen, daft 
man von Lust und Begierde unabhangig ist und allein ein 
solches Leben fuhrt, das durch weise Einsicht geregelt ist. 
Die Welt dachten sich die Stoiker aus einer Art Urfeuer 
entstanden. Sie waren der Ansicht, daft aus dem Feuer alles 
hervorgegangen sei, und daft auch in das Feuer alles zuriick- 
kehre. Dann erneuert sich wieder aus dem Feuer genau die- 
selbe Welt, die schon da war. Die Welt besteht also nicht 
einmal, sondern unzahlige Male in der ganz gleichen Weise. 
Jeder einzelne Vorgang ist schon unendlich oft dagewesen 
und wird unendlich oft wiederkehren. Es ist das die Lehre 
von der ewigen Wiederkunft aller Dinge und Vorgange, die 
in unseren Tagen Friedrich Nietzsche in genau derselben 
Weise erneuert hat. Mit der Sittenlehre der Stoiker stimmt 
eine solche Welterklarung in der besten Weise uberein. 
Denn wenn alles schon dagewesen ist, dann kann der 
Mensch nicht s Neues schaffen. Es ist daher naturlich, daft 
er in dem Gleichmut gegeniiber allem, das auf jeden Fall 
kommen muft, die hochste sittliche Weisheit sieht. 



Die Epikureer sahen das Lebensziel in der Befriedigung, 
die das Dasein dem Menschen gewahrt, wenn er die Lust 
und das Gliick in einer vernunftgemafien Weise anstrebt. 
Es ist unverniinftig, kleinlichen Geniissen nachzujagen, 
denn diese miissen in den meisten Fallen zu Enttauschun- 
gen, ja zum Ungliicke fiihren; aber es ist ebenso unvernunf- 
tig, die edlen, hohen Geniisse zu verschmahen, denn sie 
fiihren zu der dauernden Befriedigung, die das Lebensgliick 
des Menschen bildet. Die ganze Naturanschauung Epikurs 
tragt ein Geprage, dem man es ansieht, daft es sich ihr um 
dauernde Befriedigung im Leben handelt. Es wird vor al- 
lem auf eine richtige Ansieht von der Urteilskraft gesehen, 
damit der Mensch sich durch sein Denken im Leben zu- 
rechtfindet. Denn die Sinne tauschen uns nicht, nur unser 
Denken kann uns tauschen. Wenn das Auge einen ins Was- 
ser getauchten Stab gebrochen sieht, so tauscht uns das 
Auge nicht. Die wirklichen Tatsachen sind so, daft der Stab 
uns gebrochen erscheinen mufi. Die Tauschung entsteht 
erst, wenn sich unser Denken ein falsches Urteil dariiber 
bildet, wie es kommt, daft der Stab gebrochen erscheint. 
Epikurs Ansieht fand am Ende des Altertums zahlreiche 
Anhanger, namentlich die nach Bildung strebenden Romer 
suchten in ihr Befriedigung. Der romische Dichter T. Lu- 
cretius Cams hat ihr in seinem genialen Lehrgedicht «Uber 
die Natur» einen formvollendeten Ausdruck gegeben. 

Der Skeptizismus ist die Weltanschauung des Zweifels 
und des Mifitrauens. Ihr erster bedeutsamster Bekenner ist 
Pyrrho, der schon ein Zeitgenosse des Aristoteles war, da- 
mals aber noch wenig Eindruck gemacht hat. Erst seine 
Nachfolger fanden Anhanger fur ihre Meinung, dafi die Er- 
kenntniskrafte des Menschen nicht ausreichen, um eine 
Vorstellung von der wahren Wirklichkeit zu gewinnen. Sie 
glaubten, man konne nur menschliche Meinungen iiber die 



Dinge aufiern; ob sich die Dinge wirklich so verhielten, wie 
uns unser Denken das mitteilt, dariiber liefie sich nichts 
entscheiden. 

Die mannigfaltigen Versuche, durch das Denken zu emer 
Weltanschauung zu kommen, hatten zu so verschiedenarti- 
gen, zum Teil einander widersprechenden Vorstellungen 
gefuhrt, dafi man am Ende des Altertums zu einem Mifi- 
trauen gegeniiber aller Sinneswahrnehmung und allem 
Denken kam. Dazu kamen Vorstellungen, wie diejenigen 
Platons, dafi die sinnliche Welt nur ein Traum- und Trug- 
bild sei. Solche Vorstellungen verkmipften sich nun mit ge- 
wissen morgenlandischen Gedanken, welche die Nichtig- 
keit und Wertlosigkeit des Lebens predigten. Aus diesen 
Einzelheiten baute sich in Alexandrien in den Jahrhunder- 
ten des zu Ende gehenden Altertums der Neuplatonismus 
auf. Als die wichtigsten Bekenner dieser Lehre sind Philo, 
der zur Zeit Christi lebte und Plotin zu nennen. Philo zieht 
aus der Lehre Platos die Konsequenzen fur das sittliche 
Leben. 1st die Wirklichkeit ein Trugbild, dann kann die 
Tugend nur in der Abkehr von dieser Wirklichkeit beste- 
hen und in der Hinlenkung aller Gedanken und Empfin- 
dungen zu der einzigen wahren Wirklichkeit liegen, die er 
bei Gott suchte. Was Plato in der Ideenwelt gesucht hatte, 
das glaubte Philo in dem Gott des Judentums zu finden. 
Plotin sucht dann diesen Gott nicht durch das vernunftige 
Erkennen zu erreichen, denn dieses kann sich nur auf das 
Endliche, Vergangliche beziehen: er sucht zu dem ewigen 
Urwesen durch innere Erleuchtung, durch ekstatisches 
Versenken in die Tiefen der Seele zu kommen. Durch ein 
solches Versenken kommt der Mensch zu dem Urwesen, 
das sich in die Welt ausgegossen hat. Diese Welt ist nur ein 
unvollkommener Ausflufi, ein Abfall von dem Urwesen. 



2. Die Weltanschauungen des Mittelalters und der Neuzeit 

Etwas ganz Neues tritt mit dem Christentum in der Welt- 
anschauungs-Entwickelung des Abendlandes auf. Das ver- 
niinftige Denken wird von einer ganz anderen Autoritat, 
von der Offenbarung, in den Schatten gedrangt. Die Wahr- 
heit kommt nicht aus dem Denken, sondern stammt von 
einer hoheren Macht, die sie dem Menschen enthiillt hat: 
das wird nunmehr die Uberzeugung. Es ist der Glaube an 
Tatsachen von iiberirdischer Bedeutung und der Unglaube 
gegeniiber der Vernunft, der das Wesen des Christentums 
ausmacht. Die Bekenner der christlichen Lehre wollen 
nicht an ihr Denken glauben, sondern an sinnenfallige Er- 
eignisse, durch welche sich die Wahrheit kundgegeben 
habe. «Was von Anfang her geschehen ist, was wir gehort, 
was wir mit Augen gesehen haben, was wir selbst ge- 
schauet, was unsere Hande beriihrt haben von dem Worte 
des Lebens . . . was wir sahen und horten, melden wir Euch, 
damit Ihr Gemeinschaft mit uns habt.» So heifk es in der 
1. Epistel Johannis. Und Augustinus sagt: «Ich wiirde dem 
Evangelium nicht glauben, wenn mich die Autoritat der 
katholischen Kirche nicht dazu bewegte.» Was die Zeitge- 
nossen Christi gesehen und gehort und was die Kirche als 
solch Gehortes und Gesehenes durch Uberlieferung aufbe- 
wahrt, das wird nun Wahrheit; nicht mehr das gilt als sol- 
che, was der Mensch durch sein Denken erreicht. 

Im Christentum treten uns einerseits die religiose Gedan- 
kenwelt des Judentums, andererseits die Vorstellungen der 
griechischen Weltanschauung entgegen. Die Religion des 
Judentums war ursprunglich eine national-egoistische. 
Gott hat sein Volk auserwahlt zur irdischen Macht und 
Herrlichkeit. Aber dieses Volk hatte die bittersten Enttau- 



schungen erleben mussen. Es war in die Gefangenschaft 
und Untertanigkeit anderer Volker gekommen. Seine Mes- 
siashoffnungen gingen daraus hervor, dafi es Erlosung aus 
seiner Schmach und Erniedrigung von seinem Gotte erwar- 
tete. Diese Erniedrigung schrieb man der eigenen Sundhaf- 
tigkeit zu. Hier dringen Vorstellungen ein von einer Ab- 
kehr vom Leben, das zur Siindhaftigkeit gefiihrt hat. Man 
solle sich nicht an dieses Leben hangen, das ja zur Siinde 
fuhrt; man solle vielmehr zu Gott sich wenden, der bald 
sein Reich auf diese Erde bringen und die Menschen aus der 
Schmach befreien wird. Von solchen Vorstellungen war Je- 
sus ganz erfiillt. Zu den Armen und Bedriickten wollte er 
sprechen, nicht zu denen, welche an den Schatzen dieses 
Lebens hangen. Das Himmelreich, das bald kommt, wird 
denen gehoren, die vorher im Elend gelebt haben. Und Je- 
sus stellte sich das Himmelreich in zeitlicher Nahe vor. 
Nicht auf ein geistiges Jenseits verwies er die Menschen, 
sondern darauf, dafi in der Zeit, und zwar bald, der Herr 
kommen und den Menschen die Herrlichkeit bringen wer- 
de. Schon durch Paulus, noch mehr durch die Glaubensleh- 
rer der ersten christlichen Jahrhunderte trat an die Stelle 
des naiven Glaubens eine Verbindung der Lehren Christi 
mit den Vorstellungen der spateren griechischen Philoso- 
phen. Das zeitlich nahe Himmelreich wurde so zum Jen- 
seits. Der Christenglaube wurde mit Hilfe griechischer 
Weltanschauungsgedanken umgedeutet. Aus dieser Um- 
deutung, aus dieser Zusammenarbeitung von ursprunglich 
naiven Vorstellungen mit den iiberlieferten Anschauungen 
entwickelte sich im Laufe der Zeken der dogmatische In- 
halt der christlichen Lehre. Das Denken trat ganz in den 
Dienst des Glaubens, es wurde der Diener der Offenba- 
rung. Das ganze Mittelalter arbeitet daran, mit Hilfe des 
Denkens die Offenbarung zu stiitzen. Wie in den ersten 



Jahrhunderten Denken und Offenbarung ineinanderarbei- 
ten, davon gibt der Kirchenvater Augustinus ein Zeugnis; 
wie das in der spateren Zeit in der Kirche geschah, Thomas 
von Aquino. Augustinus sagt sich: Wenn wir auch zweifeln: 
die eine Tatsache bleibt doch bestehen, dafi das Denken, 
der denkende Mensch selbst da sein mufi; sonst konnte er ja 
nicht zweifeln. Wenn ich zweifle, so denke ich; also bin 
ich, ist meine Vernunft da. Und in der Vernunft offenbaren 
sich mir gewisse Wahrheiten. Aber meine Vernunft er- 
kennt niemals alle Wahrheit, sondern immer nur einzelne 
Wahrheiten. Diese einzelnen Wahrheiten konnen nur von 
dem Wesen herstammen, bei dem alle Wahrheit ist, von 
Gott. Es mufi also eine gottliche Wesenheit geben. Meine 
Vernunft beweist mir das. Meine Vernunft gibt mir aber 
nur Teile der Wahrheit; in der Offenbarung liegt die hoch- 
ste Wahrheit. Thomas von Aquino ist ein umfassender 
Denker, welcher das ganze Wissen seiner Zeit in erstaun- 
lich scharfsinniger Weise verarbeitet. Man darf sich durch- 
aus nicht vorstellen, daft sich dieser christliche Philosoph 
der Naturerkenntnis und der Vernunft feindlich gegen- 
uberstellte. Die Natur war fur ihn die eine Quelle der 
Wahrheit; die Offenbarung aber die andere. Von Gott 
ruhrt, nach seiner Meinung, alles in der Welt her. Auch die 
Naturerscheinungen sind ein Ausflufi der gottlichen We- 
senheit. Wenn wir iiber die Natur forschen, so forschen 
wir mit unserem Denken iiber die Taten Gottes. Bis zu den 
hochsten Taten Gottes konnen wir aber mit unserem 
menschlich schwachen Denken nicht dringen. Wir kon- 
nen, nach Thomas von Aquino, wohl noch aus unserer 
Vernunft beweisen, dafi es einen Gott gibt; aber von dem 
Wesen Gottes, von seiner Dreieinigkeit, von der Erlosung 
der Menschen durch Christus, von der Macht der Sakra- 
mente und so weiter, konnen wir aus der Vernunft nichts 



erfahren; dariiber unterrichtet uns die Offenbarung durch 
die Autoritat der Kirche. Nicht weil diese Dinge iiberhaupt 
nichts mit der Vernunft zu tun haben, meint Thomas, 
kann der Mensch sie durch sein Denken nicht erreichen, 
sondern nur, weil die menschliche Vernunft zu schwach 
ist. Eine starkere Vernunft konnte also auch die geoffenbar- 
ten Wahrheiten begreifen. Diese Anschauung stellt sich in 
der Scholastik des Mittelalters dar. 

Einen anderen Weg als die Scholastik schlug die deutsche 
Mystik zur Erreichung der Wahrheit ein. Die wichtigsten 
Mystiker sind: Meister Eckhart, Johannes Tauler, Heinrich 
Suso y Paracelsus, Jakob Bohme und Angelas Silesius. Sie bil- 
den insofern die Vorlaufer der neueren Weltanschauungen, 
als sie nicht von einer aufieren Autoritat ausgingen, son- 
dern die Wahrheit in der Seele des Menschen und in den Er- 
scheinungen der Natur suchen wollten. Nicht ein aufterer 
Christus kann, nach ihrer Meinung, dem Menschen den 
Weg zu seinem Ziele zeigen, sondern allein die Geisteskraf- 
te im menschlichen Innern weisen diesen Weg. «Der Arzt 
mufi durch der Natur Examen gehen», sagt Paracelsus, um 
darauf hinzuweisen, dafi in der Natur selbst die Quelle der 
Wahrheit ist. Und Angelus Silesius betont, daft nicht aufter 
den Dingen der Natur eine gottliche Wesenheit sei, son- 
dern daft Gott in der Natur sei. Wie die Natur selbst das 
Gottliche ist und als Gottliches schafft, das driickt er in 
schonen Satzen aus, wie zum Beispiel: «Ich weift, dafi ohne 
mich Gott nicht ein Nu kann leben; werd' ich zu nicht, er 
mull vor Not den Geist aufgeben.» Gott hat kein Leben 
aufier den Dingen, sondern nur in den Dingen. Von einer 
solchen Vorstellung ist auch die Weltanschauung Jakob 
Bohmes ganz beherrscht. 

An der Scholastik ist ersichtlich, dafi sie immerfort be- 
strebt war, einen Einklang zwischen Vernunft und Offen- 



barung herzustellen. Das ging nicht ohne verkiinstelte Lo- 
gik, ohne die spitzfindigsten Schlufifolgerungen ab. Von 
solchen Schluftfolgerungen wollten sich die Mystiker frei 
machen. Das Hochste, was der Mensch erkennen kann, 
scheint ihnen unmoglich auf logische Spitzfindigkeiten auf- 
zubauen zu sein, es mufi sich klar und unmittelbar in der 
Natur und im menschlichen Gemiite offenbaren. 

Von ahnlichen Empfindungen ging auch Luther aus. Ihm 
war es weniger darum zu tun, auf was es dem Mystiker an- 
kam: er wollte die gottliche Offenbarung vor allem vor 
dem Widerspruche der Vernunft retten. Er suchte das, im 
Gegensatze zu den Scholastikern, dadurch zu erreichen, 
daft er sagte: Der Vernunft steht in Glaubenssachen uber- 
haupt keine Entscheidung zu. Die Vernunft solle sich mit 
der Erklarung der Welterscheinungen zu tun machen; mit 
den Glaubenswahrheiten habe sie nichts zu tun. Das ge- 
offenbarte Wort ist die Quelle des Glaubens. Mit diesem 
Glauben hat die Vernunft gar nichts gemein; er geht sie 
nichts an. Sie kann ihn nicht widerlegen und auch nicht 
beweisen. Er steht fest fur sich da. Wenn sich die Vernunft 
an die religiosen Wahrheiten heranmacht, dann gibt es nur 
eitel Gezank und Geschwatz. Deshalb schmahte Luther 
den Aristoteles, auf dessen Lehre sich die Scholastiker ge- 
stiitzt hatten, wenn sie dem Glauben durch die Vernunft 
eine Grundlage geben wolllten. Er sagt: «Dieser gottver- 
fluchte Aristoteles ist ein wahrhafter Teufel, ein graulicher 
Verleumder, ein verruchter Sycophant (Verleumder), ein 
Fiirst der Finsternis, eine Bestie, ein hafilicher Betriiger der 
Menschheit, fast aller Philosophie bar, ein offener und an- 
erkannter Liigner, ein geiler Bock.» Man sieht, um was es 
sich handelt. Aristoteles hatte durch menschliches Denken 
die hochsten Wahrheiten erreichen wollen; Luther wollte 
diese hochsten Wahrheiten vor der Bearbeitung durch die 



Vernunft ein fur allemal sicherstellen. Deshalb nennt er 
auch die Vernunft «des Teufels Hure, die nichts kann, denn 
lastern und schanden, was Gott redet und tut». Wir sehen 
die Vorstellungen Luthers auch heute noch in der gleichen 
Gestalt fortwirken, wenn auch die moderne Theologie ein 
fortschrittliches Mantelchen um sie breitet. In dem viel- 
gepriesenen «Wesen des Christ entums» von Adolf Harnack 
lesen wir: «Die Wissenschaft vermag nicht, dem Leben 
einen Sinn zu geben... Die Religion, namlich die Gottes- 
und Nachstenliebe, ist es, die dem Leben Sinn gibt... Jesu 
eigentliche Grofie ist, dafi er die Menschen zu Gott gefuhrt 
hat... Die christliche Religion ist ewiges Leben mitten in 
der Zeit.» 

Kurze Zeit nach Luthers Auftreten gelang der von ihm 
geschmahten Vernunft ein Sieg nach dem andern. Koperni- 
kus stellte seine neue Anschauung von der Bewegung der 
Himmelskorper auf. Kepler stellte die Gesetze fest, nach 
denen sich die Planeten um die Sonne bewegen; Galilei 
richtete das Fernrohr hinaus in ungemessene Himmelsrau- 
me und gab der Natur dadurch Gelegenheit, aus sich heraus 
eine Fiille von Tatsachen zu enthullen. Durch solche Fort- 
schritte mufke die Naturforschung zu sich selbst und zur 
Vernunft Vertrauen gewinnen. Galilei gibt die Empfindun- 
gen wieder, die sich in einem Denker der damaligen Zeit 
festsetzten. Man glaubte jetzt nicht mehr im Sinne des Ari- 
stoteles zu wirken, wenn man an dem festhielt, was er mit 
seinen beschrankten Kenntnissen behauptet hat. Dies hat 
das Mittelalter get an. Jetzt war man der Meinung, man 
schaffe im Geiste des Aristoteles, wenn man, wie er, den 
Blick in die Natur richte. Es sind goldene Worte, die in die- 
ser Hinsicht Galilei gesprochen hat. «Ihr habt es immer» - 
sagt er - «mit eurem Aristoteles, der nicht sprechen kann. 
Ich aber sage euch, dafi, wenn Aristoteles hier ware, er ent- 



weder von uns iiberzeugt wiirde, oder unsere Griinde wi- 
derlegte und uns eines Besseren belehrte. . . Die Philosophic 
ist in diesem groiken Buche geschrieben, das fortwahrend 
offen vor unseren Augen liegt, ich meine das Universum, 
das man aber nicht verstehen kann, wenn man nicht vorher 
die Sprache verstehen und die Zeichen kennengelernt hat, 
in denen es geschrieben ist.» Giordano Bruno ist einer derje- 
nigen Geister dieses aufbluhenden Denkens, der zwar im- 
stande war, eine Welterklarung im Sinne der Naturan- 
schauung aufzubauen, der aber daneben vollig an den her- 
gebrachten Dogmen festhielt, ohne sich Rechenschaft zu 
geben, wie eines mit dem anderen sich vereinigen lafk. 

Wollte das menschliche Denken nicht sich selbst verleug- 
nen, wollte es sich nicht in eine vollig untergeordnete Stel- 
lung drangen lassen, so konnte es nur in neuer Weise den 
Weg wieder betreten, den schon die griechischen Weltan- 
schauungen gesucht haben. Es mulke aus sich selbst heraus 
zu den hochsten Wahrheiten vorzudringen suchen. 

Rene Descartes (Cartesius) war einer der ersten, der einen 
Versuch machte. Sein Weg hat viel Ahnlichkeit mit dem 
des Augustinus. Auch Descartes ging von dem Zweifel an 
aller Wahrheit aus. Und auch er sagte sich: Wenn ich auch 
an allem zweifeln kann, daran kann ich nicht zweifeln, dafi 
ich bin. Ich denke, wenn ich zweifle; dachte ich nicht, so 
konnte ich nicht zweifeln. Wenn ich aber denke, so bin ich. 
«Ich denke, also bin ich» (cogito, ergo sum), das ist der be- 
ruhmte Grundsatz des Descartes. Und von dieser Grund- 
wahrhek sucht Descartes zu den hoheren Erkenntnissen 
aufzusteigen. Er sagt sich: Was ich so klar und deutlich ein- 
sehe, wie, dafi ich selbst bin, das muE auch ebenso wahr 
sein. - Und nun tritt bei ihm eine eigentiimliche Erschei- 
nung ein. Die christlichen Vorstellungen von Gott, Seele 
und Unsterblichkeit, die eine jahrhundertelange Erziehung 



der abenlandischen Menschheit eingeimpft hat, glaubt er in 
seiner Vernunft als ebenso sichere Wahrheiten zu finden, 
wie die Erkenntnis, daft er selbst ist. Diese wesentlichen Be- 
standteile der alten Theologie kommen da wieder als an- 
gebliche Vernunftswahrheiten zum Vorschein. Wir finden 
bei Descartes sogar die alte Seelenvorstellung wieder. Er 
denkt sich diese Seele als ein selbstandiges geistiges Wesen, 
das sich des Korpers nur bedient. Wir sind einer solchen 
Idee bei Aristoteles begegnet. Die Tiere haben, nach Des- 
cartes, nichts von einer Seele. Sie sind Automaten. Der 
Mensch hat eine Seele, die im Gehirn ihren Sitz hat und 
durch die Zirbeldriise mit dem seelenlosen Korper in 
Wechselwirkung tritt. Wir sehen bei Descartes ein Bestre- 
ben, das auch bei den Scholastikern vorhanden ist, namlich 
die von der alten Uberlieferung hergebrachten «hochsten 
Wahrheiten» durch die Vernunft beweisen zu wollen. Nur 
gestehen die Scholastiker offen zu, dafi sie dies wollen, wah- 
rend Descartes glaubt, alle Beweise rein aus der Vernunft 
selbst zu schopfen. Descartes bewies also scheinbar aus der 
Vernunft, was nur aus der Religion stammte. Diese ver- 
kappte Scholastik herrschte nunmehr lange noch; und in 
Deutschland haben wir in Leibniz und in Wolff ihre haupt- 
sachlichsten Vertreter. Leibniz rettet die alte Seelenvorstel- 
lung dadurch, daft er alles zu einer Art selbstandiger beleb- 
ter Wesen macht. Diese entstehen nicht und vergehen 
nicht. Und er rettet die Gottesvorstellung dadurch, daft er 
ihr zuschreibt, sie bringe alle Wesen in eine harmonische 
Wechselwirkung. Es kommen immer wieder die alten reli- 
giosen Vorstellungen als angebliche Wahrheiten der Ver- 
nunft zum Vorschein. Das ist auch bei Wolff der Fall. Er 
unterscheidet sinnliche Wahrheiten, die durch Beobach- 
tung gewonnen werden, und hohere Erkenntnisse, welche 
die Vernunft aus sich selbst schopft. Diese hoheren Wahr- 



heiten sind aber, bei Lichte besehen, nichts anderes als die 
alten, durch Verstiimmelung und Durchsiebung gewonne- 
nen Of fenbarungswahr heiten. Kein Wunder, dafi die Ver- 
nunft bei den Beweisen solcher Wahrheiten sich auf hochst 
fragwiirdige Begriffe stiitzte, die bei naherer kritischer Prii- 
fung nicht standhalten konnten. 

Eine solche kritische Priifung des Beweisverfahrens der 
menschlichen Vernunft nahmen die englischen Denker 
Locke, David Hume y und der deutsche Philosoph Immanuel 
Kant vor. Locke priifte das menschliche Erkenntnisvermo- 
gen und glaubte zu finden, dafi wir nur durch die Beobach- 
tung der Naturvorgange selbst zu Erkenntnissen kommen 
konnen. Hume fragte nun, welcher Art diese Erkenntnisse 
seien. Er sagte sich: Wenn ich heute beobachte, dafi die 
Sonnenwarme die Ursache der Erwarmung des Steines ist: 
habe ich ein Recht zu sagen, daft das immer so sein wird? 
Wenn ich eine Ursache wahrnehme und dann eine Wir- 
kung: darf ich sagen, jene Ursache werde immer und not- 
wendig diese Wirkung haben? Nein, das darf ich nicht. Ich 
sehe den Stein zur Erde fallen und nehme wahr, dafi er in 
der Erde eine Hohlung macht. Dafi das so sein mufi, dafi es 
nicht auch anders sein konnte, davon kann ich nichts be- 
haupten. Ich sehe gewisse Vorgange und gewdhne mich 
auch daran, sie in einem bestimmten Zusammenhange zu 
sehen. Ob aber ein solcher Zusammenhang wirkKch be- 
steht, ob es Naturgesetze gibt, welche mir etwas Wirkliches 
liber den Zusammenhang der Dinge sagen konnen, davon 
weifi ich nichts. Kant, der in den Vorstellungen der Wolff- 
schen Weltanschauung gelebt hatte bis in sein Mannesalter, 
wurde in alien seinen Uberzeugungen erschiittert, als er die 
Schriften Humes kennenlernte. Die ewigen Wahrheiten 
konne die Vernunft beweisen, daran hatte er vorher nicht 
gezweifelt; Hume hatte gezeigt, dafi selbst bei den einfa- 



chen Wahrheiten von einem Beweis nicht die Rede sein 
konne, sondern daft wir alles, was wir glauben, nur aus Ge- 
wohnheit annehmen. Soil es wirklich keine ewigen Wahr- 
heiten geben, fragte sich Kant. Es mufi solche geben. Daft 
die Wahrheiten zum Beispiel der Mathematik immer und 
notwendig wahr sein miissen, daran mochte er nicht zwei- 
feln. Ebensowenig daran, daft so etwas ewig giiltig sein mufi 
wie: jede Wirkung hat eine Ursache. Davon hat ihn aber 
Hume iiberzeugt, daft diese Erkenntnisse nicht ewig wahr 
sein konnten, wenn wir sie aus der Beobachtung von auften 
gewonnen hatten. Denn die Beobachtung kann uns nur sa- 
gen, was immer gewesen ist; nicht aber, ob dieses auch im- 
mer so sein mu£. Kant fand einen Ausweg. Er sagte: es 
hangt gar nicht von den Dingen in der Natur ab, wie sie 
uns erscheinen. Das hangt einzig und allein von uns selbst 
ab. Ich bin so eingerichtet, daft fur mich «zweimal zwei 
vier» sein muft; ich bin so eingerichtet, daft fur mich jede 
Wirkung eine Ursache haben miisse. Mag es also drauften, 
im «Ding an sich», zugehen, wie es immer mag, mogen da 
einmal die Dinge so sein, daft «zweimal zwei drei» ist, ein 
andermal, daft «zweimal zwei funf» ist; das kann alles nicht 
an mich herankommen. Ich kann nur wahrnehmen, daft 
«zweimal zwei vier» ist, folglich erscheint mir alles so, daft 
«zweimal zwei vier» ist. Ich kann nur eine Wirkung an eine 
Ursache kniipfen; folglich erscheint mir alles so, als wenn 
immer Wirkungen mit Ursachen verknupft seien. Ob auch 
im «Ding an sich» Ursachen mit Wirkungen zusammen- 
hangen, das weift ich nicht. Ich bin wie mit einer blauen 
Brille behaftet. Mogen die Dinge drauften was immer fur 
Farben haben, ich weift im voraus, daft mir alles in einem 
blauen Farbentone erscheinen wird. Wie die «Dinge an 
sich» sind, weift ich also nicht; ich weift nur, wie sie mir er- 
scheinen. Da nun Gott, Unsterblichkeit und Freiheit des 



menschlichen Willens iiberhaupt nicht beobachtet werden 
konnen, nicht erscheinen, so kann das menschliche Den- 
ken, die Vernunft uber diese Dinge nichts ausmachen. Sie 
gehen die Vernunft nichts an. Gehen sie aber deswegen den 
Menschen iiberhaupt nichts an? So fragt sich Kant. Sie ge- 
hen den Menschen sehr viel an, gibt er zur Antwort. Nur 
kann man ihr Dasein nicht begreifen; man mufi es glauben. 
Ich weift, dafi ich meine Pflicht tun soil. Ein kategorischer 
Imperativ spricht in mir: Du sollst. Also mufi ich auch 
konnen. Wenigstens mufi ich daran glauben, dafi ich kann. 
Und zu diesem Glauben brauche ich einen andern. Ich 
selbst kann den Yerrichtungen meiner Pflicht nicht den 
notwendigen Nachdruck geben. Ich kann die Welt nicht so 
einrichten, dafi sie dem entspricht, was ich als sittliche 
Weltordnung ansehen mufi. Also mufi es einen Gott geben, 
der diese sittliche Weltordnung bestimmt. Er gibt meiner 
Seele auch die Unsterblichkeit, damit sie im ewigen Leben 
die Friichte ihrer Pflichten geniefien konne, die ihr in die- 
sem verganglichen, unvollkommenen Leben nimmer be- 
schieden sein konnen. Man sieht, bei Kant taucht als Glau- 
be alles wieder auf, was das Wissen niemals erreichen kann. 
Kant hat auf anderem Wege ein ahnliches erreicht, was Lu- 
ther auf seinem Wege angestrebt hat. Luther wollte die Er- 
kenntnis von den Gegenstanden des Glaubens ausschlie- 
fien. Kant wollte das gleiche. Sein Glaube ist nicht mehr 
der Bibelglaube; er spricht von einer «Religion innerhalb 
der Grenzen der blofien Vernunft». Aber die Erkenntnis, 
das Wissen, sollten nur auf die Erscheinungen beschrankt 
sein; liber die Glaubensgegenstande sollten sie nicht mitzu- 
reden haben. Kant ist mit Recht der Philosoph des Prote- 
st antismus genannt worden. Er hat, was er erreicht zu haben 
glaubt, selbst am besten mit den Worten bezeichnet: «Ich 
mufke also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu 



bekommen.» Die Erkenntnis soil es also, im Sinne Kants, 
nur mit der untergeordneten Welt zu tun haben, die dem 
Leben keinen Sinn gibt; was dem Leben Sinn gibt, das sind 
Gegenstande des Glaubens, an die kein Wissen heran kann. 

Wer immer den Glauben retten will, der kann es mit den 
Waffen der Kantschen Weltanschauung tun; denn das Wis- 
sen hat keine Macht - im Sinne dieser Ansicht -, uber die 
hochsten Wahrheiten etwas auszumachen. Die Philosophic 
des 19. Jahrhunderts steht in vielen ihrer Stromungen unter 
dem Einflufi der Kantschen Gedanken. Man kann mit 
ihnen so bequem dem Wissen die Fliigel beschneiden; man 
kann dem Denken das Recht bestreiten, uber die hochsten 
Dinge mitzureden. Man kann zum Beispiel sagen: Was will 
denn die Naturwissenschaft? Sie kann ja nur untergeordne- 
te Weisheit zum besten geben. Durch Kant, den man so 
gern den grofien Reformator der Philosophie nennt, ist ein 
fur allemal bewiesen, dafi das Wissen beschrankt, unterge- 
ordnet ist, dafi es dem Leben keinen Sinn geben kann. Die 
Weltanschauungen der Gegenwart, die sich auf solche 
Selbstverstummelung der Erkenntnis berufen, sind noch 
nicht einmal bis zum Standpunkt der Scholastik vorge- 
drungen, die sich wenigstens verpflichtet fuhlte, einen Ein- 
klang zwischen Wissen und Glauben herbeizufuhren. Du 
Bois-Reymond hat sogar diesem Standpunkte in seinem be- 
riihmten Vortrag: «Uber die Grenzen des Naturerkennens» 
ein naturwissenschaftliches Mantelchen umgehangt. 

3. Die neuen Weltanschauungen 

Eine andere Weltanschauungsstromung, die bis in die Ge- 
genwart heraufreicht, nimmt ihren Ausgangspunkt von 
Spinoza. Er ist ein Denker, der ein unbedingtes Vertrauen 
in die menschliche Vernunft hat. Was so erkannt werden 



kann, wie die mathematischen Wahrheiten, das nimmt die 
Vernunft als ihre Erkenntnisse an. Und die Dinge der Welt 
stehen in einem ebensolchen notwendigen Zusammenhan- 
ge, wie die Glieder einer Rechnung oder wie die mathema- 
tischen Figuren. Alles Geistige ist ebenso wie alles Korper- 
liche von solchen notwendigen Naturgesetzen beherrscht. 
Es ist eine kindliche Vorstellung, zu glauben, daft eine 
menschenahnliche allweise Vorsehung die Dinge einrich- 
tet. Die Verrichtungen der Lebewesen, die Handlungen des 
menschlichen Geistes unterliegen ebenso den Naturgeset- 
zen, wie der Stein, der gemafi den Gesetzen der Schwere 
zur Erde fallt. Es ist ein Irrtum, zu glauben, dafi eine schop- 
ferische Macht nach bestimmten Zwecken irgendwelche 
Wesen geschaffen habe. Man tauscht sich, wenn man zum 
Beispiel glaubt, ein Schopfer habe dem Stier Horner gege- 
ben, damit er stofien konne. Nein, der Stier hat seine Hor- 
ner nach ebenso notwendigen Gesetzen bekommen, wie 
eine Billardkugel nach Gesetzen weiterrollt, wenn sie gesto- 
fien wird. Er hat naturnotwendig die Horner und deshalb 
stofit er. Man kann auch sagen: der Stier hat nicht Horner, 
damit er stofien konne, sondern er stofit, weil er Horner 
hat. Gott ist im Sinne Spinozas nichts als die alien korperli- 
chen und geistigen Erscheinungen innewohnende natiirli- 
che Notwendigkeit. Wenn der Mensch hinaussieht in die 
Welt, dann erblickt er Gott; wenn er liber die Dinge und 
Vorgange nachdenkt, dann stellt sich ihm die gottliche 
Weltordnung dar, die aber nichts ist als die naturliche Ord- 
nung der Dinge. Im Sinne Spinozas kann man von einem 
Zwiespalt zwischen Glauben und Wissen nicht sprechen. 
Denn es gibt nichts aufier der Natur. Der Mensch gehort 
selbst zu dieser Natur. Wenn er also sich und die Natur be- 
trachtet, so gibt sich ihm alles kund, wovon uberhaupt ge- 
sprochen werden kann. 



Von dieser Weltanschauung war auch Goethe durchdrun- 
gen. Auch er suchte, was friihere Anschauungen in einer 
jenseitigen Welt gesucht haben, in der Natur selbst. Die 
Natur wurde sein Gott. Von keiner anderen gottlichen We- 
senheit wollte er etwas wissen. 

Was war* ein Gott, der nur von aufien stiefie, 
Im Kreis das All am Finger laufen liefie! 
Ihm ziehmt's, die Welt im Innern zu bewegen, 
Natur in sich, sich in Natur zu hegen, 
So dafi, was in ihm lebt und webt und ist, 
Nie seine Kraft, nie seinen Geist vermifit. 

So sagt Goethe. Die Natur ist ihm Gott, und die Natur 
offenbart auch Gott. Es gibt keine andere Offenbarung. 
Und es kann neben den Wesenheiten der Natur keine ande- 
ren mehr geben, die nur durch den Glauben erreicht wer- 
den sollen. Deshalb hat Goethe mit der Kantschen Unter- 
scheidung von Glauben und Wissen niemals etwas zu tun 
haben wollen. 

Und daft alles, was der Mensch an Wahrheit wiinschen 
kann, auch durch die Betrachtung der Natur und des Men- 
schen selbst erreicht werden kann, das ist auch die Uber- 
zeugung der Denker, die im Beginne des 19. Jahrhunderts 
sich um Weltanschauungen beimihen. Das ist auch die 
Uberzeugung der Denker, die in der zweiten Halfte des 19. 
Jahrhunderts aus den Erkenntnissen der Naturwissenschaft 
heraus sich eine Weltanschauung erbauen wollen. Diese 
letzteren Denker, wie zum Beispiel Haeckel, sind der Mei- 
nung, dafi die Naturgesetze, die sie erforschen, nicht blofi 
untergeordnete Dinge sind, sondern dafi sie dasjenige wahr- 
haft darstellen, was dem Leben einen Sinn gibt. 

Johann Gottlieb Fichte stellt das eigene «Ich» des Men- 
schen in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen. Was haben 



friihere Weltanschauungen mit diesem «Ich» alles gemacht? 
Sie haben es aus dem Menschen herausgehoben und zum 
Gott gemacht. Dadurch entstand der menschenahnliche 
Schopfer der Welt. Fichte lafit alle solchen Gottesvorstel- 
lungen auf sich beruhen. Er sucht das Bewulksein da auf, 
wo es allein wirklich zu finden ist, im Menschen. Etwas, 
was man friiher als Gott verehrt hat, ein solches geistiges 
Wesen, fmdet Fichte nur im Menschen. Der Mensch hat es 
also, wenn er das Verhaltnis sucht zwischen dem Geiste 
und der Welt, nicht mit einem Zusammenhang von «Gott 
und Welt» zu tun, sondern nur mit einer Wechselwirkung 
des Geistes, der in ihm ist, mit der Natur. Dies ist der Sinn 
der Fichteschen Weltanschauung; und alles, was man Fich- 
te angedichtet hat: als ob er zum Beispiel hatte behaupten 
wollen, der einzelne Mensch schaffe sich aus sich heraus die 
Natur, beruht nur auf einer ganz kurzsichtigen Auslegung 
seiner Gedanken. Schelling hat dann auf Fichtes Vorstellun- 
gen weitergebaut. Fichte hat nichts anderes gewollt, als den 
menschlichen Geist belauschen, wenn dieser sich seine 
Vorstellungen uber die Natur bildet. Denn kein Gott gibt 
ihm ja diese Vorstellungen; er bildet sich dieselben allein. 
Nicht wie Gott es macht, das war fur Fichte die Frage, son- 
dern wie der Mensch es macht, wenn er sich in der Welt zu- 
rechtfindet. Schelling baute darauf die Anschauung, daft 
wir die Welt von zwei Seiten betrachten konnen, von der 
aufieren Seite, wenn wir die korperlichen Vorgange be- 
trachten, und von der inneren Seite, wenn wir den Geist 
betrachten, der ja auch nichts anderes ist als die Natur. 
Hegel ging dann noch einen Schritt weiter. Er fragte sich: 
Was ist denn das eigentlich, was uns unser Denken uber die 
Natur offenbart? Wenn ich durch mein Denken die Geset- 
ze der Himmelskorper erforsche, enthullt sich in diesen 
Gesetzen nicht die ewige Notwendigkeit, die in der Natur 



herrscht? Was geben mir also alle meine Begriffe und Ideen? 
Doch nichts anderes, als was draufien in der Natur selbst 
ist. In mir sind dieselben Wesenheiten als Begriffe, als Ideen 
vorhanden, die in der Welt als ewige, eherne Gesetze alles 
Dasein beherrschen. Sehe ich in mich, so nehme ich Begrif- 
fe und Ideen wahr; sehe ich aufier mich, so sind diese Be- 
griffe und Ideen Naturgesetze. Im einzelnen Menschen 
spiegelt sich als Gedanke, was die ganze Welt als Gesetz be- 
herrscht. Man mifiversteht Hegel, wenn man behauptet, er 
hatte die ganze Welt aus der Idee, aus dem menschlichen 
Kopfe, herausspinnen wollen. Es wird einst als eine ewige 
Schande der deutschen Philosophic angerechnet werden 
miissen, dafi sie Hegel so mifiverstanden hat. Wer Hegel 
versteht, dem fallt es gar nicht ein, irgend etwas aus der Idee 
herausspinnen zu wollen. Wirklich verstanden, im frucht- 
baren Sinne des Wortes, hat Marx Hegel. Deshalb hat Marx 
die Gesetze der okonomischen Entwickelung gesucht da, 
wo sie allein zu finden sind. Wo sind die Gesetze zu finden? 
Auf diese Frage antwortete Hegel: Dort, wo die Tatsachen 
sind, sind auch die Gesetze. Es gibt sonst nirgends eine 
Idee, als wo die Tatsachen sind, die man durch diese Idee 
begreifen will. Wer die Tatsachen des wirklichen Lebens er- 
forscht, der denkt hegelisch. Denn Hegel war der Ansicht, 
dafi nicht abstrakte Gedanken, sondern die Dinge selbst zu 
ihren Wesenheiten fiihren. 

Ebenso verfahrt die neuere Naturwissenschaft im Geiste 
Hegels. Diese neue Naturwissenschaft, deren grofier Be- 
griinder Charles Darwin durch sein Werk «Die Entstehung 
der Arten» (1859) geworden ist, sucht die Naturgesetze im 
Reiche der Lebewesen ebenso auf, wie man dies auch in der 
leblosen Natur tut. Ernst Haeckel fafit das Glaubensbe- 
kenntnis dieser Naturwissenschaft in die Worte zusammen: 
«Der Magnet, der Eisenspane anzieht, das Pulver, das ex- 



plodiert, der Wasserdampf, der die Lokomotive treibt ... 
sie wirken ebenso durch lebendige Kraft, wie der Mensch, 
der denkt.» Diese Naturwissenschaft ist davon uberzeugt, 
dafi sie mit den Gesetzen, welche die Vernunft aus den Din- 
gen herausholt, zugleich das Wesen dieser Dinge enthullt. 
Fur einen Glauben, der erst dem Leben seinen Sinn geben 
soil, bleibt da nichts mehr iibrig. In den fiinfziger Jahren 
haben mutige Kopfe, wie Carl Vogt, Jacob Moleschott und 
Ludwig Buchner, die Anschauung wieder zur Geltung zu 
bringen versucht, dafi in den Dingen dieser Welt sich auch 
deren Wesen durch die Erkenntnis ganz und restlos ent- 
hullt. Es ist heute Mode geworden, iiber diese Manner wie 
iiber die borniertesten Kopfe herzufallen und von ihnen zu 
sagen, dafi sie die eigentlichen Ratsel der Welt gar nicht ge- 
sehen hatten. Das tun nur Menschen, die selbst keine Ah- 
nung davon haben, welche Fragen man uberhaupt aufwer- 
fen kann. Was wollten diese Manner anderes, als die Natur 
erforschen, um aus der Natur selbst durch Erkenntnis den 
Sinn des Lebens zu gewinnen? Tiefere Geister werden der 
Natur gewifi noch tiefere Wahrheiten ablauschen konnen 
als Vogt und Buchner. Aber auch diese tieferen Geister 
werden es auf denselben Erkenntniswegen tun miissen wie 
sie. Denn man sagt immer: Ihr miifit den Geist suchen, 
nicht den rohen Stoff! Wohlan, die Antwort kann nur mit 
Goethe gegeben werden: Der Geist ist in der Natur. 

Was jeder Gott auffer der Natur ist, darauf hat Ludwig 
Feuerbach die Antwort gegeben, indem er zeigte, wie eine 
solche Gottesvorstellung von dem Menschen, nach dessen 
Bilde, geschaffen ist. «Gott ist das offenbare Innere, das aus- 
gesprochene Selbst des Menschen, die Religion ist die feier- 
liche Enthullung der verborgenen Schatze des Menschen, 
das Eingestandnis seiner innersten Gedanken, das offentli- 
che Bekenntnis seiner Liebesgeheimnisse.» Was der Mensch 



in sich selbst hat, das setzt er in die Welt hinaus und verehrt 
es als Gott. So macht der Mensch es auch mit der sittlichen 
Weltordnung. Diese kann nur er selbst, aus sich im Zusam- 
menhang mit seinesgleichen, schaffen. Er stellt sich aber 
dann vor, sie sei von einem anderen, hoheren Wesen iiber 
ihn gesetzt. In radikaler Weise ist Max Stirner solchen We- 
senheiten zu Leibe gegangen, die der Mensch sich selbst 
schafft und dann wie hohere Gewalten, als Spuk oder Ge- 
spenst, iiber sich setzt. Stirner fordert die Befreiung des 
Menschen von solchen Gespenstern. 

Der Weg, der von ihnen befreit, wurde einzig und allein 
von den auf naturwissenschaftlicher Grundlage aufgebau- 
ten Weltanschauungen in der zweiten Halfte des 19. Jahr- 
hunderts betreten. Andere Weltanschauungen, wie zum 
Beispiel die Arthur Schopenhauers und Eduard v. Hartmanns 
sind wieder nur Riickfalle in veraltete Vorstellungen. 
Schopenhauer hat statt des ganzen menschlichen «Ich» nur 
einen Teil, den Willen, zum gottlichen Wesen gemacht; 
und Hartmann hat mit dem «Ich» dasselbe gemacht, nach- 
dem er zuerst das Bewufitsein aus diesem «Ich» hinausbe- 
fordert hat. Dadurch ist er zum «Unbewufiten» als Ur- 
grund der Welt gekommen. Es ist begreiflich, dafi diese bei- 
den Denker, von solchen Voraussetzungen aus, zur Uber- 
zeugung kommen mufiten, dafi die Welt die denkbar 
schlechteste sei. Denn sie haben das «Ich» zum Urgrunde 
der Welt gemacht, nachdem sie aus demselben die Vernunft 
entweder ganz oder teilweise hinausbefordert haben. Die 
friiheren Denker dieses Charakters haben das «Ich» zuerst 
idealisiert, das heifit mit noch mehr Vernunft ausgestaltet, 
als es im Menschen hat. Dadurch wurde die Welt zu einer 
Einrichtung von unendlicher Weisheit. 

Die wahrhaft moderne Weltanschauung kann nichts 
mehr von alten religiosen Vorstellungen in sich aufneh- 



men. Ihre Grundlage hat schon Schiller ausgesprochen, als 
er Goethes Naturanschauung in seinem Briefe an diesen 
kennzeichnete: «Von der einfachen Organisation steigen 
Sie, Schritt vor Schritt, zu der mehr verwickelten hinauf, 
um endlich die verwickeltste von alien, den Menschen, na- 
turgemafi aus den Materialien des ganzen Naturgebaudes 
zu erbauen.» Wenn der Mensch sein Dasein aus etwas her- 
vorgehen lassen will, so kann er es nur aus der Natur selbst 
hervorgehen lassen. Der Mensch ist aus der Natur nach 
ewigen, ehernen Gesetzen gebildet; aber er ist noch in kei- 
ner Weise, weder als Gott noch als anderes Geistwesen, in 
der Natur schon gelegen. Alle Vorstellungen, welche sich 
die Natur beseelt oder vergeistigt vorstellen (z.B. Paulsens 
u.a.), sind Riickfalle in alte theologische Ideen. Der Geist 
ist entstanden, nicht aus der Natur herausentwickelt. Dies 
mufi erst begriffen sein, dann kann das Denken sich iiber 
diesen innerhalb der Naturordnung entstandenen Geist 
eine Anschauung bilden. Eine solche Weltanschauung 
kann erst von einer wirklichen Freiheit sprechen. Das habe 
ich in meiner «Philosophie der Freiheit», und in meinem 
Buche «Welt- und Lebensanschauungen im 19. Jahrhun- 
dert» eingehend gezeigt. Ein Geist, der aus einem anderen 
Geiste herausentwickelt ware, miifite von dem letzteren, 
von dem Gottes- oder Weltgeiste, auch seine sittlichen Zie- 
le und Zwecke erhalten; ein Geist, der aus der Natur ent- 
standen ist, setzt sich Zweck und Ziel seines Daseins selbst, 
gibt sich selbst seine Bestimmung. Eine wahre Freiheits- 
philosophie kann nicht mehr mit Adolf Harnack davon 
sprechen, dafi das Wissen dem Leben keinen Sinn zu geben 
vermag; sie zeigt vielmehr, dafi der Mensch durch Natur- 
notwendigkeit entstanden ist, dafi er allerdings keinen vor- 
herbestimmten Sinn mitbekommen hat, dafi es aber an ihm 
selbst liegt, sich einen Sinn zu geben. Die alten Weltan- 



schauungen stehen mit den alten okonomischen Ordnun- 
gen, aber sie werden auch mit diesen fallen. Der okono- 
misch befreite Mensch wird auch als wissender und sittli- 
cher ein freier sein; und wenn die okonomische Ordnung 
alien Menschen ein menschenwurdiges Dasein bringen 
wird, dann werden sie auch eine Weltanschauung zu der ih- 
rigen machen, die den Geist ganz befreit. 



WILLIAM SHAKESPEARE 



Berlin, 6. Mai 1902 



Einem Ausspruch des beruhmten Schriftstellers Georg 
Brandes gemafi mufi man Shakespeare den deutschen Klassi- 
kern hinzurechnen. Und wenn man den aufierordentlichen 
Einflufi bedenkt, den Shakespeare, nachdem er in der Mitte 
des 18. Jahrhunderts in Deutschland, besonders durch Les- 
sing wieder bekanntgeworden war, auf Goethe, Schiller, 
auf die ganze Entwickelung der deutschen Literatur ge- 
nommen hat — besonders nach der ausgezeichneten Uber- 
tragung seiner Werke durch Schlegel und Tieck - , mufi man 
diesem Ausspruche zustimmen. 

Es hat sich iiber Shakespeare eine ganze Legende gebildet; 
iiber jedes einzelne seiner Werke sind ganze Bibliotheken 
geschrieben worden. Die Gelehrten haben alles mogliche in 
seine Werke hineingelegt und herausgelesen. Schliefilich ist 
eine Anzahl von Schriftstellern, die den nicht gelehrt gebil- 
deten Schauspieler fur unfahig hielten, alle die Gedanken 
zu erzeugen, die sie in den Werken Shakespeares fanden, 
auf die Hypothese verfallen, dafi nicht der Schauspieler 
vom Globe-Theater, William Shakespeare, die Werke ge- 
schrieben habe, die seinen Namen tragen, sondern irgend- 
ein bedeutender hochgelehrter Mann, etwa Lord Francis 
Bacon von Vemlam, sei der Dichter, der - bei der niedri- 
gen Schatzung der literarischen Tatigkeit in damaliger Zeit 
- den Namen des Schauspielers geborgt habe. Diese An- 
nahmen stiitzen sich darauf, dafi man keine Manuskripte 
von Shakespeares Hand gefunden habe; dann auf ein in 
einer Londoner Bibliothek entdecktes Notizheft, in dem 



man einzelne Stellen finden wollte, die gewissen Stellen in 
Shakespeares Werken entsprechen und so weiter. 

Ein Zeugnis aber fiir die Autorschaft Shakespeares sind 
seine Werke selbst. Seine Dramen sprechen davon, dafi sie 
von einem Manne geschrieben sind, der das Theater auf das 
genaueste kannte, fur die schauspielerische Wirkung das 
feinste Verstandnis hatte. 

Es entsprach nur einer allgemeinen Sitte der damaligen 
Zeit, wenn Shakespeare selbst keine Ausgabe seiner Werke 
veranstaltete. Kein einziges seiner Dramen ist bei seinen 
Lebzeiten gedruckt. Die Stucke wurden angstlich gehiitet 
vor dem Bekanntwerden durch den Druck; die Leute soil- 
ten ins Theater kommen, um dort die Stucke zu sehen, 
nicht sie zu Hause lesen. Alles, was etwa damals entstehen 
konnte, waren Raubdrucke, die mit Hilfe der damals auf- 
kommenden Stenographic wahrend der Vorstellung nach- 
geschrieben wurden, und so nicht den authentischen Text, 
sondern mannigfache Verstiimmelungen und Fehler ent- 
hielten. 

Diese teilweisen Liicken und Fehler haben einzelne For- 
scher dazu gefuhrt, zu behaupten, dafi die Werke Shake- 
speares, so wie sie vorlagen, gar keine besonderen Kunst- 
werke seien, sondern daft sie urspriinglich ganz anders zu- 
sammengestellt gewesen seien. Ein Vertreter dieser Ansicht 
ist Eugen ReicheU der in dem Dichter der Shakespeare-Dra- 
men den Vertreter einer bestimmten Weltanschauung 
glaubt sehen zu durfen. Demgegenuber bleibt aber doch be- 
stehen, dafi diese Dramen, so wie sie sind, solch aufieror- 
dentlichen Eindruck machen. Bei Werken, von denen wir 
bestimmt wissen, dafi sie verstiimmelt sind, wie zum Bei- 
spiel bei «Macbeth», sehen wir diese hinreifiende Wirkung. 
Einen Beweis dafiir bot die Auffiihrung von «Heinrich V.» 
bei der Eroffnung des Lessing-Theaters unter der Direktion 



Neumann-Hofer, die trotz spottschlechter Ubersetzung 
und nicht guter Auffiihrung einen gewaltigen Eindruck 
hervorrief. 

Die Dramen Shakespeares sind in erster Linie Charakter- 
dramen. Nicht hauptsachlich in der Handlung, sondern in 
der grofiartigen Entwickelung der einzelnen Charaktere 
liegt das gewaltig Interessierende dieser Dichtungen. Gera- 
de darin, da£ der Dichter einen menschlichen Charakter 
vor uns hinstellt, ihn sich vor uns ausleben lafit, ihn schil- 
dert in all seinem Denken, seinem Empfinden, in dem Dar- 
stellen einer einzelnen Personlichkeit. 

Diese Kunstentwickelung, die in Shakespeare ihre Voll- 
endung erreichte, war erst mogiich durch die vorhergegan- 
gene Kulturentwickelung der Renaissanceperiode. Erst 
durch die aus dieser Renaissancekultur sich ergebende ho- 
here Bewertung der Einzelpersonlichkeit, war das Charak- 
terdrama Shakespeares mogiich. Im friiheren Mittelalter se- 
hen wir selbst bei Dante, trotz all seiner starken Personlich- 
keit, doch im Grunde den Ausdruck der christlichen Ideen, 
wie sie sich damals darstellten. Der christliche Typus seiner 
Zeit trat in den Vordergrund gegenuber dem Einzelperson- 
lichen. Es lag dies eben in der allgemeinen Auffassung. Das 
christliche Prinzip hatte kein Interesse an der einzelnen 
Personlichkeit. Erst allmahlich bildete sich unter der neuen 
Anschauungsweise das Interesse am einzelnen Menschen 
heraus. 

Der Umstand, dafi Shakespeares Ruhm sich so bald ver- 
breitete, beweist, dafi er eine Zuhorerschaft fand, die ein 
grofies Theaterinteresse besafi, also Sinn und Verstandnis 
in reichem Mafie mitbrachte fiir die Darstellung der Per- 
sonlichkeit, wie sie Shakespeare ihnen bot. Es ist Shake- 
speare eben auf diese Charakterdarstellung angekommen; 
ihm lag es fern, seinen Zuhorern eine ethische oder morali- 



sche Idee zu entwickeln. Die Idee einer tragischen Schuld 
beispielsweise, mit der Schiller glaubte seinen Helden bela- 
sten zu mixssen, um seinen Untergang zu rechtfertigen, lag 
Shakespeare vollstandig fern. Er lafit die Ereignisse sich ent- 
wickeln, so wie sich Naturvorgange abspielen, folgerichtig 
eines aus dem anderen hervorgehend, doch nicht von dem 
Gedanken an Schuld und Suhne beeinflufit. Es wiirde 
schwer sein, einen Schuldbegriff in diesem Sinne bei einem 
der Shakespeare-Dramen nachzuweisen. 

Auch nicht um die Darstellung einer Idee war es Shake- 
speare zu tun, nicht die Eifersucht im «Othello», nicht den 
Ehrgeiz im «Macbeth», nein, den bestimmten Charakter 
des Othello, des Hamlet, des Macbeth wollte er darstellen. 
Dadurch gerade konnte er so grofie Charaktere schaffen, 
weil er seine Gestalten nicht mit einer Theorie beschwerte. 
Er kannte die Biihne von Grund aus, er wufite, wie ein 
Vorgang sich wirksam darstellte, und gerade er als Prakti- 
ker konnte den Vorgang so entwickeln, dafi er die Horer 
mit sich fortrifi. - Es gibt keine Dramen in der ganzen 
Weltliteratur, die so sehr vom schauspielerischen Stand- 
punkt aus gedacht sind. Das sichert dem Schauspieler 
Shakespeare den Ruhm, diese Dramen gedichtet zu haben. 

Shakespeare wurde im Jahre 1564 in Stratford geboren, 
sein Vater war ein wohlhabender Burger, und er besuchte 
die Lateinschule seiner Heimatstadt. Um sein Jugendleben 
haben sich vielfach Legenden gebildet; man behauptet, er 
sei ein Wilddieb gewesen und habe ein Abenteurerleben ge- 
fiihrt. All das ist auch gegen die Autorschaft Shakespeares 
geltend gemacht worden, und doch ist all das gerade seiner 
Dichtung zugute gekommen. Schon der Umstand, dafi er, 
zwar mit einer guten Bildung ausgeriistet, doch von dem ei- 
gentlichen Studium verschont geblieben war, sicherte ihm 
die Moglichkeit, den Dingen viel freier und unbefangener 



gegeniiberzustehen, sie unbeschwert von dem Wust der Bii- 
chergelehrsamkeit zu sehen. Und gerade aus der Abenteu- 
rernatur des Dichters erklaren sich einige der grofiten Vor- 
ziige seiner Werke. Der kiihne Flug der Phantasie, der jahe 
Wechsel der Begebenheiten, die Leidenschaft und Ktihn- 
heit, all das spricht fur einen Menschen, der auch im Leben 
viel herumgeworfen worden war, der selbst ein bewegtes 
Leben gefuhrt haben mufke. 

Nachdem die Vermogensverhaltnisse von Shakespeares 
Vater sich verschlechtert hatten, kam Shakespeare im Jahre 
1585 nach London. In der denkbar untergeordnetsten Ta- 
tigkeit begann er seine Laufbahn beim Theater; er hielt die 
Pferde der Theaterbesucher, wahrend diese der Vorstellung 
beiwohnten. Spater riickte er zum Aufseher einer Anzahl 
solcher Pferdejungen auf, bis er endlich auf der Biihne 
selbst Verwendung fand und im Jahre 1592 seine erste 
grofiere Rolle spielen durfte. 

Nun breitete sich sein Ruhm bald aus: als Schauspieler, 
als Theaterdichter; mit ihm wuchs sein Wohlstand, so dafi 
er im Jahre 1597 schon ein Haus in Stratford kaufen konn- 
te. Besonders, nachdem er Mitbesitzer des Globe-Theaters 
geworden war, wurde er zu einem sehr wohlhabenden 
Mann. 

Die Dramen der ersten Periode Shakespeares «Verlorene 
Liebesmiih», «Wie es euch gefallt», einige der Konigsdra- 
men sind noch nicht so wesentlich verschieden von ande- 
ren Dramen der gleichen Zeit, wie sie von Marlowe und an- 
deren geschaffen wurden; auch wurde noch die Kraft des 
Ausdrucks, die Reinheit und Natiirlichkeit durch eine der 
damaligen Mode entsprechende gewisse Kiinstlichkeit der 
Sprache beeintrachtigt. Erst allmahlich folgten dann die 
grofien Charakterdramen: «Othello», «Hamlet», «Mac- 
beth», «K6nig Lear», «Julius Casar», «Coriolan», die fur alle 



Zeiten den Ruhm Shakespeares begriinden sollten. Aus 
einer Anzahl seiner letzten Werke wollen dann einige sei- 
ner Biographen und Schilderer auf triibe Erfahrungen und 
Erlebnisse schliefien, die der Dichter in jener Zeit gehabt, 
und die ihn zu einer bitteren Lebensauffassung gefiihrt hat- 
ten. Doch ist eine solche Folgerung bei Shakespeare gerade 
sehr schwer zu begriinden, da er wie kein anderer Dichter 
hinter seinen Figuren zuriicktritt. Nicht was er iiber eine 
Sache denkt, bringt er durch den Murtd seiner Gestalten 
zum Ausdruck, sondern er lafit jede einzelne ihrem Cha- 
rakter gemafi denken und handeln. 

Miifiig erscheint daher auch die Frage, welchen Stand- 
punkt Shakespeare selbst den verschiedenen Fragen gegen- 
iiber einnahm. Nicht Shakespeare... Hamlet griibelt iiber 
Sein oder Nichtsein; er erschrickt vor dem Geiste des Va- 
ters, wie Macbeth vor den Hexen auf der Heide. Ob Shake- 
speare an Hexen, an Geister geglaubt, ob er ein Glaubiger, 
ein Freigeist gewesen, es kommt hierbei gar nicht in Be- 
tracht. Er stellte sich die Frage: Wie mufi ein Geist, eine 
Hexe auf der Buhne sich darstellen, um die Wirkung auf 
den Zuhorer auszuiiben, die er beabsichtigte. Und dafi die 
Wirkung der Shakespeareschen Gestalten bis heute die 
gleich grofie geblieben ist, beweist eben, wie er sich diese 
Frage beantwortete. 

Dabei darf nicht vergessen werden, dafi eigentlich die 
Verhaltnisse unserer heutigen Buhne der Wirkung der 
Shakespeareschen Dramen nicht besonders giinstig sind. 
Der Wert, der heute auf die Ausstattung, auf allerlei Bei- 
werk gelegt wird, der haufige Szenenwechsel, all das beein- 
trachtigt die Wirkung der Charakterschilderung, die eben 
die Hauptsache bleibt. Zu Shakespeares Zeiten, als man 
eine Anderung der Szene einfach durch eine ausgehangte 
Tafel andeutete, als ein Stuhl und Tisch fur die Ausstattung 



eines koniglichen Palastes geniigten, mufke in dieser Hin- 
sicht die Wirkung eine noch bedeutend groftere sein. 

Wahrend aber bei einem heutigen Dichter so unendlich 
vieles in der Auffuhrung von all dem Beiwerk abhangt - 
wie ja auch heute die Dichter meist ganz genau die Ausstat- 
tung der Raume und so weiter bis in alle Details vorschrei- 
ben, so dafi bei einer schlechten Auffuhrung die Wirkung 
vollstandig versagt wirken Shakespeares Dramen gewal- 
tig auch in der mangelhaftesten Auffuhrung. 

Und wenn eine Zeit kommt, in der wir wieder mehr auf 
das Wesentliche sehen, als es heute der Fall ist, dann wird 
die Wirkung von Shakespeares Kunst eine immer gewalti- 
gere werden: durch die Kraft der Charakterschilderung, in 
der sie durch die Jahrhunderte lebendig und unerreicht 
geblieben ist. 



UBER ROMISCHE GESCHICHTE 



Berlin, 19. Juli 1904 



Wir haben gesehen, dafi etwa achthundert Jahre vor dem 
Beginn unserer Zeitrechnung von Rom aus ein Reich sich 
ausbreitete, das urspriinglich seinen Ausgang genommen 
hat von einer Art von Priesterkonigtum; wie dieses Prie- 
sterkonigtum dann iibergegangen ist durch etwa zweiein- 
halb Jahrhunderte in eine Republik. Dann sehen wir den 
romischen Staat durch fiinf Jahrhunderte hindurch sich 
ausbreiten liber die ganze damals in Betracht kommende 
Welt. Wir sehen also etwa siebenhundert Jahre vor Christi 
Geburt in Rom einen Konig herrschen, welcher bekleidet 
ist zu gleicher Zeit mit der hochsten damaligen priesterli- 
chen Wiirde. Dieses Amt hat sich erhalten. Der Trager des- 
selben, dem damals die Konigswiirde mit zukam in den *al- 
teren Zeiten, bevor es weltliche Konige in Rom gab, hiefi 
Pontifex Maximus. Einen Pontifex Maximus sehen wir also 
an der Spitze des romischen Staates stehen, im Aufgange 
dieses Staates. Wir sehen dann, wie die Wiirde des Pontifex 
Maximus allmahlich herabgedriickt wird, so dafi ihm nur 
noch die priesterlichen Formen verbleiben. Wir sehen, daft 
der Rex, der Konig noch besteht, der aber eigentlich nur 
noch ein Schatten der urspriinglichen Personlichkeit ist. 
Nun sehen wir die Republik immer mehr und mehr sich 
ausdehnen und in der Zeit, in der im Osten das Christen- 
tum gestiftet wird, sehen wir in Rom wieder eine Person- 
lichkeit alle Gewalt, alle Macht in Handen haben in dem 
Kaiser Augustus. Er findet es angemessen, notwendig da- 
mals, sich ubertragen zu lassen, neben anderen Amtern der 



Republik, die Wiirde des Pontifex Maximus. So haben wir 
im Anfange unserer Zeitrechnung in Rom wieder den Pon- 
tifex Maximus mit der hochsten Gewalt. Aber das ist ein 
Pontifex Maximus, ein Oberpriester, dessen Gewalt nicht 
auf dem Priesteramt, sondern dessen Gewalt einzig und 
allein auf seiner weltlichen Macht beruht. 

Und wir sehen wenige Jahrhunderte, etwa fiinfhundert 
Jahre darnach, diese weltliche Macht des romischen Ge- 
walthabers vollstandig vernichtet. Dafur aber sehen wir 
wieder einen Pontifex Maximus, einen Oberpriester, einen 
romischen Bischof, den spateren Papst, der wieder die 
Wiirde des Pontifex Maximus tragt. Und etwa im Jahre 800 
n. Chr. empfing derjenige Fiirst, der am meisten genannt 
wird, der herrschte iiber diejenigen, die den weltlichen 
Pontifex Maximus in Rom gestiirzt haben, die weltliche 
Konigskrone von diesem Pontifex Maximus. Er unterwarf 
die weltliche Herrschaft vollstandig der priesterlichen 
Herrschaft, der priesterlichen Gewalt. Und nun beginnt 
das romische Reich, das Heilige Romische Reich. 

So sehen wir eine Wandlung in der Geschichte sich voll- 
ziehen. Wir sehen, das einzige was geblieben ist, was sich 
fortgepflanzt hat, "das ist die Wiirde des Oberpriesters in 
Rom. Ringsherum haben sich Wandlungen von einer welt- 
geschichtlich einschneidenden Bedeutung vollzogen, die 
man auch einmal von einem hoheren Gesichtspunkt aus 
iiberblicken mufi, um sie vollstandig zu verstehen. 

Wir werden uns vor alien Dingen fragen mussen: wie hat 
sich diese Wandlung vollzogen in dem Zeitpunkt, in dem 
wir jetzt stehen, in dem das Christentum seinen Anfang ge- 
nommen hat, also im Anfange unserer Zeitrechnung? Wie 
ist es gekommen, auf der einen Seite, dafi ein weltlicher 
Machthaber die ganze Herrschaft iiber die damalige Welt 
hatte, und dafi diese ungeheure Macht vollstandig zerstort 



war wenige Zeit hernach; dafi das Volk, auf dem diese 
Macht beruht hat, aufgehort hat eine Rolle zu spielen, eine 
Macht zu sein? Wie kommt es, dafi fiinfhundert Jahre nach 
dem Beginn unserer Zeitrechnung das romische Kaisertum 
zerstort war, und dafi in Rom der romische Priester als ein 
Fiirst safi, mit ebensolcher Macht iiber die Seelen, wie sie 
einstmals der romische Kaiser, der Casar, in weltlicher 
Beziehung hatte? 

Zwei grofte Stromungen sind es, die das bewirken, zwei 
Stromungen von einer Wichtigkeit und einer Bedeutung, 
wie sie wenige in der Geschichte haben. Es ist auf der einen 
Seite die Ausbreitung des Christentums von Osten her, 
und auf der anderen Seite sind es die wandernden Kriegs- 
ziige der Germanen. Das romische Reich wird von zwei 
Seiten bedroht: in geistiger Beziehung von Osten und in 
weltlicher Beziehung von Norden. Alles das, was fruher die 
Grofie des Romerreiches ausgemacht hat, war nicht mehr 
da in einer gewissen Beziehung. Aber etwas anderes war da. 
Es waren die aufieren Formen dieses romischen Reiches ge- 
blieben. Es war dasjenige geblieben, was die eigentliche Be- 
deutung dieses romischen Reiches ausmachte, das was ur- 
sprunglich die Grofte des romischen Weltreiches bedingte. 
Es war das romische Denken, die romische Weltanschau- 
ung in bezug auf die aufteren Einrichtungen geblieben. Wir 
werden sehen, bis zu welchem Grade diese erhalten geblie- 
ben sind. Zwar war aller friihere Inhalt aus diesem Reiche 
ausgetrieben. Aber die blofie Form, das aufiere Kleid war 
geblieben. Und hineingegossen in diese Form war etwas an- 
deres, namlich das Christentum, das jetzt in denselben For- 
men auftritt wie das romische Kaisertum. Das, worauf die 
Herrschaft der Romer beruhte, das hatten die nordischen 
Volkerschaften zerstort. Es ist das eine eigentumliche Ge- 
schichte, denn es ist vom romischen Reiche mindestens so- 



viel geblieben als zugrunde gegangen ist. Und was davon 
geblieben ist, davon erzahlt die Geschichte der katholi- 
schen Kirche, was davon ferner geblieben ist, das erzahlt 
das, was wir taglich erleben konnen. Gehen Sie in einen 
Gerichtssaal und sehen Sie, wie da angeklagt, verteidigt und 
Recht gesprochen wird. Das ist das romische Recht. Dieses 
Recht ist in Rom geschaffen worden und heute noch vor- 
handen. Wir leben in Einrichtungen, welche ganz durch- 
setzt sind von Anschauungen dieses romischen Reiches. Al- 
les, was wir noch denken von Rechts-, Eigentums- und Be- 
sitzverhaltnissen, was wir denken uber Familienverhaltnis- 
se und so weiter, das fuhrt seinem Ursprung nach, wenn 
wir es entwickelungsgeschichtlich verfolgen, auf das alte ro- 
mische Reich zuriick, trotzdem das Volk, aus dem das alles 
hervorgegangen ist, funfhundert Jahre nach Christi Geburt 
seine aufiere Macht und Bedeutung in der Weltgeschichte 
verloren hat. 

Wir haben die Ausbreitung Roms iiber den Erdkreis be- 
schrieben, wir haben gesehen, wie von diesem damaligen 
Weltmittelpunkt aus Rom in alle bekannten, damals in Be- 
tracht kommenden Lander seine Herrschaft ausdehnte. 
Wir haben aber auch gesehen, worauf eigentlich die Mog- 
lichkeit beruhte, dafi Rom so machtig wurde. Wir haben 
das romische Volk nach und nach in seiner ganzen Entwik- 
kelung betrachtet, und wir haben gesehen, dafi mit einer ge- 
wissen Notwendigkeit aus der ganzen Anlage und dem gan- 
zen Charakter dieses Volkes, sich die Art entwickelte, wie 
dieses Volk seine Weltherrschaft begriindete. Wir haben zu 
gleicher Zeit gesehen, wie gerade aus dieser Art zuletzt der 
Verfall der romischen Weltherrschaft hervorgehen mufite, 
und dieser hangt so innig zusammen mit der Entstehung, 
dafi wir dieselben Gedanken gebrauchen miissen, die wir 
gebrauchten, als wir von der Entstehung sprachen. Wir ha- 



ben gesehen, daft der romische Grundbesitz, in unermeftli- 
cher Gier erworben, den Reichtum ins Unermeftliche stei- 
gern und dagegen auf der anderen Seite eine Armut, ebenso 
ins Unermeftliche gesteigert, hervorbringen mufite, so daft 
wir auf der einen Seite Luxus und Reichtum und auf der 
anderen Seite Unzufriedenheit sehen. 

Wir haben auch gesehen, worauf alles das beruhte, wo- 
durch Rom groft geworden ist. Wir haben gesehen, was es 
hieft, ein romischer Burger zu sein. In diese Denkweise 
miissen wir uns hineinversetzen. Wir haben gesehen, wie 
die Cives, die romischen Burger, ihr Interesse am Staate 
hatten, wie jeder romische Burger sich berufen fiih.lt mitzu- 
reden, mitzuraten, wie also die Stimme des einzelnen in Be- 
tracht kam. Das driickt sich darin aus, wie in Rom regiert 
wurde, wie die samtlichen Amter so aufgefaftt wurden, daft 
die Regierungsgewalt in den Handen der gesamten Biirger- 
schaft lag. Diejenigen, welche wahrend der republikani- 
schen Zeit der Romer das Reich verwalteten, waren nichts 
anderes als Verweser der burgerlichen Gewalt. Ubertragen 
war ihnen fur Jahresfrist, aber auch fur andere Fristen, das, 
was die Bedeutung ihres Amtes ausmachte. Niemals dachte 
ein romischer Burger anders als daft das, was der Prator tat, 
eigentlich ihm zugut kommt und daft jener es nur in seiner 
Vertretung tat. Als Stellvertreter sah der Romer den Kon- 
sul, den Quastor, den Prator an. Und worauf beruhte die- 
ses? Es beruhte darauf, daft die denkbar kiirzesten Wahlpe- 
rioden eingefuhrt waren, so daft im Grunde genommen 
niemals einer ein Amt langere Zeit inne hatte. Etwas ande- 
res als Vertrauen zwischen denjenigen, die gewahlt waren, 
und denjenigen, die wahlten, war nicht vorhanden. Es 
konnte ein Mifttrauen zwischen einer regierenden Person- 
lichkeit und dem Volke nicht geben. Es konnten Zwischen- 
falle vorkommen wahrend der kurzen Regierungszeit eines 



Tribuns, aber im grofien und ganzen war diese Regierung 
ganz auf das Vertrauen aufgebaut. Es war eine iibertragene 
Gewalt, und der Romer verstand das. Er verstand, was das 
heifk, dafi er der Herr ist und der andere, dem die Regie- 
rungsgewalt iibertragen war, diese nur in Vertretung fuhr- 
te. Das geht daraus hervor, wie der Romer das Glied eines 
Rechtsvolkes war. Erst in spaterer Zeit wurde es etwas an- 
ders. Versuchen Sie heute einmal einen Gebildeten - er 
kann sogar sehr gebildet sein - zu fragen, welches der juri- 
stische Unterschied ist zwischen dem Begriff «Eigentum» 
und dem Begriff «Besitz». Das sind zwei Begriff e, die aus 
dem romischen Recht stammen. Ich bin iiberzeugt, Sie 
konnen weit herumgehen, selbst bei Leuten, die viel gelernt 
haben, und man wird Ihnen den Unterschied kaum sagen 
konnen. Hatten Sie einen romischen Bauern gefragt, der 
hatte ganz gewift gewuik den Unterschied zwischen Besitz 
und Eigentum. So wie man im Mittelalter die Zehn Ge- 
bote gelernt hat, so hat jeder romische Knabe die zwolf 
Gesetzestafeln schon in der Schule gelernt. Die Romer wa- 
ren ein Rechtsvolk, und in Fleisch und Blut ging ihnen 
das Recht iiber. 

Nun dehnte sich aber die romische Herrschaft iiber uner- 
mefiliche Gebiete und viele Provinzen aus. Sie konnen sich 
denken, dafi ein solches Staatsgefiige nur so lange zusam- 
menhalten kann in der Weise, wie wir es kennengelernt ha- 
ben, als es eine bestimmte Grofie nicht ubersteigt. In dem 
Augenblicke aber, wo die vielen Provinzen erobert worden 
waren, konnte das nicht mehr so sein. Es tauchte der Un- 
terschied zwischen dem romischen Urstaat und den Pro- 
vinzen auf. Das romische Biirgerrecht wird den Provinzen 
versagt. Die Provinzen haben keine Rechte, sie sind Unter- 
jochte. Das geht Hand in Hand mit den iibrigen Entwicke- 
lungsstadien, mit der Ausdehnung des Grofigrundbesitzes 



und den damit verkniipften Problemen der Vererbung. Es 
geht Hand in Hand mit dem Heraufkommen eines unge- 
heuren Proletariats. Das Uberhandnehmen des Proletariats 
hangt damit zusammen, dafi das alte Biirgerheer sich all- 
mahlich verwandelte in ein Heer von Soldnertruppen, wel- 
che einzelne fuhrende Personlichkeiten wie Marius und so 
weiter anwarben. So sehen wir, dafi neben dem alten romi- 
schen Burger sich entwickelte eine Art von Militarmacht, 
die demjenigen gefiigig ist, der gerade die Gunst dieser Mili- 
tarmacht erringen kann. Wir sehen ferner, dafi Menschen 
wie Gracchus bemiiht sind, den Untergang des romischen 
Reiches dadurch aufzuhalten, daft sie eine Art von Mittel- 
partei schaffen wollen. Ich habe Ihnen die Gracchen-Bewe- 
gung ja geschildert. Jetzt hat noch das Bedeutung, dafi der 
jiingere Gracchus eine Mittelpartei hat schaffen wollen. - 
Diese sollte aus solchen Leuten bestehen, die Senatoren wa- 
ren und ausgetreten sind. Es war also eine Art von Ritter- 
schaft. Diese Ritterschaft war es, die von den Proletariern 
befeindet worden war. 

Nun hatte sich etwas ganz Besonderes in Rom zugetragen 
in der Zeit, in der die Casarenmacht heraufkam. Diese Rit- 
terschaft sollte eine Macht bilden gegen die groften Grund- 
besitzer, gegen die sogenannten Optimaten. Es sollten die 
alten Ackergesetze erneuert werden. Niemand sollte mehr 
als funfhundert Morgen Land haben, hochstens noch fiir 
erwachsene Sonne zweihundertfiinfzig Morgen dazu, je- 
denfalls hochstens tausend Morgen. Der andere Boden soll- 
te als kleinere Besitzungen diesem Mittelstande iibergeben 
werden. Dadurch glaubte man eine Mittelschicht zu schaf- 
fen zwischen den Grofigrundbesitzern und dem Proleta- 
riat. Das ist aber mifigluckt, weil das Proletariat mifkrau- 
isch geworden war und weil es eine Partei zwischen sich 
selbst und den eigentlichen Besitzern nicht dulden wollte. 



Die Mittelpartei schlug sich zuletzt auch zu den Optima- 
ten. Dadurch haben wir also jetzt das Proletariat auf der 
einen Seite und auf der anderen Seite eine Art von Ord- 
nungspartei. Das hat sich herausgebildet in der letzten Zeit. 
Die republikanische Gewalt ist ganz allmahlich, fast unbe- 
merkt in die casarische Gewalt iibergegangen. Octavius, der 
romische Kaiser, war selbst eine Art von republikanischem 
Machthaber, und er hat sich nach und nach zu der - man 
kann nicht sagen - Wiirde aufgeschwungen, denn ganz mit 
Notwendigkeit ging aus den romischen Verhaltnissen diese 
eigentumliche Machtfulle des Octavius-Augustus hervor. 
Er hat einfach die alten romischen Verhaltnisse fortgesetzt, 
hat sich alle die Amter nach und nach ubertragen lassen. 
Und daft er imstande war als eine Art von Alleinherrscher 
diese Amter auszufullen, kam davon her, daft der Unter- 
schied zwischen den romischen Verhaltnissen und denen in 
der Provinz drauften ein so grofter geworden war. In der 
Provinz hatte man langst in einer Art edelmannischer Wei- 
se regiert. Das hatte den romischen Burgern gar nicht wi- 
derstrebt. Sie fiihlten sich als romische Burger, und es war 
ihnen gar nicht darum zu tun, daft die drauften in der Pro- 
vinz dasselbe Recht hatten wie sie. So war man damit zu- 
frieden, daft sich von Rom aus eine Art absoluter Regie- 
rungsgewalt gegeniiber der Provinz entwickelte. Nament- 
lich lieften die romischen Alleinherrscher sich alle die soge- 
nannten prokonsularischen Gewalten in den Provinzen 
ubertragen. So ist es gekommen, daft die ersten Konsuln 
Herrscher ganz eigener Art und Kraft waren. In Rom wuft- 
ten sie aufrechtzuerhalten die Gewalt, die ihnen ubertragen 
war wie in friiherer Zeit, und drauften im Sinne eines zum 
Staate Halten der Provinzen. So entwickelte sich, man 
kann sagen mit Ubereinstimmung der romischen Burger- 
schaft, die romische Gewalt. 



Und dann kam wahrend der Casarenzeit das Foigende. 
Es war tatsachlich so, dafi durch die absolute Gewalt in den 
Provinzen die Casaren sich die gesamte Steuereinrichtung 
angeeignet hatten und die gesamte Militargewalt. Daher 
kam es, dafi sie ungeheure Einkiinfte aus den Provinzen zu 
ziehen vermochten. So entwickelte sich neben dem romi- 
schen Staatsfiskus eine Art von kaiserlichem Fiskus. Und 
mit der oktavianischen Gewalt entwickelte sich dann die 
romisch-casarische Alleinherrschaft in der folgenden Art: 
Es waren die romischen piirger, welche iibereinkamen, al- 
les das, was in der Provinz zu tun war, nicht mehr zu 
leisten mit der romischen Staatskasse. Es waren oft Dinge, 
die notwendig geworden waren. Aber auch diese waren 
nicht mehr aus der Staatskasse zu bezahlen. Die Einkiinfte 
flossen namlich nicht in die Staatskasse, sondern in die Kas- 
se der Casaren. Und so kam es, daft sich die Casaren zu 
einer Art von Wohltatern aufwerfen konnten. Dadurch 
entwickelte sich die casarische Gewalt und Macht, und alle 
ubrigen Amter mufiten zu einer Art von Schattenamtern 
zusammensinken. Von innen heraus eroberte die romische 
Casarenmacht die Macht im Staat. Und so begreifen wir es 
auch, dafi im Grunde genommen nur die ersten Kaiser ech- 
te Romer waren. Wir begreifen, daft spater im Grunde ge- 
nommen nicht mehr wirkliche Romer auf dem Stuhle der 
Casaren safkn, sondern Leute, die in den Provinzen ge- 
wahlt worden waren, und die so wie Hadrian und Cara- 
calla die Herrschaft an sich reifien konnten. Vom Umkreis 
aus wurde Rom dem Absolutismus zugefiihrt. So ging 
durch eine Art innerer Notwendigkeit der Entwickelung 
das, was auf die romischen Burger verteilt war, in die Han- 
de eines Alleinherrschers iiber. Es wird nun ganz selbstver- 
standlich, dafi das ganze romische Rechts- und Begriffssy- 
stem sich iibertragt auf den einen inneren Mittelpunkt. 



Was friiher die romischen Burger besorgt haben, besorgen 
jetzt einzelne Beamte, und nicht bloft in den Provinzen, 
sondern auch in Rom selbst. 

Da geht etwas vor, was man verstehen mufi, wenn man 
die Zeit richtig verstehen will. Blicken wir einen Augen- 
blick zuriick nach Griechenland und nach Rom in der Zeit 
des alten Konigtums, da werden wir sehen, daft uberall mit- 
spricht ein unmittelbares Verhaltnis der Regierenden zu 
den Regierten. Sei nun dieses Vertrauensverhaltnis in dieser 
oder jener Art gebildet, es war von den alteren Zeiten an, 
von denen wir bei der letzten Geschichtsbetrachtung ausge- 
gangen sind, ein natiirliches Verhaltnis, weil sie in dieser 
oder jener Weise von den Regierten anerkannt waren, so 
daft man an sie glaubte. Im Prinzip war es so. Derjenige, 
welcher regierte, muftte gewisse Eigenschaften sich erwer- 
ben, namentlich in den alteren Priesterstaaten. Da glaubte 
niemand an jenseits der Welt schwebende gottliche Machte. 
Aber man glaubte an eine Art Vergottlichung des Men- 
schen, weil man in dem Menschen das Entwickelungsprin- 
zip suchte. Man erkannte den Priesterkonig in Rom nur 
dann an, wenn er sich geistige und moralische Eigenschaf- 
ten der Gotter erworben hatte, wenn er sich innerlich da- 
hin entwickelt hatte. Man konnte sich das erwerben, man 
konnte es dahin bringen, eine Art vergottlichter Person zu 
sein, die Verehrung verdiente. Es war kein Unterwurfig- 
keitsverhaltnis, es war Vertrauen. Das mull jeder sagen, der 
die Dinge kennt. Das beruhte auf etwas, das immer da 
war im Herzen und es pflanzte sich auch noch fort in der 
Republik. 

Aber bei der Art und Weise, wie sich das romische Recht 
entwickelt hat, war es geeignet dieses personliche, lebendi- 
ge Verhaltnis von Regierenden und Regierten vollstandig 
auszuloschen. Es war geeignet anstelle des personlichen ein 



abstraktes, gedachtes Verhaltnis zu setzen. Wenn Sie in die- 
se Zeiten Roms zuriickgehen konnten, so wiirden Sie se- 
hen, daft der, welcher als Prator zu Rom zu Gericht safi, 
wenn er auch die zwolf Tafelgesetze vor sich hatte, er doch 
durch die personliche Einsicht etwas tun konnte, was auf 
Vertrauen beruhte, Es hing da von der Personlichkeit noch 
etwas ab. Das wurde spater ganz anders. Spater wurde das 
ganze Rechtssystem allmahlich zu dem rein abstrakten Ge- 
dankensystem. Es kam lediglich darauf an, das Gesetz sei- 
nen Paragraphen nach durch logische Scharfe auszulegen. 
Der Jurist sollte ein blofier Denker sein, ein bloft logisch 
geschulter Mann. Allein auf das Denken kam es an. Nichts 
vom unmittelbaren Leben sollte da einfliefien, nichts vom 
Gemiit und nichts von personlichem Einfluft. Nur an den 
Buchstaben sollte man sich halten. Und nach dem Buchsta- 
ben wurde immer mehr und mehr das Gesetz ausgelegt. 
Nur Beamte waren es, die den Buchstaben draufien in den 
Provinzen und spater auch in Rom zu handhaben hatten. 
Da handelte es sich darum, die Paragraphen zu studieren 
und abgesehen von jedem unmittelbaren Leben lediglich 
durch Gedanken - und das ging heriiber bis in die sophisti- 
schen Gedanken - zu entscheiden. Die ganze Denkweise, 
die sich in der Verwaltung und Regierung ausdruckte, hatte 
etwas angenommen, das die ganzen Einrichtungen wie ein 
Rechenexempel behandelte. Das mussen Sie festhalten, 
dann werden Sie verstehen, was es heifk, wenn man sagt, 
dafi das ganze romische Leben sich verwandelt hatte in ein 
Dogmensystem. Der romische Staat, der ein Recht geschaf- 
fen hatte aus dem freien Entschluft, aus der Seele der Burger 
heraus, der hatte es allmahlich verwandelt in Dogmen. 

Zur Zeit der Entstehung des Christentums kam keine 
personliche Regierung mehr in Betracht, sondern nur ge- 
schriebenes Gesetz. Es war ein richtiges Dogmenrecht. Die 



Casaren konnten da und dort her genommen werden, alles 
das, worauf es fur sie ankam, war, den ganzen Staat in ein 
Rechtssystem einzuzwangen, das von einem Mittelpunkt 
aus straff gespannt werden konnte. Der ganze romische 
Staat wurde allmahlich dogmatisiert. Wir sehen ihn einge- 
teilt in kleinere Gebiete, an deren Spitze Verwaltungsbeam- 
te juristischer Art standen. Diese Gebiete wurden wieder 
zusammengefafit zu Diozesen. So sehen wir den romischen 
Staat allmahlich eine Form annehmen, die wir spater wie- 
der erblicken in der Einteilung, die die katholische Kirche 
angenommen hat. Nicht das Christentum hat diese For- 
men geschaffen; das ist ganz nach der Schablone des ro- 
misch-dogmatisierten Staates geschehen. 

In diesen Staat hinein, mit dem ganzen Aussehen, das Sie 
jetzt kennen, verpflanzte sich das Christentum von Osten 
heriiber. Da miissen wir freilich auf Personlichkeiten einge- 
hen. Wir konnen aber nicht auf einzelne romische Kaiser 
eingehen. Im Grunde genommen ist diese Geschichte auch 
ziemlich langweilig. Es geniigt vielleicht, wenn wir Cali- 
gula - KommiEstiefelchen - erwahnen. Aber eines ist 
wichtig. Wir miissen uns klarmachen, was mit oder aus der 
romischen Kultur geworden ist. Diese romische Kultur 
hatte etwas, was Sie an die Kultur einer anderen Zeit erin- 
nern wird. Ich mochte Ihnen eine Personlichkeit schildern, 
die typisch, reprasentativ ist und die sich hier zum Ver- 
gleich anfiihren lafit, das ist Lucian. Er stammte aus Asien 
und wird eingefuhrt als ein ganz besonderes Licht. Er er- 
zahlt uns selbst von sich in einem bemerkenswerten Werk 
«Der Traum». Ich erwahne das, nicht weil es ein bedeuten- 
des literarisches Produkt ist, sondern weil es als ein charak- 
teristisches Zeichen fur die Denkweise des damaligen romi- 
schen Reiches gelt en kann. Zwei Frauengestalten erschie- 
nen ihm im Traume, die eine war die Kunst, die andere war 



die Bildung. Die Kunst verlangte von ihm, daft er nach har- 
ter Arbeit strebe. Die Bildung forderte von alledem nichts. 
Er brauchte sich nur anzueignen ein paar Kunstgriffe, wie 
man moglichst gut die Leute iiberreden kann. Und im alten 
Rom bedeutete reden soviel wie heute Zeitungschreiben. 
Er sagte sich daher, warum soil ich Phidias nachfolgen, 
warum dem Homer? Da bleibe ich ja ein armer Kerl. Er 
folgte der zweiten Frauengestalt und wurde Wanderredner, 
ein Redner ganz eigentiimlicher Art, ein Redner ohne Bil- 
dungsgrundlage. Bildung hiefi dazumal: ohne etwas zu wis- 
sen, ohne ernstlich studiert zu haben, zu den Leuten zu 
reden so wie man heute in der Zeitung schreibt. 

So ging er in die Welt hinaus. Und nun sehen wir, wie er 
iiber Religion und Politik redet, wie er auftritt als eine Per- 
sonlichkeit, von der die Geschichte nichts meldet, die aber 
die Rede in einem Gesprach, wie in einem Leitartikel, bis 
zum Himmel hinauf zu heben vermochte. Uberall war er 
in dieser Weise tatig. Er kam bis nach Frankreich, war eine 
Personlichkeit ohne Halt, ohne inneren Gehalt und Inhalt. 
So war uberhaupt die Bildung in diesem damaligen grofien 
romischen Reich beschaffen. Das waren die Gebildeten. 
Derjenige, welcher einen Kern hatte, wie Apollonius, ein 
Zeitgenosse des Lucian, der konnte nicht zu einer irgend- 
wie erheblichen Bedeutung kommen. Das war damals ganz 
unmoglich. Aber das ganze weite Reich seufzte. Es war die 
Unzufriedenheit und die Sittenlosigkeit, unter denen man 
litt. Ich kann Ihnen nicht schildern die Art von Vergniigun- 
gen grausiger und unmoralischer Art. Ein Drittel des Jahres 
wurde verbracht mit Gladiatorenspielen, mit Stierkampfen 
oder mit Schaustellungen der ausgelassensten Art. Und das 
breitete sich immer mehr und mehr aus. Wir haben da auf 
der einen Seite aufiersten Luxus und daneben eine Armut 
und ein Elend, wie es ganz unbeschreiblich ist. 



Nun sehen Sie, wie es dazu kam, wie in diesem ganzen ro- 
mischen Reich ein Element mehr und mehr Ausbreitung 
gewann, welches sich von alien anderen dadurch unter- 
schied, dafi es mehr Ernst hatte, dafi es einen tieferen Ge- 
halt hatte. Das war das Judentum. Die Juden konnten Sie 
im romischen Reiche damals iiberall finden. Es ware ganz 
ungeschichtlich, wenn man glauben wollte, dafi damals die 
Juden nur auf Palastina beschrankt waren. In ganz Nord- 
afrika, in Rom und in Frankreich, iiberall finden Sie schon 
damals die Juden ausgebreitet. Ihre Religion war noch viel 
gehaltvoller als das, was die Bildung der romischen Zeit 
bot. Sie bestand neben den Stromungen niederer Geistes- 
art. Dadurch, dafi die Romer in alle Welt kamen, breiteten 
sie auch die Kultus-, die Opferhandlungen, die heiligen 
Handlungen der verschiedenen Provinzen aus. In Rom 
konnte man persische, arabische, agyptische Gottesdienste 
halten sehen. Das hatte eine ungeheure Veraufierlichung 
zur Folge. 

In der romischen Casarenzeit ist die Religion zu einem 
solchen Grad von Aufierlichkeit gekommen, dafi sie sich 
mit nichts fruherem vergleichen lafSt. Der Priester der alte- 
ren Zeit war eine Art von Eingeweihtem, nachdem er vor- 
her uberwunden hatte alles Niedere. Dann nannte man ihn 
auch eine vergottlichte Personlichkeit. Das erreichte man 
in den verschiedenen Schulen der verschiedensten Lander. 
Soweit diese Wiirde erhaben war - sie war eine der heilig- 
sten des Altertums - , so weit war diese nun herabgezogen. 
Es war so, dafi die romischen Casaren als sogenannte Einge- 
weihte verehrt wurden, ja sogar gottlich verehrt wurden. 
Lucretia erlangte sogar gottliche Verehrung, weil bei ihr, 
durch aufiere Handlungen und Schulung vorbereitet, eine 
Einweihung vollzogen worden war. 

Aber das war ganz aufierlich. Als Augustus den Titel 



Pontifex Maximus angenommen hatte, da hatte er aufier- 
lich angenommen alies das, was friiher das innerliche 
Zeichen der Priester war. Dadurch, daft das alien Zusam- 
menhang mit seinem Ursprung verloren hatte, hatte es 
auch alle Bedeutung und das richtige Verhaltnis verloren. 

So sah es in Rom aus in der Zeit, als es von Osten heriiber 
eine vollige Erneuerung der religiosen Anschauung bekam. 
Eine Erneuerung der religiosen Anschauung kam, welche 
wir ja dem Inneren nach, weil wir ja keine Religionsge- 
schichte, sondern Allgemeingeschichte vortragen, dem In- 
halte nach nicht zu schildern brauchen, aber den aufieren 
Formen nach schildern mussen. Vor alien Dingen ver- 
pflanzte sich eine Weisheitsreligion. Die ersten Verbreiter 
dieser christlichen Religion waren tatsachlich die gelehrte- 
sten, die tiefsten und bedeutsamsten Manner der damaligen 
Zeit. Sie hatten zu dem Stifter des Christentums, von dem 
ganzen Grunde dieser Gelehrsamkeit aus, aufgesehen. Man 
lese sie nach: Klemens von Alexandrien, Origenes und so 
weiter, und man wird sehen, was sie an Weisheit in der da- 
maligen Wissenschaftlichkeit geleistet haben. Das alles ha- 
ben sie in den Dienst dieser neuen Idee gestellt. Alles, was 
sie versuchen wollten, war nichts anderes als eine vollige 
Erneuerung des religiosen Gefuhls, das gleichzeitig ver- 
kniipft war mit einer Durchdringung des ganzen Mensch- 
seins. 

Nun stellen Sie sich vor, dafi, wahrend in Rom driiben al- 
les Aufierlichkeit geworden war, alle Religiositat dem Ca- 
sar wie ein Mantel umgehangt war, und alles unter Beimi- 
schung von Spott beredet wurde, wie Lucian es tat, da soll- 
te mit Verzicht auf jegliches Weltliche, blofi aus dem Inner- 
sten des Menschen, des menschlichen Gemiits heraus das 
Religiose erneuert werden. Und das Religiose wird so er- 
neuert, dafi tief veranlagte, gelehrteste Manner in den 



Dienst dieser Idee gestellt sind. Es war so - das darf man 
nicht verkennen - , da£ die Leute des ersten Christentums 
nicht Leute waren, etwa wie die gewohnlichen Glieder der 
Volkermassen, sondern es waren die Gescheitesten jener 
Zeit. Das verbreitete sich mit Blitzesschnelle, deshalb, weil 
die ganze Religion nichts von Asketismus, nichts von Jen- 
seitigkeit an sich hatte. Die Menschen im unmittelbaren 
Alltagsleben griffen sie auf. Alles das, was man als romisch 
empfunden hatte, alles das, was in Rom zum Luxus, zum 
Wohlleben gefiihrt hatte, das war dem Kern dieser Religion 
im Innersten fremd. Was von dem ganzen Menschen, von 
dem Menschen des Alltags aufgefalk und eingefafit worden 
ist durch dieses Bekenntnis, das sich mit grower Schnellig- 
keit ausbreitete, das konnen Sie sehen, wenn Sie die Schil- 
derung des christlichen Prinzips bei Tertullian lesen, der da 
sagt: Wir Christen kennen nichts, was dem menschlichen 
Leben fremd ist. Wir Ziehen uns nicht zuriick von dem All- 
tagsleben, wir wollen dem Menschen, wie er alltaglich ist, 
etwas bringen, wir wollen die Welt vertreten, wir wollen 
das, was in der Welt ist, geniefien. Nur wollen wir nichts 
wissen von den Ausschweifungen Roms. 

Und um z\i zeigen, wie diese Christen miteinander leb- 
ten, wo das romische Imperium noch nicht zerstort hatte 
die Marktherrschaften, da brauche ich nur die Worte anzu- 
fiihren aus der Apostelgeschichte, nicht etwa als Predigt 
und nicht als ermahnendes Wort: «Die Menge aber der 
Glaubigen war ein Herz und eine Seele. Auch keiner sagte 
von seinen Giitern, dafi sie sein waren, sondern es war 
ihnen alles gemein . . . Es war auch keiner unter ihnen, der 
Mangel hatte, denn, wieviel ihrer waren, die da Acker oder 
Hauser hatten, die verkauften sie und brachten das Geld 
des verkauften Gutes und legten es zu der Apostel Fuften, 
und man gab einem jeglichen, was ihm not war. Joses aber, 



mit dem Zunamen von den Aposteln genannt Barnabas, 
von Geschlecht ein Levit aus Cypern, der hatte einen Ak- 
ker und verkaufte ihn und brachte das Geld und legte es zu 
der Apostel Fufien.» Das ist nicht eine Predigt, das ist eine 
Schilderung dessen, was man beabsichtigte, und was man 
auch vielfach verwirklichte. Das war es, was man entgegen- 
setzte dem romischen Staatsleben. Das war ein Grund, war- 
um das Christentum sich mit solcher Schnelligkeit einge- 
fiihrt hat. Daher schaltete sich das Christentum so schnell 
ein in die Herzen derjenigen, welche nichts zu hoffen hat- 
ten. Nicht allein das haben sie gehort damals, dafi es kein 
Dogma gibt, das lebendige Wort war es, das lebendige 
Wirken, was sie empfanden. 

Derjenige, welcher sprach, sprach das, was er wufke und 
als Wahrheit erkannt hatte. Das konnte er heute in der 
Form und morgen in einer anderen Form sagen. Es gab 
kein festgestelltes christliches Dogma. Die Gesinnung, das 
innere Leben, war es, das diese christliche Gemeinde zu- 
sammenhielt. Und das war es auch, was die ersten Christen 
predigten. Das war es auch, warum man in den ersten Jah- 
ren des Christentums frei iiber die Wahrheit hin und her 
diskutierte. Es gibt keine freiere Besprechung, keine freiere 
Diskussion, als sie in der ersten Zeit dieses Christentums 
vorhanden war. Von einer Gewalt wird nur nach und nach 
geredet. Das Wichtige, was dabei zu beriicksichtigen ist, 
was dann spater zur Vergewaltigung fiihrt, was uberhaupt 
zum Entstehen des Dogmatismus des Christentums fiihrt, 
ist die Tatsache, daft das romische Reich dogmatisiert war. 
Das ganze romische Reich war in ein Dogmensystem ver- 
wandelt. Man konnte nichts anderes begreifen als Verstan- 
dessachen, nichts anderes als steifes, abstraktes Dogma. So 
kam es, daft die ersten Christen verfolgt wurden, daft sie 
aber immer mehr an Bedeutung zunahmen, und daft sich 



die Casaren endlich nach des Konstantin Vorgehen, und die 
Konstantiner selbst gezwungen sahen, die Christen anzuer- 
kennen. Aber wie erkannten sie sie an? Sie liefien sie hin- 
einwachsen in den romischen Staat, in dasjenige, was erfullt 
war von dem Dogma und von weltlicher Macht, die im ro- 
mischen Staate begriindet waren. Dafiir mufke es seinen 
ganzen Einflufi den romischen Machthabern zur Verfii- 
gung stellen; und die urspriingliche Einteilung ging in die 
Bistiimer und Diozesen iiber. 

Nicht zu verwundern ist es, dafi im Jahre 325 das nica- 
ische Konzil so ausfiel, wie es eben ausgef alien ist. Damals 
standen die zwei Stromungen des Christentums sich noch 
gegeniiber in dem Presbyter Arius und dem ganz im romi- 
schen Geiste erzogenen Athanasius. Arius glaubte an die all- 
mahliche Entwickelung des Menschen. Er sah sie unbe- 
grenzt; Vergottlichung nannte er sie. Der Mensch kann 
sich Gott anahneln; das ist der wahre Arianismus. Dem 
stand gegeniiber der romische Dogmatiker Athanasius, der 
da sagt: Die Gottheit Christi mufi iiber alles, was mit 
Menschentum zusammenhangt, hinausgehoben werden zu 
der Abstraktheit, der Jenseitigkeit des im romischen Reiche 
sich allmahlich herausentwickelnden Dogmatismus. So 
verwandelte sich das arianische Christentum zum athanasi- 
schen Christentum, und das letztere siegte. Worauf kam es 
dem romischen Casar an? Er tritt sprater selbst zum Chri- 
stentum iiber, aber nicht zum athanasischen, sondern zum 
arianischen. Er wufke aber, dafi das athanasische wenig- 
stens scheinbar das alte romische Reich stiitzen konnte. 
Das Christentum sollte eine Stutze des romischen Reiches 
werden; das war die wichtige Frage, die sich im Beginne des 
4. Jahrhunderts entschieden hat. Das war aber zu gleicher 
Zeit die Epoche der Weltgeschichte, wo die Germanen im- 
mer machtiger und machtiger geworden waren, und es 



nichts mehr half, durch Umwandlung und Ummodelung 
das alte romische Reich zu stiitzen; es wurde hinweggefegt 
von den Germanen. Davon wollen wir das nachste Mai 
sprechen, wie die Germanen das alte romische Reich 
stiirzten. 

Dann wollen wir noch zeigen, wie das romische Reich im 
letzten Todeszucken noch eine Macht gewesen ist. Das war 
die Aufgabe, die Lehre des Christentums so umzuformen, 
daft diese Lehre eine politische Gestalt annahm und geeig- 
net war, Trager eines politischen Systems zu sein. Machtig 
war diese Idee allerdings, die dazumal das fiihrende Chri- 
stentum aus dem urspriinglichen Christentum herauszuho- 
len wufke. Macht war es, was sie zu dem romischen Casa- 
rengedanken und dem verwandelten Christentum hinzu- 
brachte. Macht war es. Das politische System war so mach- 
tig, daft, als Germanien dieses romische Reich zerstorte, als 
das germanische Landergebiet sich immer mehr ausbreite- 
te, der sogenannte bedeutende Herrscher des beginnenden 
Mittelalters, Karl der Grofte, aus den Handen des Papstes, 
des Pontifex Maximus, die Kaiserkrone erhielt. So waren 
die Wirkungen, als von dem alten romischen Reich nur 
wenig iibriggeblieben war. Sie sehen, wie eigentiimlich die 
Geschicke der Welt sich verketten, Sie sehen, daft wir vor 
alien Dingen wissen miissen, daft wir es das ganze Mittel- 
alter hindurch mit einer politischen Macht zu tun haben, 
deshalb, weil in das urspriingliche Christentum die romi- 
sche Staatsidee hineingeflossen ist. In die romische Staats- 
idee wurde nicht das eigentliche Christentum eingefiigt; 
und immer war es so, daft sich das Christentum in dem 
Monchstum aufgebaumt hat gegen die politische Gestalt 
des Christentums. 

Eine Idee hangt damit zusammen. Es ist eine Idee, die 
schwer zu begreifen ist, weil sie gar nicht im urspriingli- 



chen Christentum begriindet war. Sie finden nichts von 
dem Monchswesen im Christentum, weil diese Art von 
Vereinsamung, von Zuriickziehen von der Welt, ihm ganz 
fremd war. Demjenigen, der das Christentum ernst nahm, 
war die Form, die poiitische Form, fremd. So zog er sich, 
um die Religion des Christentums zu fuhren, in das Kloster 
zuriick. Alles was sich als solche Vereinigungen, als 
Monchstum, durch die Jahrhunderte hindurch geltend ge- 
macht hat - wenn es auch ausartete, weil die katholische 
Kirche jeden solchen Versuch unterdriicken wollte - , das 
war ein lebendiger Aufschrei des Christentums gegen die 
poiitische Macht. So haben wir also die Entwickelung der 
Macht. 

Jetzt steht uns noch bevor zu erkennen, was das germani- 
sche Element fur eine Bedeutung hat in dieser Zeit, zu er- 
kennen, was das Christentum in dem germanischen Ele- 
mente fur eine Rolle spielt. Wir haben auch noch zu erken- 
nen, was sich aus dem alten romischen Reich herausentwik- 
kelt und zu sehen, wie diese alte romische Ruine zusam- 
menstiirzt, wie aber etwas daraus hervorging, unter dem 
die Volker noch lange zu seufzen hatten. Es beginnt mit 
dem Ruf nach Freiheit und endigt mit der Unterdriickung 
der Freiheit. Das ist der Ruf, dafi jeder dem anderen sich 
gleich achtet, und der endet, daft jeder unterdriickt wird. Es 
ist merkwurdig, dafi sich in unserer Zeit Geschichtsschrei- 
ber gefunden haben, die Caracalla in Schutz nahmen, weil 
er dem ganzen romischen Reich die sogenannte Gleichbe- 
rechtigung gegeben hat. Er hat als einer der unbedeutend- 
sten und schadlichsten Casaren diejenigen, die draufien in 
den Provinzen waren, gleichberechtigt mit den Romern ge- 
macht. Aber, er hat sie dann alle zusammen unterdriickt! 
Diese Gestalt hat die urspriingliche romische Freiheit ange- 
nommen. 



Wenn wir sehen, daft das Schicksal der Freiheit ein sol- 
ches sein kann, dann gewinnen wir wohl wirklich aus der 
Geschichte das, was wir eine Art Erziehung durch die Ge- 
schichte nennen konnen. Dann lernen wir, daft es einen 
wirklichen Felsen gibt, wie Petrus ihn hatte, einen Felsen 
auf der Grundlage des urspriinglichen Stifters, auf den die 
menschliche Entwickelung wirklich gebaut werden kann. 
Dieser Fels ist und mull sein: die menschliche Freiheit und 
die menschliche Wiirde. Diese konnen zu Zeiten unter- 
driickt werden, so stark unterdriickt werden, wie es durch 
die Verhaltnisse, die sich mit wenigen vergleichen lassen, 
im alten romischen Reiche geschehen ist. Jedoch ist die Er- 
ziehung des Menschen zur Freiheit in der Geschichte gege- 
ben. Das ist eine wichtige Tatsache, daft, als die Gewalt 
herrschte im alten Rom, im Gipfel, zugleich das Funda- 
ment unterwixhlt war, und der ganze Bau zusammensturz- 
te, so daft von der Freiheit gesagt werden mufi, daft, wenn 
sie noch so tief unterdriickt ist, fur sie und von ihr gilt das 
wahre Wort: 



Das Alte stiirzt, es andert sich die Zeit, 
Und neues Leben bluht aus den Ruinen. 



GESCHICHTE DES MITTELALTERS 
BIS ZU DEN GROSSEN ERFINDUNGEN 
UND ENTDECKUNGEN 



Vorwort von Marie Steiner 
zur i. auflage i$}6 



Die Niederschrift dieser von Rudolf Steiner in der Arbei- 
terbildungsschule Berlins gehaltenen Vortrage iiber die Ge- 
schichte des Mittelalters gibt deren Inhalt, wenn auch etwas 
zusammengedrangt, so doch dem Geiste nach treu und ge- 
nau wieder. Die Vortrage zeigen, in welchem Sinne Dr. 
Steiner die Geschichte behandelt sehen wollte, und bilden 
so den Auftakt zu dem, was aus seinem Gesamtwerke als 
eine neue Wissenschaft der Geschichte wegweisend wirken 
kann. Ihre geistige Spannweite, welche die Untergriinde 
des irdischen Geschehens aus tieferen Schachten heraus- 
holt, als wir es sonst gewohnt sind, kiindigt sich schon in 
dieser gedrangten Ubersicht weit auseinander liegender hi- 
storischer Geschehnisse an. Hineingestellt waren diese frei 
gesprochenen Vortrage in dasjenige, was als Seelenkonfigu- 
ration sich in den Kreisen der Arbeiterschaft ergab; sie 
wandten sich an dasjenige, was die Zuhorer aus ihrer gut 
geschulten und wachen Intelligenz heraus verstandnisvoll 
verfolgen konnten. Aber sie dienten keinem Parteipro- 
gramm, sondern traten im eminentesten Sinne dem Dogma 
einer materialistischen Geschichtsauffassung entgegen. So 
wurden sie von den dort leitenden Personlichkeiten verket- 
zert, die ja keine Freiheit, sondern, wie sie sich ausdriickten 
«einen verniinftigen Zwang» forderten! Dies fuhrte denn 



auch dazu, daft Rudolf Steiner seiner Lehrtatigkeit in der 
Arbeiterbildungsschule enthoben wurde, trotz des allge- 
meinen Eintretens der Zuhorerschaft fur deren Fortset- 
zung. Interessant waren viele Briefe von Arbeitern, die er- 
kannt hatten, in welcher Weise Rudolf Steiner ihnen hatte 
dienen wollen; sie dankten, dafi endlich Einer gekommen 
sei, der ihnen zutraute, noch andere Interessen zu haben, 
als den Kampf urns Brot, der vom Geiste zu ihnen gespro- 
chen habe, ein solches Streben auch bei ihnen vorausset- 
zend und so an ihre besten Krafte appellierend. 

Fur die Niederschrift dieser Vortrage sind wir Fraulein 
Johanna Miicke zu Dank verpflichtet. 



Erster Vortrag, 18. Oktober 1904 



Goethe hat gesagt, das Beste in der Geschichte ware der En- 
thusiasmus, den sie errege, der dazu fiihre, zu gleichen Ta- 
ten zu ermuntern. In gewissem tieferem Sinne kann alles 
Wissen und alle Erkenntnis erst den rechten Wert erhal- 
ten, wenn es ins Leben hinaustritt. Es ist notig, bei der Ge- 
schichte weit zuriickzugreifen, urn die Ursachen der spate- 
ren Entwickelung zu finden. Wie wir, um einzelne Zweige 
der aufieren Entwickelung der menschlichen Kultur zu ver- 
stehen, zum Beispiel beim Briicken- und Wegebau, daran 
festhalten miissen, daft dies die Friichte der Errungenschaf- 
ten in den einzelnen Wissenschaften, der Physik und der 
Mathematik sind, so sehen wir auch in der eigentlichen Ge- 
schichte uber all die Friichte der friiheren Geschehnisse. In 
ferae Zeiten greift das zuriick, was in unserem Leben zum 
Ausdruck kommt. 

Wir haben die Anfange der Kultur, ihre Entwickelung im 
Griechen- und Romertum verfolgt. In dieser Geschichtsbe- 
trachtung nahern wir uns der Gegenwart. Wir gehen jetzt 
daran, einen Zeitabschnitt zu betrachten, auf den viele 
nicht gerne zuriickblicken, den sie als finsteres Mittelalter 
am liebsten ausloschen mochten aus der Geschichte. Und 
doch stehen wir da vor einem wichtigen Abschnitt der Ge- 
schichte: es treten auf den Schauplatz der Geschichte barba- 
rische Volker, die nichts wissen von Gesittung und Kunst. 
Diese Volkerstamme werden durch mongolische Volker 
aus ihrem Wohnsitz im heutigen Rutland verdrangt und 
rucken weit nach Westen vor. Wir werden die Kampfe und 
Schicksale dieser Volker verfolgen; dann wird uns unser 
Weg weiterfiihren bis zur Entdeckung Amerikas, bis zu je- 



nem Zeitpunkt, wo sich Mittelalter und Neuzeit zusam- 
menschliefien, bis zur Zeit der grofien Erfindungen und 
Entdeckungen, wo jene Erfindung geschah, die wohl die 
tiefgehendste Bedeutung hatte, die Erfindung der Buch- 
druckerkunst; jene Zeit, in der Kopernikus uns ein neues 
Weltbild gab. Diese Entwickelung des Menschen hat von 
der Volkerwanderung bis zu den Entdeckungen der Neu- 
zeit gefuhrt. 

Es ist in der Geschichte weit schwerer, den Zusammen- 
hang zwischen Ursache und Wirkung nachzuweisen, als in 
der Chemie und Physik; denn oft liegen Ursache und Wir- 
kung weit auseinander. 

Heute erst erachtet man die Duldung verschiedenartiger 
Bekenntnisse untereinander fur eine Forderung, die not- 
wendig sei als eine Kulturbedingung. Und doch bestand be- 
reits im 3. Jahrhundert vor Christo in Indien eine derartige 
gegenseitige Achtung und Duldung der verschiedensten 
Glaubensbekenntnisse, wie dies ein Denkstein des Konigs 
Asoka beweist. Die im spateren rdmischen Reich auftau- 
chende christliche Gesinnung hat ihre Wirkung iiber das 
ganze Mittelalter geauftert; ihre Ursachen liegen aber weder 
im Romerreich noch in Germanien, sondern in einer ver- 
schollenen Sekte des kleinen jiidischen Volkes in Palastina: 
bei den Essaern. Bei dem verhaltnismafiig grofien Pro- 
gramm kann jetzt nicht jeder Zeitpunkt ausfuhrlich behan- 
delt werden. Es mufi gewissermafien erst eine Kohlezeich- 
nung entworfen werden, deren Linien dann weiter auszu- 
fiihren sind. Wir miissen zunachst begreifen, was uns aus 
diesem Mittelalter zustrdmt, wenn wir verstehen wollen, 
welche Wirkung diese Zeit fur uns haben mui Ein hervor- 
ragender romischer Schriftsteller, Tacitus, hat uns in seiner 
«Germania» ein Bild jener Stamme aufbewahrt, die sich in 
dem heutigen Deutschland niedergelassen hatten. Er schil- 



dert sie als einzelne Stamme, gleich durch ihre Sprache; und 
wahrend sie sich selbst als verschiedene Volker betrachte- 
ten, erschienen sie ihm, dem Aufienstehenden, sehr ahn- 
lich. Er fand das Gemeinsame heraus und gab ihnen den ge- 
meinsamen Namen Germanen. 

Wenn wir nun die Volksseele dieser germanischen Vol- 
kerschaften priifen, tritt uns der Unterschied zwischen 
ihnen und den Griechen und Romern entgegen. Bei der Bil- 
dung dieser seelischen Eigenschaften handelt es sich um 
einen wichtigen Zeitunterschied. Die griechische Kultur 
mit ihrer unvergleichlichen Kunst bestimmt einen beson- 
deren Punkt in der Menschheitsentwickelung. Wir sahen 
dort vor der Eroberung durch die spater eindringenden 
Hellenen ein uraltes Volk, ungefahr gleich den spateren 
Germanen, die Pelasger, die in einer Gemeinschaft von 
freien Menschen lebten. Dann nach der Einwanderung der 
Hellenen fanden wir die zwei Bevolkerungsschichten, Er- 
oberer und Eroberte, diesen Gegensatz von Freien und 
Unfreien. Aus der Volkerwanderung und der Eroberung 
ging die griechische Herrschaft hervor. Hieraus ergibt sich, 
dafi nur ein kleiner Teil der Bevolkerung teil hatte an den 
Giitern der Kultur. Es ergibt sich ferner daraus die niedrige 
Wertung der Arbeit; selbst die kiinstlerische war des freien 
griechischen Burgers unwiirdig. Griechenland ging unter 
an dieser Geringschatzung der Arbeit. Diese in vielen 
Punkten unerreichte Kultur der Griechen war eine Kultur, 
die nur moglich war unter Eroberern. Der romische Cha- 
rakter bildete sich wahrend der Eroberung; die Geschichte 
des Romerreiches ist eine Geschichte von fortwahrenden 
Eroberungen; als es nichts mehr erobern konnte, ging es 
zugrunde. 

Der germanische Charakter pragte sich in alien seinen 
wesentlichen Bestandteilen vor der Eroberung aus, und er 



hat sich von den Beriihrungen mit anderen Volkern nicht 
unterjochen lassen. Seine Entwickelung stand fest vor dem 
Kampf. So sehen wir die Bildung des Volksgeistes sich voll- 
ziehen bei den Griechen nach } bei den Romern wahrend 
und bei den Germanen vor den grofien geschichtlichen 
Kampfen. Wollen wir diese Charakterziige betrachten, so 
werden wir diese Volkergruppen in Mitteleuropa genauer 
unterscheiden miissen. Drei Volker kommen in Betracht. 
In Spanien, Frankreich, Irland und Siiddeutschland finden 
wir zunachst das alte Volk der Kelten. Es wird aus dem 
grofken Teil seiner Wohnsitze durch die Germanen ver- 
trieben. Von Osten her riicken die Slawen nach und dran- 
gen die Germanen weiter. So finden wir bei den Germa- 
nen, die von den beiden anderen Vjplj^'^iijjwpageben sind, 
eine starke Vermischung mit ''lo^^^^^^li^^Uwischem 
Blut. Auch auf die ganze Kultur des Mittelalters wirkt diese 
Mischung des germanischen mit dem keltischen und slawi- 
schen Element. 

Wenn man in feme Zeiten zuriickgeht, so zeigt sich uns 
eine grofte merkwiirdige Kultur der alten Kelten. Riihrig, 
energisch, geistig angeregt, zu revolutionaren Impulsen ge- 
neigt - so zeigt sich auch noch in spateren Zeiten das kelti- 
sche Blut. Grofiartige Dichtungen, Gesange, Wissenschafts- 
vorstellungen verdankt man dem keltischen Volke. Zu den 
Sagen, die im spateren Mittelalter von den deutschen Dich- 
tern bearbeitet wurden - Roland, Tristan, Parzival und so 
weiter — , haben die Kelten die Anregung gegeben. Dieses 
merkwiirdige Volk ist fast verschwunden, nachdem es im- 
mer weiter nach Westen verdrangt wurde oder sich mit den 
Germanen vermischte. 

Der germanische Charakter zeigt als Hauptmerkmale 
Tapferkeit, Wanderlust, ein starkes Naturgefuhl. In ihm 
entwickeln sich die hauslichen und kriegerischen Tugen- 



den, die praktische Tuchtigkeit, die auf das Niitzliche ge- 
richtete Tatigkek. Die Hauptbeschaftigungen der Germa- 
nen bilden Jagd und Viehzucht. Wenige einfache Dichtun- 
gen, die von einem alteren Volke iibernommen sind, haben 
die Germanen. Der germanische Charakter bleibt in seinen 
Grundeigenschaften erhalten aus barbarischer Urzeit. In- 
nerhalb des germanischen Elementes entstehen die treiben- 
den Krafte entgegengesetzter Entwickelung. Eine merk- 
wiirdige Wandlung vollzieht sich innerhalb des Mittelal- 
ters. Gnechenland hatte seine hohe Kunst, Rom hatte sein 
Rechtsleben und den Staatsbegriff ausgebildet. Die einfa- 
chen Rechtsanschauungen der Germanen gingen von ganz 
anderen Voraussetzungen aus. In Rom waren die Besitzver- 
haltnisse, besonders in bezug auf Grund und Boden, das 
Ausschlaggebende. Die komplizierten Rechtsbegriffe des 
romischen Staates gehen hervor aus dem Bestreben, Ein- 
klang zu bringen zwischen den freien Burgern und den Be- 
sitzern des Bodens. Alle die Kampfe zwischen den Plebe- 
jern und Patriziern, die Kampfe der Gracchen, selbst die 
Parteikampfe der spateren Republik, waren Kampfe fur das 
Recht des freien Burgers gegeniiber den durch den Grund- 
besitz auch im Besitze der Macht Befindlichen. Formell 
stand jedem romischen Burger das gleiche Recht auf den 
Staat zu. Ja, selbst in den spateren Zeiten des Kaisertums 
besafien nominell die Kaiser das Recht an den Staat, indem 
sie das Recht aller freien Burger in ihrer Person vereinigten 
und es an ihrer Stelle ausubten. 

Den einfachen Rechtsanschauungen der Germanen wa- 
ren solche kunstvolle Begriffe fremd. Der besondere Wert 
des freien Burgers kam zu keiner rechtlichen Anerken- 
nung. Was sich aus diesen Anschauungen heraus entwickel- 
te, war das Faustrecht, das Recht des Starkeren; der war der 
Machtige, der sein Recht durch seine Kraft geltend machen 



konnte. Zunachst war es die physische Kraft, die sich be- 
hauptete; da mufite sich jeder fiigen und ftigte sich auch 
dem Starkeren. Die Frucht dessen aber, was sich im germa- 
nischen Zeitalter vorbereitet hatte, tritt spater hervor als 
das Recht der freien, durch nichts als durch die selbsterwor- 
bene Tiichtigkeit bedingten Personlichkeit. Es pragt sich 
dies aus in der Stadtegriindung. Diese Kultur der Stadte, die 
sich im 11. Jahrhundert im ganzen westlichen Europa voll- 
zieht, stellt eine bedeutsame Erscheinung dar. Woraus wa- 
ren sie entstanden? Daraus, daft die, welche sich bedriickt 
fiihlten von ihren Grundherren, eine Statte suchten, wo sie 
das, was sie ihrer Tatigkeit, ihrer personlichen Geschick- 
lichkeit verdankten, ungestort geniefien konnten. Der freie 
Burger des alten Rom fufite auf einem Titel. Wer ihn hatte, 
hatte dadurch das Recht. Im Mittelalter gait nicht ein Titel 
des Burgers, sondern nur das, was man sich erwarb. In den 
Kampfen, die die Stadte mit den Fiirsten und Rittern um 
ihre Freiheit und Unabhangigkeit fuhrten, driickt sich 
nichts anderes aus als der Kampf der freien Personlichkeit. 
So war es nicht im alten Griechenland, nicht im alten Rom. 
Das war ein bedeutsames Ubergangsstadium. 

Was war denn der Grund, dafi sich die Leute in den Stad- 
ten zusammenfanden? Das materielle Interesse war es zu- 
nachst, das Freiseinwollen von den Bedriickungen; so zeig- 
te sich auch zunachst die Tatigkeit auf den Nutzen, auf den 
materiellen Erwerb gerichtet. 

Auch aus der Stadtekultur - aber nicht aus diesen neuen 
Begriindungen - in Italien, auf dem Schauplatz einer alten 
absterbenden Kultur, geht die gewaltige Dichterpersonlich- 
keit des Mittelalters, Dante hervor. In den germamschen 
Stadten entstehen zunachst praktische Erfindungen: der 
KompaE, das Schiefipulver, bis zu dem bedeutsamen Ereig- 
nis der Erfindung der Buchdruckerkunst. Alles dies, was 



hinuberfiihrt in eine vollige Umgestaltung der Verhaltnisse, 
war herausgeboren aus dem, was man praktisch errungen 
hatte. Das mag auf den ersten Blick sehr weit hergeholt er- 
scheinen, aber, wie schon betont, liegen in der Geschichte 
Ursache und Wirkung weit auseinander. Moge dies ein 
Beispiel erlautern: 

Franz Palacky, der tschechische Historiker, hat im Jahre 
1846 in seinem Werke uber das tschechische Volk im 15. 
Jahrhundert auf die Reformbewegung des Mittelalters hin- 
gewiesen, auf diese Bewegungen, die lange vor der soge- 
nannten Reformation die Gedanken einer Neugestaltung 
der Kirche versuchten. Besonders an der hussitischen Bewe- 
gung, die Palacky, der selber an der Revolution 1848 tati- 
gen Anteil nahm, mit grofier Sympathie behandelte, macht 
er auf die Stromungen aufmerksam. Er charakterisiert in 
ihnen in ganz eigentiimlicher Weise, was sich in den Her- 
zen ausgebildet hat in der Stadtekultur. Es ist eine den kelti- 
schen, germanischen und slawischen Stammen gemeinsame 
Eigenschaft. Wir verstehen sie, wenn wir die Sagen und Lie- 
der dieser Volker betrachten. Von alten griechischen und 
romischen Sagen unterscheiden sie sich dadurch, dafi sie 
schildern, was das Menschenherz leiden kann und was es 
erlost. 

Es ist dies der Sinn fur das Tragische. Bei dem griechi- 
schen und romischen Volk war derjenige der Held der 
Sage, der aufierlich siegte, nicht der, welcher seine Seele auf- 
recht erhielt. Immer war das Herz des Volkes bei denjeni- 
gen, die aufterlich vom Gliick begiinstigt waren. Anders bei 
den germanischen Volkern. Fur die Helden, die aufierlich 
untergehen, aber die Seele aufrecht erhalten, schlagt das 
Herz der germanischen und slawischen Volker. Sie leben in 
der Seele, im Geiste. Helden wie Siegfried und Roland oder 
der Konigssohn Marko werden in der Dichtung dieser Vol- 



ker gefeiert. Nicht der auftere Sieg dieser Helden, sondern 
ihr Mut im Leiden und Untergang, ihr ungebeugter Geist 
wird gefeiert. Alles tritt zuriick vor- dem Rechte des Geistes 
und der Seele. Im Imperium Romanum sehen wir die Tap- 
ferkeit, das Rechtsbewufitsein, in Griechenland die Kunst 
bliihen; das Leben der Seele tritt uns bei den Germanen ent- 
gegen. Sie hatten keine Bilder ihrer Gotter; nicht wie bei 
den Griechen treten uns herrliche Bilder ihrer Gottergestal- 
ten plastisch entgegen. Ihre Seele hat gearbeitet an den Bil- 
dern ihrer Gotter, tief im Innern des Gemiites bildete der 
Deutsche sich seinen Gott. 

Aus dieser Volksanlage entsprang auch der reformatori- 
sche Gedanke. Selbst mittatig sein an dem, was sein Glaube 
sein sollte, das verlangten diese Volker. Hundert Jahre vor 
Luther hatte Wiclif'm England eine reformatorische Bewe- 
gung eingeleitet. Der Volksgeist fordert, selbst die Bibel in 
die Hand zu nehmen. Aus diesem Geiste stammte auch die 
hussitische Bewegung. Schon im friihen Mittelalter waren 
Ansatze in dieser Richtung vorhanden. Kaiser Heinrich II. 
aus sachsischem Geschlecht, dem die katholische Kirche 
spater den Namen «der Heilige» gegeben hat, forderte eine 
«ecclesia non romana». Militsch, der nicht genug gewiirdigte 
Gelehrte, der im Kerker von Prag schmachtete, schrieb sein 
Buch iiber den Antichrist. Die romische Kirche mit ihrer 
au&eren Organisation war ihm der Antichrist. Das, was in 
solchen Forderungen und Bewegungen zutage trat, die Los- 
losung vom aufieren Zwang, die innerliche Vertiefung, das 
nimmt Palacky fur das slawische Volk in Anspruch; den 
Gedanken der Humanitat wie ihn Herder ausgesprochen 
hat, er sieht ihn dargestellt in den Brudergemeinden wie sie 
auf bohmischem Boden sich entwickelten. Tief in unserem 
Volk liegt es, eine zwanglose Organisation als Ideal zu 
betrachten. 



Nicht nach, nicht wahrend der Eroberung bildete es sei- 
nen Volkscharakter, sondern der Zug, der vor dieser Zeit 
in ihm lag, hat sich durch dieses Stadium hindurch erhalten 
und zu diesem Ideale endlich sich entwickelt. Der Freiheits- 
gedanke bildet sich wahrend des Mittelalters aus, trotz all 
der Unterdriickung, trotz all der Gegenstromungen, die 
das ausmachen, was man das dunkle Mittelalter nennt. Mag 
auch vielen das Mittelalter heute als eine finstere Zeit er- 
scheinen, so hat sich doch im Mittelalter das entwickelt, 
was spater die Dichter suchten: das Freiheitsbewufttsein, 
fur welches das 18. Jahrhundert kaum mehr als die Defini- 
tion fand, um das man im 19. Jahrhundert erbittert kampf- 
te, und welchem das Ringen der Gegenwart gilt. 

Freimachen miissen wir uns von den Zwangsverhaltnis- 
sen, in denen auch heute noch die Menschen gebunden 
sind. Das Bewufttsein, daft der Mensch dem Menschen in 
bezug auf das Freiheitsgefiihl gleich sei, hat sich immer 
mehr verbreitet. Das haben die Menschen begriffen, daft 
rechtlich ein Mensch nicht Sklave, nicht Horiger sein kon- 
ne. Rechtlich fuhlt sich der Mensch heute frei. Aber eine 
andere Form der Unfreiheit hat sich noch erhalten, die ma- 
terielle. Unfrei war im alten Griechenland der Unterdriick- 
te, der Uberwundene, der Sklave. Unfrei war im alten Rom 
der nicht zum Burgertum Gehorende, der keinen Teil an 
dem Staate hatte. Im Mittelalter waren die Menschen unfrei 
durch die physische Gewalt. Alle diese For men haben sich 
nicht erhalten konnen, erhalten hat sich nur die okonomi- 
sche Unfreiheit. 

Immer deutlicher gibt sich das Bestreben nach voller Be- 
freiung der Personlichkeit kund. Der alte Grieche legte 
Wert auf die Vornehmheit der Rasse, der Romer auf die 
Vornehmheit der Person. Bei dem Germanen lag der Wert 
in der Kraft und Starke der Person. Der moderne Mensch 



legt Wert auf den Kapitalismus, auf den Schein des Besitzes. 
So weist uns die Entwickelung darauf hin, dafi immer mehr 
die Schranken fallen, die von aufien die Personlichkeit 
hemmen. Dann wird der Boden frei sein fur das neue Ideal. 
Dafi der freie Mensch aus dem Geist heraus einen neuen 
Wert erhalt, lehrt uns die Geschichte. Der idealerfiillte 
Mensch wird derjenige sein, der befreit ist von all diesen 
For men der Unterdriickung, der gelost von der Erden- 
schwere, seinen Blick aufwarts richten kann. Dann erst 
wird das Wort Hegels zur vollen Wahrheit werden: Die Ge- 
schichte ist der Fortschritt der Menschheit zum Bewufit- 
sein der Freiheit! 



Zweiter Vortrag, 25. Oktober 1904 



Griindlich verandert hat sich das Bild Mitteleuropas von 
der Zeit etwa vom Jahre 1 bis zum 6. Jahrhundert n.Chr. 
Diese Anderung bedeutet einen vollstandigen Ersatz der 
Volker, die an der Weichsel, Oder und Elbe gelebt haben, 
durch andere, und daher ist es sehr schwer, sich ein Bild 
dieser Volker zu machen, iiber ihre Sitten, uber ihre Le- 
bensart etwas zu erfahren. Man mufi zu einer eigenartigen 
Methode greifen, um ein Bild jener Volker zu finden. In 
den Beschreibungen des Tacitus in der Germania ergibt 
sich uns ein Bild der damaligen Gegend. Urkunden sind 
uns sonst aus jener Zeit nicht aufbewahrt, und wir miissen 
die Sagen der nordlichen Germanen heranziehen, um unse- 
re Vorstellungen zu erganzen. Etwas sehr Bezeichnendes 
fur die Anschauungen des Romers damaligen Verhaltnissen 
gegeniiber ist es, was Tacitus uber diese Volker sagt. Er ist 
der Meinung, sie seien die Urbewohner jenes Landes, denn 
er kann sich nicht vorstellen, dafi in diese unwirtlichen Ge- 



genden andere Volker sich hatten wenden konnen. Er 
nennt jene Volkerstamme, die am Rhein, an der Lippe, an 
der Weser, an der Donau und in Brandenburg wohnen; nur 
diese sind ihm bekannt. Von ihnen erzahlt er eigentiimli- 
che Ziige, sie fafk er zusammen ihrer Gleichartigkeit halber 
mit dem Namen Germanen. Sie selbst fuhlten sich als viele 
verschiedene Stamme und werden bei den Kampfen mit 
den Romern mit den mannigfachsten Namen genannt, von 
denen sich nur wenige in den spateren Zeiten erhalten ha- 
ben, wie die Sueven, Langobarden, Chatten, Friesen und so 
weiter. 

Sie leiten sich urspriinglich her von einem Tuisto, dem 
sie gottliche Verehrung zollen, die sie durch Kriegsgesange 
zum Ausdruck bringen. Der Sohn des Tuisto war Mannus, 
nach dessen drei Sohnen sie ihre Hauptstamme benennen: 
Ingwaonen, Istwaonen und Herminonen. Wenn wir diese 
Mitteilung des Tacitus mit den Mythen eines anderen ari- 
schen Volkes vergleichen, so finden wir auch hier in der 
heiligen Sprache der Inder im Sanskrit die gleiche Bezeich- 
nung Manu fur ubermenschiiche Fuhrer. Das weist uns auf 
eine Stammesverwandtschaft, ja, wir konnen die gleichen 
Gottheiten verfolgen bei all den indogermanischen Volker- 
schaften. So erzahlt Tacitus, dafi der Held der griechischen 
Sage, Herkules, auch von den Germanen verehrt wurde 
und bei ihnen den Namen Irmin fuhrte. Wir wissen, dafi 
bei den siidlichen indogermanischen Stammen eine Sage 
lebte, welche in Griechenland eine kiinstlerische Ausgestal- 
tung fand: Die Sage von Odysseus. Tacitus fand in der 
Nahe des Rheins eine Kultusstatte, die dem Odysseus und 
seinem Vater Laertes geweiht war. Wir sehen also, daft die 
Kultur der Germanen um diese Zeit verwandt war mit der 
Kultur, die wir im 8. und 9. Jahrhundert v.Chr. in Grie- 
chenland antreffen. So sehen wir in Griechenland spater die 



Ausbildung einer Kultur, die in Deutschland auf niedrige- 
rer Stufe stehengeblieben ist. 

All das weist auf eine urspriingliche Verwandtschaft. Jene 
Volker, die spater in Deutschland, Griechenland, Rufiland 
wohnten, hatten wahrscheinlich ihre friihere Heimat nord- 
lich vom Schwarzen Meer. Von dort wanderte ein Stamm 
nach Griechenland, ein Stamm nach Rom, ein dritter nach 
Westen. Die urspriingliche Kultur aller dieser Volker hat 
sich in dieser Form bei den Germanen erhalten, weiter aus- 
gebildet wurde sie bei den Kelt en. Nichts erzahlt uns Taci- 
tus von den Sitten und Gebrauchen dieses merkwiirdigen 
Volkes. An die Sagen und Lieder, die in der alteren und jiin- 
geren Edda spater in Island zusammengefafit wurden, miis- 
sen wir uns halten, dort lebt, was jenes Volk hervorge- 
bracht hat. Tacitus erzahlt uns weiter von den Gebrauchen 
der Deutschen bei ihren Volksversammlungen, die wir uns 
aber nur als Beratungen sehr kleiner Gemeinden vorzustel- 
len haben. Zu diesen versammelten sich alle Manner des 
Gaues, die Beratungen wurden bei Bier und Met gepflogen, 
und nun wird erzahlt, dafi die alten Deutschen trunken des 
Abends ihre Beschlusse fasten, diese aber wurden am nach- 
sten Morgen, wenn jene wieder nuchtern waren, revidiert 
und hatten erst dann Giiltigkeit. Wie wir aus den Scholien 
zur Ilias erfahren, bestand bei den Persern dieselbe Sitte. 
Auf einen Urstamm der Arier miissen wir also schliefien, 
auf eine Verwandtschaft aller dieser Volker. 

Besonders grofie Ahnlichkeit zeigt sich bei den nordli- 
cher wohnenden germanischen Volkern in eigentumlichen 
Religionsformen, die zwar in dem Grundcharakter denjeni- 
gen der siidlichen ahnlich sind, aber doch eine weit grofiere 
Ubereinstimmung mit denjenigen der Perser zeigen. Nach 
der Anschauung der nordlichen Germanen bestanden ur- 
spriinglich zwei Reiche, die durch einen Abgrund vonein- 



ander getrennt waren, ein Reich des Feuers, Muspelheim, 
und ein Reich des Eises, Niflheim. Durch die Funken, die 
von Muspelheim heriiberflogen, entstand in dem Abgrund 
das erste Geschlecht der Riesen, von denen Ymir der her- 
vorragendste war. Dann entstand eine Kuh, Audhumbla, 
die beleckt das Eis, und aus ihm hervor entsteht eine starke 
menschliche Gestalt. Von dieser stammen die Gotter 
Wotan, Wili und We, deren Namen Vernunft, Willen und 
Gemiit bedeuten. Dieses zweite Gottergeschlecht hiefi 
Asen. Ihr Ursprung wurde von dem alteren der Riesen 
abgeleitet. 

Auch hier ergibt sich ein wichtiger sprachiicher Zusam- 
menhang, denn die Gotter der Perser wurden beinahe 
gleichlautend Asuras genannt, was gleichfalls auf eine iiber 
alle diese Volker hingehende Verwandtschaft deutet. Ein 
weiterer wichtiger Hinweis findet sich in einer alten persi- 
schen Beschworungsformel oder Beschworungsdichtung, 
die uns uberliefert ist. Sie weist auf Wandlungen des Volks- 
gemutes hin, auf alte Gotter, die abgesetzt und von anderen 
verdrangt worden sind. Abgeschworen wird der Dienst der 
Devas, beschworen der Dienst der Asuras. Es tritt hier die 
Ahnlichkeit der Devas mit den Riesen hervor, die von den 
Asen bezwungen wurden. 

Ferner erzahlt die nordgermanische Sage, wie die drei 
Gotter am Meeresstrande eine Esche und eine Erie fanden 
und aus ihnen das Menschengeschlecht erschaffen haben. 
Auch die persische Mythe lafit das Menschengeschlecht aus 
einem Baume hervorgehen. Bei den Juden finden wir An- 
klange an diesen Mythus in der Erzahlung vom Baume des 
Lebens im Garten des Paradieses. So sehen wir von Persien 
iiber Palastina himiber nach Skandinavien Spuren der glei- 
chen mythischen Vorstellungen. 

So haben wir damit bei gewissen Volkern einen gemein- 



samen Grundcharakter nachgewiesen. Dabei ergeben sich 
wiederum Unterschiede zwischen einem siidlicheren und 
einem nordlicheren Zweige des gemeinsamen Hauptstam- 
mes. Zu dem siidlichen gehoren die Griechen, Lateiner und 
Inder, zu dem nordlicheren die Perser und Germanen. Se- 
hen wir also, mit was fur Volkern wir es in Deutschland 
jetzt zu tun haben. Sie treten uns so entgegen, daft wir wohl 
glauben mussen, sie haben sich Charakterziige bewahrt, die 
die Griechen und Italer schon langst abgestreift hatten, und 
zwar die Griechen nach> die Romer wdhrend der Eroberung 
ihres Reiches; wahrend diese nordlichen Volker ihre we- 
sentlichen Charakterziige und Eigenschaften vor jener Er- 
oberung ausgebildet hatten. Urwuchsige Eigenschaften wa- 
ren es, die diese Volker sich bewahrt hatten. Sie waren 
nicht durch jene Zwischenstufe hindurchgegangen, die jene 
siidlicheren Volker inzwischen durchgemacht hatten. Wir 
haben es also hier mit einem Zusammenstofi eines konser- 
vativ gebliebenen, mit einem verwandten, aber zur Kultur- 
hohe gelangten Volke zu tun. 

Zur Zeit der Entstehung des Christentums, das so grofie 
Bedeutung fur sie erlangen sollte, standen die Germanen 
auf jener Kulturstufe, wie wir sie von den Griechen bei Ho- 
mer geschildert finden. Den Fortschritt in der Kultur und 
Gesittung, der dazwischen liegt, hatten sie nicht mitge- 
macht. In dem ersten Jahrhundert n.Chr. schildert Tacitus 
die Germanen der Grenzlander an der Donau, am Rhein 
und an der Lippe. Diese Volker zeichnen sich durch Wan- 
derlust, Freiheitsliebe, sowie Jagd- und Kriegslust aus. Die 
hauslichen Angelegenheiten lagen in den Handen der Frau- 
en. Nun tritt uns hier eine Gesittung entgegen und eine 
Gestaltung der Gesellschaft, die bei den Griechen langst 
entschwunden war, die sich nur dort erhalten konnte, wo 
die einzelnen Glieder eines Stammes noch durch Blutsver- 



wandtschaften aneinander gebunden waren. Daher die vie- 
len Stamme. Bei ihnen, die ihrer Abstammung von der glei- 
chen Familie sich bewufk waren - denn geregelte Fami- 
lien, keine Horden waren es entwickelte sich aus den 
einzelnen Familien die Stammesverwandtschaft. Daher wa- 
ren auch die Kriege, die sie fuhrten, fast stets Kriege gegen 
Blutsfremde. 

Gegen Ende des 4. und im 5. Jahrhundert sehen wir nun 
alle diese Volker gezwungen, ihre Wohnsitze zu wechseln 
und sich neue zu suchen. 

Die Epoche der Volkerwanderung hatte begonnen. Die 
Hunnen brechen herein. Damit dammert auf die Kenntnis 
der Volker, die weiter nach Osten wohnen, der Alanen, der 
Gepiden und so weiter und vor allem der Goten. Dieses 
Volk, das sich in West- und Ostgoten teilte, hatte bereits 
das Christentum angenommen. Es ist dieses Volk fur uns 
von besonderer Wichtigkeit durch die Art seiner Auffas- 
sung des Christentums. Wahrend das Volk, das spater das 
Christentum von Westen nach Osten ausbreitete, die Fran- 
ken, es mit Gewalt den iibrigen Volkern aufzwang, waren 
die Goten voller Toleranz. Fur die hohe Kulturstufe, die sie 
schon erreicht hatten, spricht der Umstand, dafi wir einem 
Bischof der Goten, Ulfilas oder Wulfila, die erste Bibehiber- 
setzung verdanken, den sogenannten silbernen Kodex, der 
in Uppsala aufbewahrt wird. 

Diese Goten, deren Christianisierung von Osten her ge- 
schehen war, waren nicht solche Christen wie diejenigen, 
deren Bekehrung spater vom Westen aus erfolgte; nicht wie 
die Franken, die zur Zeit Karls des Grofien mit Waffenge- 
walt den Sachsen das Christentum aufdrangten. Sie waren 
nicht athanasische, sondern arianische Christen. All diese 
ostlichen germanischen Volkerstamme bekannten sich zu 
dem arianischen Glauben, einer Anschauung, die auf dem 



Konzil von Nicaa von den Anhangern des Athanasius fiir 
ketzerisch erklart und verfolgt wurde. 

Die arianischen Christen nahmen an, dafi der Gott in je- 
der Menschenbrust wohne. Daher glaubten die Goten an 
eine Vergottlichung des Menschen, wie Christus, der ihnen 
vorangegangen sei, sie den Menschen gezeigt hatte. Diese 
Anschauung war verknupft mit einer tiefen Bildung des 
Gemiites. Die Goten waren von grofiter Duldsamkeit ge- 
gen jede andere religiose Anschauung. Zwischen zwei 
christlichen Religionen, die voneinander so verschieden 
waren, war kerne Verstandigung moglich. War die absolute 
Toleranz eine Eigenschaft dieser Goten, fiel es ihnen nicht 
ein, einem anderen einen Glauben aufzuzwingen, so tritt 
uns hierin schon der Unterschied entgegen von der Art und 
Weise, wie zum Beispiel bei Karl dem Grofien und Chlod- 
wigj den Anhangern des athanasischen Glaubensbekennt- 
nisses, das Christentum zu politischen Zwecken ausge- 
beutet wurde. 

Die Arianer sahen in Christus einen Menschen, hoch- 
entwickelt iiber alle anderen Menschen zwar, aber Mensch 
unter Menschen. Ihr Christus gehorte zu den Menschen 
und wohnte in des Menschen Brust. Der Christus der atha- 
nasischen Christen ist Gott selbst, der hoch iiber den 
Menschen thronte. 

Athanasius hat gesiegt, dadurch ist die Kulturentwicke- 
lung wesentlich beeinfluftt worden. 

Die Germanen waren rings eingezwangt von fremden 
Volkern: im Siiden und Westen von den Romern und Gal- 
liern — kelto-germanischen Volkerschaften -, wahrend 
von Osten her fortwahrend neue Volkerzuschube stattfan- 
den. Die ersten christlichen Germanenstamme hatten 
nichts anderes gekannt als absolute Toleranz, die Franken- 
Christen brachten ein aufgezwungenes Christentum. Das 



fuhrte zu einer Anderung der ganzen Gemutsart. An der 
Entwickelung dieses Teiles der Germanen hangt nun im 
wesentlichen die Fortentwickelung der Kultur. 

Eine tiefgreifende Anderung der Rechtsverhaltnisse hatte 
sich allmahlich vollzogen. Einigermafien tritt Ruhe und 
Sefihaftigkeit mit dem Ende des 5. Jahrhunderts ein. Durch 
die fortgesetzten Nachschiibe von Osten haben sich aus 
den friiher genannten, fortwahrend untereinandergeruttel- 
ten Volkerschaften, von denen sich nur wenige selbst den 
Namen bewahrt haben - Chatten und Friesen und so wei- 
ter - groftere Volkergemeinschaften gebildet. Durch die 
Auflosung der alten Blutsverbande war ein anderes Motiv 
der Zusammengehorigkeit geschaffen. An die Stelle des 
Blutes trat das Band, welches den Menschen verkniipft mit 
dem Grund und Boden, den er bebaut. 

Stammeszusammengehorigkeit wurde gleichbedeutend 
mit Lokalzusammengehorigkeit. Es entstand die Dorfge- 
meinde. Nicht mehr das Bewulksein der Blutsgemein- 
schaft, sondern die Zusammengehorigkeit mit dem Boden 
band die einzelnen Glieder der Gemeinde untereinander. 
Es fuhrte dies zu einer Umgestaltung der Eigentumsver- 
haltnisse. 

Urspriinglich war alles Gemeineigentum gewesen. Jetzt 
tritt die Scheidung zwischen Gemeineigentum und Privat- 
eigentum hervor. Doch ist vorerst noch alles Gemeineigen- 
tum, was Gemeineigentum sein kann, Wald, Weide, Was- 
ser und so weiter. Es bildete sich dann eine Zwischenstufe 
zwischen dem Gemein- und Privatbesitz, die sogenannte 
Hufe. Die Benutzung dieses halb privaten, halb gemeinsa- 
men Eigentums unterlag dem Beschlusse der gesamten 
freien Bewohner einer sogenannten Hufe, einer Gemeinde, 
und in jenen friiheren Zeiten waren fast alle Bewohner der 
Gemarkung frei. 



Das steht in schroffem Gegensatz zum eigentlichen Pri- 
vateigentum: Waffen, Geraten, Gewandern, Garten, Vieh 
und so weiter, allem, was sich der einzelne personlich er- 
worben hatte. Dieser begrenzte Charakter driickte sich dar- 
in aus, dafi das Privateigentum mit der Person des Besitzers 
eng verbunden war. Man gab daher dem Toten seine Waf- 
fen, Pferde, Hunde und so weiter mit ins Grab. Ein An- 
klang an diesen alten Gebrauch ist es, wenn noch heute 
beim Begrabnis eines Fiirsten ihm Orden, Krone und so 
weiter nachgetragen, sowie sein Pferd nachgefuhrt wird. 

Auch bei einem Volke, das in mancher Weise Ahnlich- 
keit mit den alten Germanen aufweist, bei den Chinesen, 
gibt man den Toten die Gegenstande, die ihm personlich 
gehorten, mit ins Grab, wobei man sich heute allerdings 
mit Papiermodellen begniigt. 

So sehen wir also, was sich aus bestimmten Verhaltnissen 
herausgebildet hatte: Ubergang von der Stammes- zur 
Dorfgemeinschaft. Wir begreifen damit weitere Umwand- 
lungen. Wir verstehen, warum Tacitus nicht von den Asen 
spricht, sondern von Tuisto und seinem Sohne Mannus. Er 
spricht von Volkern, die noch nicht zu der Dorfgemein- 
schaft gekommen sind. Die Asengotter gehoren einer hohe- 
ren Kulturstufe an. Andere Volker kamen von Norden und 
brachten Vorstellungen mit, die sich dort entwickelt hat- 
ten. Die pafken nun fur die inzwischen erreichte hohere 
Kulturstufe. Wie weit geht der Mensch mit Vorstellungen, 
wie sie uns in Tuisto, in Mannus entgegentreten? Er bleibt 
beim Menschen, geht nicht liber sich selbst hinaus. Es ware 
etwas Fruchtloses gewesen, bei diesen Stammen den Wo- 
tansdienst einzufuhren. Der Wotansdienst geht bis in das 
Universum; der Mensch sucht seinen Ursprung im Schofie 
der Natur. Erst auf dieser spateren Kulturstufe konnte sich 
der Mensch zu diesen Religionsvorstellungen erheben. Er 



ist sefihaft geworden, daher versteht er den Zusammenhang 
mit der Natur. So haben wir gesehen, wie die primitive 
Kultur der sudlicheren Germanen von Norden beeinflufit 
wird, und wie unterdessen im Siiden bei verwandten Vol- 
kern sich hohe Kulturen entwickelt hatten. 

Wir werden weiterhin sehen, unter welchen Bedingun- 
gen die siidlichen Kulturen sich iiber die Germanen ergie- 
£en werden. Eine interessante Ubersicht bietet sich uns 
dar, eine tiefgehende urspriingliche Verwandtschaft der 
verschiedenen Volker, ein innerer Zusammenhang, der ihr 
Wesen bestimmt. Wir sehen dann aufiere Einfliisse, die den 
Charakter andern. So stellen sich uns Ursache und Wir- 
kung dar. 

Aus der Vergangenheit konnen wir so die Gegenwart 
verstehen lernen. Ewige Wandelbarkeit beherrscht nicht 
nur die Natur, sondern auch die Geschichte. Wie konnten 
wir getrosten Mutes in die Zukunfc blicken, wenn wir 
nicht wiifiten, dafi auch die Gegenwart sich andert, daft wir 
sie in unserem Sinne gestalten konnen, daft auch hier das 
Dichterwort sich erfullt: 

Das Alte sturzt, es andert sich die Zeit, 
und neues Leben bliiht aus den Ruinen. 



Dritter Vortrag, 1. November 1904 

Man braucht nur eine einzige Tatsache zu erwahnen von al- 
ien, die in derselben Weise sprechen, um zu sehen, was fur 
durchgreifende Veranderungen im 5. Jahrhundert vor sich 
gegangen sind. Die Westgoten finden wir am Ende des 4. 
Jahrhunderts im Osten der Donau; ein Jahrhundert spater 



zeigt sie uns die Karte in Spanien. Ebenso wie dieses Volk 
von einem Ende Europas zum anderen gezogen ist, so ist es 
mit vielen anderen. Sie zogen in Lander, wo sie andere 
Kulturen antrafen und andere Sitten annahmen. 

Wir miissen einen Ruckblick auf die vorhergegangene 
Geschichtsepoche werfen, um den Umschwung zu verste- 
hen, den hundert Jahre in Mitteleuropa hervorriefen. Wir 
finden, wenn wir den Berichten der Romer folgen, langs 
des Rheins kriegerische Stamme, deren Hauptbeschafti- 
gung aufier den Kampfen die Jagd bildet. Weiter nach 
Osten zu finden wir Ackerbau und Viehzucht bei den Ger- 
manen, und noch weiter im Nordosten Volksstamme, die 
am Meere wohnen und von denen die Romer berichten, als 
waren sie etwas ganz Dunkles und Nebelhaftes. 

Es wird erzahlt, dafi dieses Volk die Sonne anbete und 
seinen Glauben daher habe, dafi es die Sonnengottin aus 
dem Meere hervorgehen sehe. Von dem Volke, das in die- 
sen Gegenden in der Mark Brandenburg wohnte, den Sem- 
nonen, wird gesagt, dafi sich ihr Gottesdienst durch seine 
blutigen Opfer auszeichnete. Bei ihnen waren zwar meist 
nicht Menschen, sondern Tiere den Gottern dargebracht 
worden, der Opferdienst hatte aber einen grausamen Cha- 
rakter getragen, der ihn von dem der iibrigen Stamme un- 
terschied. Und noch manches sonst ware zu schildern von 
dieser Zeit. 

Es folgt dann zunachst eine verhaltnisma£ig ruhige Zeit. 

Allmahlich werden von den einzelnen Stammen die 
Grenzen des romischen Reiches uberschritten. Im 3. Jahr- 
hundert dringen zuerst vor gegen das romische Reich im 
Siidwesten die Burgunder und weiter nordlich die Franken, 
die in Gallien einfallen. Auch weiter nach Osten zu, an der 
Donau, riicken andere germanische Volkerschaften gegen 
das Reich. So mufiten die Romer mit ihrer hochentwickel- 



ten Kultur jener Volker sich erwehren. Wir finden hier 
einen grofien Unterschied der Kulturstufen. Bei den Ger- 
manen herrschte iiberall noch Naturalwirtschaft, bei den 
Romern ausgebildete Geldwirtschaft. Der Handel bei den 
Germanen war ein blofier Tauschverkehr. Handel mit 
Geld kannte man noch nicht. Es ist bezeichnend, wie in 
Frankreich - unter dessen Bevolkerung sich so viel kelti- 
sches Blut findet - nach der romischen Eroberung voll- 
standige Geldwirtschaft eingefiihrt war, diese bei der Er- 
oberung durch germanische Stamme durch die Natural- 
wirtschaft wieder verdrangt wurde. So zeigt sich uns der 
Zusammenstofi hochentwickelter Kultur mit barbarischen 
Volksstammen. 

Dann brechen die Hunnen herein. Im Jahre 375 erfolgt 
der erste Zusammenstoft zunachst mit den Ostgoten, die 
am Schwarzen Meer ihren Wohnsitz hatten, und den Heru- 
lern. Sie werden nach Westen gedrangt, und dadurch wer- 
den auch die Westgoten genotigt, aus ihren Wohnsitzen 
aufzubrechen. Wohin sollen sie gehen als in das romische 
Reich, das sie bis an die Donau uberfluten. Schon ist das 
Romerreich in ein ost- und westromisches Reich zerspal- 
ten, jenes mit Byzanz, dieses mit Rom als Hauptstadt. Der 
ostromische Herrscher weist den Westgoten Wohnsitze an, 
deren Besitz sie sich jedoch erst in der Schlacht bei Adrian- 
opel erstreiten mufiten. Dort in jenen Gegenden schrieb 
Ulfila seine Bibeliibersetzung. Doch bald muftten sie ihre 
Wanderung wieder fortsetzen. Nachruckende slawische 
Volkerschaften drangten sie weiter nach Westen. Unter 
ihrem Konig Alarich eroberten sie Rom und griindeten im 
5. Jahrhundert in Spanien das westgotische Reich. 

Die Ostgoten folgten ihnen nach und versuchten gleich- 
falls im Gebiete des romischen Reiches Wohnsitze zu be- 
grunden. Der germanische Stamm der Vandalen eroberte 



Spanien, schiffte dann nach Afrika hiniiber, wo er in der 
Gegend, wo einst Karthago gestanden hatte, ein Vandalen- 
reich begrtindete und von da aus durch Uberfalle Rom be- 
unruhigte. So ist der ganze Charakter dieser Volkerumwal- 
zung der, dafi in all die Teile, die die neue Gestalt des christ- 
lichen Roms bildete, sich diese Germanenvolker hinein- 
drangten. Aus dieser Art der Eroberung gingen Neugestal- 
tungen von ganz eigentiimlichem Wesen hervor. 

Auf dem Gebiete des vormaligen Gallien entsteht ein 
machtiges Reich, das Frankenreich, welches Jahrhunderte 
lang ganz Mitteleuropa seinen Stempel aufdriickte. In ihm 
bildete sich vornehmlich das, was man gewohnlich als «ro- 
misches Christentum» bezeichnet. Jene anderen Volker, 
die in raschem Siegeszuge sich Teile des romischen Reichs 
unterworfen haben, die Goten, die Vandalen, verschwin- 
den bald wieder vollig aus der Geschichte. Bei den Franken 
sehen wir ein machtiges Reich sich liber Europa ausdeh- 
nen. Welches sind die Griinde hierfiir? 

Um diese zu finden, mtissen wir einen Blick auf die Art 
werfen, wie diese Stamme ihr Reich ausdehnen. Es geschah 
das in der Weise, dafi ein Drittel bis zwei Drittel des Gebie- 
tes, in das sie eindrangen, unter die Eroberer verteilt wur- 
de. So erhielten die Anfuhrer grofie Landergebiete, welche 
sie nun fur sich bearbeiten liefien. Zur Arbeit wurde die un- 
terworfene Bevolkerung benutzt, die zum Teil zu Sklaven 
oder Unfreien geworden waren. So machten es die Westgo- 
ten in Spanien, die Ostgoten in Italien. Sie konnen sich den- 
ken, dafi dieses Verfahren unter den schon bestehenden 
Verhaltnissen, wo die Bevolkerung auf einer hoheren Kul- 
turstufe lebte, grofk Schwierigkeiten fand und sich auf die 
Dauer nicht zu halten vermochte. 

Anders in Gallien. Dort gab es grofie Walder und unbe- 
wohnte Landstriche. Auch hier verteilte man die eroberten 



Gebiete, und den Anfiihrern fielen gro£e Teile zu. Man 
war hier nicht in schon bestehende Verhaltmsse hineinge- 
drangt; es war die Moglichkeit zur Ausdehnung gegeben. 
Die Fiihrer wurden hier zu Groftgrundbesitzern und Herr- 
schern iiber die unterworfenen Volksstamme. Aber die 
Verhaltnisse ermoglichten es, dafi dies ohne zu grofien 
Zwang geschah. In den Zeiten vor der Volkerwanderung 
waren die Angehorigen eines Stammes einander im wesent- 
lichen gleich gewesen. Die Freiheit war ein gemeinsames, 
germanisches Gut, und in gewissem Sinne war jeder sein ei- 
gener, niemand verantwortlicher Herr auf seinem eigenen 
Grund und Boden. Diese Unabhangigkeit und Macht der 
Fiihrer dehnte sich nun dadurch aus, daft so viele Menschen 
von ihnen in Abhangigkeit gekommen waren. 

Dadurch waren sie in der Lage, sich selber besser zu be- 
schutzen, und kleine Besitzer begaben sich in den Schutz 
der grofieren. So entstand ein Schutzverhaltnis des Machti- 
gen gegen den weniger Machtigen. Die vielen kleinen Feh- 
den fuhrten viele kleine Besitzer, die sich selbst nicht aus- 
giebig genug verteidigen konnten, in ein Abhangigkeitsver- 
haltnis zu den Machtigeren. Sie gelobten Treue im Fall 
eines Krieges; andere traten Teile ihres Besitztums ab, oder 
bezahlten dem Schutzherrn einen Zins. Solche Abhangige 
hiefien Vasallen. Anderen wurde von den grofien Besitzern 
fur ihren Dienst in Kriegsfallen ein Besitz auf Widerruf ver- 
liehen: das Lehen. Der Machtige wurde der Lehnsherr, der 
andere Vasall. So bildeten sich auf die natiirlichste Weise 
der Welt gewisse Besitzverhaltnisse aus. 

Die Eroberungsziige der Goten hatten keine dauernde 
Wirkung. Diejenigen Volker, die sich hineingeschoben hat- 
ten auf Kulturboden, kamen zu nichts, ihre Macht war bald 
gebrochen. - Anders in Gallien. Hier, wo weite Gebiete 
noch auszuroden waren, konnte das Eindringen neuer 



Volksmassen im Kulturinteresse nur begriifk werden. Un- 
beengt waren die Gro£en im Reich der Franken in der Aus- 
bildung ihres Volkscharakters. 

Ausgeloscht sind die Goten und Vandalen, sie und all 
die germanischen Stamme, die in schon ausgebildete Wirt- 
schaftsgebiete gekommen waren. Bei den Franken haben 
wir die Unabhangigkeit von dem wirtschaftlichen Unter- 
bau, und die Franken driickten der Folgezeit den Charak- 
ter auf, namentlich auch dadurch, dafi das sich ausbildende 
Christentum den Boden fand, sich in solcher Freiheit auch 
auszubreiten. Wahrend die Westgoten urspriinglich ariani- 
sche Christen waren, wurden ihrer Eigenart andere Vor- 
stellungen eingeimpft; unter den ihrer Wesensart fremden 
wirtschaftlichen Vorbedingungen entwickelte sich das, was 
als Druck der materiellen Verhaltnisse angesehen werden 
kann. Nicht so war es bei den Franken. Innerhalb der Fran- 
kenstamme war es, wo die Kirche Grofigrundbesitzerin 
wurde. Unbeirrt durch die materiellen Verhaltnisse konn- 
ten sich diese Abte, Bischofe, Priester, Gelehrte dem Dien- 
ste der Religion widmen. Rein, wie es aus dem Wesen des 
Empfindens dieser Leute hervorging, bildete sich die eigen- 
artige Kultur dieses Christentums aus. Die geistigen Bestre- 
bungen innerhalb des freien Frankentums wurden gefor- 
dert durch das Hereinstromen des keltischen Elementes. 
Das Keltentum, dessen feuriges Blut wieder zum Durch- 
bruch kam, wurde zu Lehrern und Fuhrern der geistig we- 
niger regsamen Franken. Von Schottland und Irland her- 
iiber kamen keltische Monche und Priester in grower Zahl, 
um im Frankenreich ihren Glauben zu verkiindigen. 

Das alles macht es moglich, dafi das Christentum damals 
nicht ein Spiegelbild aufierer Verhaltnisse war, sondern un- 
beengt vom materiellen Druck auf freiem Boden sich ent- 
wickeln konnte. Die Verhaltnisse von Mitteleuropa wur- 



den bestimmt durch das Christentum. Alles Wissen des Al- 
tertums wurde auf diese Weise durch das Christentum fur 
die germanischen Volker aufbewahrt. Aristoteles gab den 
geistigen Kern, den das Christentum zu begreifen suchte. 
Damals gab es noch keine Abhangigkeit von Rom. Frei 
konnte sich das christliche Leben im Frankenreiche ausbil- 
den. Auch Platos Ideenwelt fand Eingang in dieses geistige 
Leben. Besonders geschah dies durch schottische und iri- 
sche Monche, vor allem durch Scotus Erigena in seinem 
Werke «Uber die Einteilung der Natur», einem Werke, das 
eine Hohe des Geisteslebens bedeutet. So sehen wir, wie 
unbeirrt von aufieren Verhaltnissen, geistiges Leben sich 
gestaltet. Die geistigen Stromungen nehmen gerade da ihr 
charakteristisches Geprage an, wo sie unabhangig sind von 
wirtschaftlichen Verhaltnissen. Spater, als der materielle 
Druck sich ausdehnt, nehmen sie ruckwirkend den Cha- 
rakter dieser Verhaltnisse an, dann aber fliefien sie selbst da 
hinein und beeinflussen diese wieder. 

Mehrere kleine Konigreiche bildeten das Reich, das wir 
als das der Merowinger kennen und das erst spater unter 
die Gewalt eines einzigen gelangte. 

Nach dem, was Ihnen geschildert wurde, werden Sie ein- 
sehen, da£ das sudlichere Christentum anders sein mufite 
als dieses frankische Christentum, mit dem es sich spater 
vermischte. Das frankische Christentum war verhaltnisma- 
£ig unabhangig und konnte die politischen Verhaltnisse zu 
seinen Gunsten benutzen. Je mehr die romische Herrschaft 
zuriickgedrangt wurde, ein um so grofterer Teil des Klerus 
ging aus den Franken hervor, dessen Bildung weit hinter 
der der anderen Geistlichen zuriickstand; die gelehrten 
Priester und Monche aber waren alle Kelten. 

So waren in diesen Jahrhunderten allmahlich die ver- 
schiedensten Volkerschaften durcheinander geriittelt wor- 



den; der Einfall der Hunnen hatte den Anlafi zu diesen Ver- 
anderungen gegeben. Wahrend sich nun innerhalb der 
eigentlichen Kulturstromungen das gestaltete, was hier 
geschildert wurde, hatten sich aufierlich grofte Kampfe ab- 
gespielt. Aber das, was wir die Kulturentwickelung nen- 
nen, wurde von diesen aufieren Kampfen nicht wesentlich 
beriihrt. 

Die Hunnen waren weit nach Westen vorgedrungen. 
Wenn wir nicht blind sind gegemiber dem, was alte Sagen 
verkiinden, so wissen wir: sie waren bis nach Sudfrankreich 
gelangt. In der alten Heldendichtung, die in lateinischer 
Sprache iiberliefert wurde, dem Waltharilied, wird erzahlt, 
wie die Fursten der germanischen Stamme, die Burgunder 
und Franken und so weiter, den Hunnen Geiseln geben 
mufken, darunter auch jenen Walthari, den Sohn des Fur- 
sten des germanischen Volksstammes, der in Aquitanien 
herrschte. Von den Taten dieses Walther, des Hagen und 
des Gunther erzahlt dieses Heldenlied. Fortwahrend erfolg- 
ten nun Einfalle der Hunnen und beunruhigten die germa- 
nischen Volker weit nach Westen hin, bis endlich die Fran- 
ken, Goten, sowie das, was vom romischen Volke noch iib- 
riggeblieben war, eine Macht bildeten, die sich den Hunnen 
im Jahre 451 entgegenstellte in der Schlacht auf den kata- 
launischen Feldern. Dies ist der erste Schlag, den die Herr- 
schaft der Hunnen erlitt, eine Herrschaft, die schwer auf 
den Volkern lastete, die aber keinen dauernden Eindruck 
hinterliefi. 

Die Hunnen waren an Sitten und Gebrauchen ein den eu- 
ropaischen Volkern so fremdes Volk, dafi die ganze Art 
und Gestalt der Hunnen als etwas ganz Seltsames geschil- 
dert wird. Wichtig war, dafi dieses Volk eine kompakte 
Einheit bildete; eine bis zur Vergotterung sich steigernde 
Unterwiirfigkeit unter ihren Konig Attila liefi sie den ande- 



ren Volkern gegeniiber von unwiderstehlichem Schrecken 
erscheinen. Nach der Schlacht auf den katalaunischen Fel- 
dern empfing diese Macht ihren letzten, entscheidenden 
Schlag durch Leo den Grqfien, den Bischof von Rom, der 
Attila entgegentrat und ihn bewog, zuriickzugehen. Volks- 
psychologisch ist dieses Geschehnis verstandlich. Leo 
kannte die Macht, die Attila auf sein Volk ausiibte. Attila 
aber bei all seiner Macht kannte das nicht, was ihm da ent- 
gegentrat: das Christentum; darum beugte er sich ihm. 

Die Herrschaft der Hunnen blieb somit eine Episode; 
dauernde Wirkung hatte viel mehr das, was aus dem We- 
sten kam. Nach Attilas Tode 453 zerfiel die Macht der 
Hunnen bald wieder; auch die Herrschaft der Goten, Gepi- 
den, Vandalen und so weiter war nichts Dauerndes, sie fan- 
den sich eingeschlossen in schon gegebene Verhaltnisse und 
konnten sich in ihrer Eigenart nicht erhalten. Dies ge- 
schieht dagegen im Frankenreiche; diese Kultur erweist 
sich treu dem Charakter des Frankenstammes, und so ist zu 
sehen, wie dieses Volk sich machtig entwickelt. Wir sehen 
spater aber auch, wie dieser Stamm die anderen mit Gewalt 
zwingt, das Christentum anzunehmen. Wir sehen ferner, 
dafi nichts Geeigneteres vorhanden ist, die materielle Kul- 
tur auszugestalten, als das Christentum; allerlei Kulturge- 
bilde erhalten ihr Geprage von dem aufkren Christentum. 
Und weil sie den Charakter frei erhalten konnen, geben sie 
den Rahmen fur lose Gebilde, in denen sich das geistige Le- 
ben entwickeln kann: so entstehen die geistlichen Wirt- 
schaftsgemeinschaften im Kloster und so weiter. Mit der 
Zeit aber entsteht eine Unzusammengehorigkeit der geisti- 
gen und wirtschaftlichen Kultur. Trotzdem das Reich Karls 
des Grofien sich zu einem christlichen Reiche macht, aber 
mit Gewalt das Christentum ausbreitet, stellt es sich in Wi- 
derspruch zum Geist des Christentums. Daher pafk bald 



das Christentum nicht mehr zum Wirtschaftsleben. Die 
Verhaltnisse des Wirtschaftslebens werden als driickende 
empfunden, und so entstehen die freien Stadte. 

Dies ist die Entwickelung der geistigen und der materiel- 
len Kultur in grofien Ziigen. Die Verhaltnisse in ihrer ei- 
gentlichen Bedeutung werden Ihnen vorgefiihrt. Sie sehen, 
wie erst als die geistigen Stromungen nicht mehr mit den 
materiellen Verhaltnissen zusammenfielen, dieses Mifiver- 
haltnis seinen Ausdruck findet in der Entstehung einer rein 
materiellen Kultur, der Stadtekultur. Denn aus materiellem 
Interesse waren diese Wirtschaftsgebilde entstanden. Die 
Bevolkerung, die es nicht aushalten konnte auf dem Lande, 
sie drangte hinein in die Stadte, um dort Schutz und Sicher- 
heit zu finden. So sehen wir neue Wirtschaftsgebilde entste- 
hen, die von weittragendster Bedeutung werden sollten. Sie 
sehen Reiche entstehen und vergehen und neue Gebilde an 
die Stelle von alten treten. Sie sehen aber auch, daft wir ih- 
ren Organismus nur verstehen, wenn wir erkennen, wie 
sich das erste maftgebende Reich, das Frankenreich, gestal- 
tete. Nicht hineingedrangt in schon bestehende Verhalt- 
nisse, sondern dort, wo Raum zu freier Ausdehnung gebo- 
ten war, hatte sich das Wesen dieses Volksstammes entwik- 
kelt und seine Herrschaft ausgest alten konnen. 

Nicht nur grundlich durcheinandergeriittelt, sondern 
neu gebildet waren die Volksstamme, die durch die grofie 
Volkerwanderung aus ihren Wohnsitzen getrieben waren. 
Einige waren ganz aus der Geschichte verschwunden, ande- 
re traten an ihre Stelle. Nicht nur von aufien, viel mehr im 
tiefsten Grunde ihres Charakters hatte sich die grofie Um- 
wandlung vollzogen. Wir sehen bei Beginn der Epoche der 
Volkerwanderung die verschiedenen germanischen Vdlker 
die Frage an das Schicksal stellen. Fur die Goten, die ein to- 
lerantes Christentum sich erwahlt hatten, bedeutete diese 



Frage die Vernichtung, fur die Franken, die unter anderen, 
freieren, fur sie giinstigeren Verhaltnissen vor diese Frage 
gestellt wurden, bedeutete sie die Machtentfaltung auf Jahr- 
hunderte hinaus. Ob zum Heile der Gesamtheit? Das 
werden wir in der Folge sehen. 



Vierter Vortrag, 8. November 1904 

Es ist ein gebrauchliches Vorurteil das Wort: die menschli- 
che Entwickelung gehe in einem regelmafiigen, sukzessiven 
Gange vorwarts, die Entfaltung der geschichtlichen Ereig- 
nisse mache nirgends Spriinge. Allmahliches und sukzessi- 
ves Fortschreiten sei Entwickelung. Das hangt zusammen 
mit einem anderen Vorurteil: denn auch von der Natur 
heifit es, sie mache keinen Sprung. Das wird immer wieder 
gesagt, es ist aber unrichtig fur die Natur wie fur die Ge- 
schichte. Wir sehen in der Natur nirgends, wenn es sich um 
gewaltige Fortschritte handelt, Sprungloses. Nicht allmah- 
lich ist ihr Gang, sondern aus kleinen Vorgangen ergeben 
sich wichtige Folgen; das Allerwichtigste geschieht doch 
durch Spriinge. Man konnte viele Falle aufzahlen, wo die 
Natur durchaus in solcher Weise fortschreitet, dafi wir ein 
Ubergehen der Formen geradezu in ihr Gegenteil beobach- 
ten konnen. 

In der Geschichte ist dies besonders wichtig, weil wir da 
zwei solche bedeutende Ereignisse haben, die sich zwar all- 
mahlich vorbereiten, dann abfluten, aber doch ein sprung- 
haftes Vorwartsschreiten bedeuten. Erstens die Begriin- 
dung der freien Stadte am Anfang des Mittelalters und 
zweitens die grofien Erfindungen und Entdeckungen am 
Ende des Mittelalters. Die Geschichte riickt rascher vor um 



die Wende des 11. zum 12. Jahrhundert. Es entwickeln sich 
neue Gesellschaftsformen aus alten; daraus, dafi viele Men- 
schen ihre Wohnsitze verlassen und sich in den Stadten nie- 
derlassen, entstehen durch Deutschland, Frankreich, Eng- 
land, Schottland, bis nach Rufiland und Italien, solche Stad- 
te mit neuen Lebensbedingungen, Ordnungen, Rechten 
und Verfassungen. Dann am Ende des Mittelalters finden 
wir die grofien Entdeckungen, die Seereisen nach Indien, 
Amerika und so weker, die weltumfassende Erfindung der 
Buchdruckerkunst. Alles das zeigt uns, welche radikale 
Veranderung hervorgerufen ist durch das Aufkeimen des 
neuen Wissenschaftsgeistes, durch Kopernikus. 

Damit sind zwei Einschnitte gegeben, und will man sinn- 
voll das Mittelalter betrachten, so miissen diese zwei Ereig- 
nisse in richtige Beleuchtung gestellt werden. Man konnte 
sagen, alles deutet hin auf diese groften Ereignisse. Sie neh- 
men sich aus wie Sprunge; aber es bereitet sich solch ein Er- 
eignis langsam vor, um dann mit lawinenartiger Kraft her- 
vorzubrechen und vorwarts zu fluten. Wenn wir sie weiter 
verfolgen, wird sich schrittweise zeigen, wie diese beiden 
Ereignisse sich vorbereitet haben im Leben der Germanen. 
Wir werden sehen, durch welche Umstande gerade dem 
Frankenvolke jene Macht zuteil wurde, jener Einfluft auf 
die Gestaltung der europaischen Verhaltnisse. Man mufi 
dazu den Charakter dieses Volkes verstehen, die notwendi- 
ge Umgestaltung der Gesellschaftsverhaltnisse und den 
machtvollen Einschlag durch das Christentum im 4. Jahr- 
hundert. Diese zwei Dinge bedeuten die Anderung im Le- 
ben der Germanen. Sie bedingen die Entwickelung des Mit- 
telalters. Es ware nutzlos, alle diese Wanderungen der Ger- 
manen weiter zu verfolgen, zu sehen, wie Odoaker den letz- 
ten westromischen Kaiser entthronte, wie die Goten durch 
Kaiser Justinian aus Italien vertrieben werden, wie die 



Langobarden von Norditalien Besitz ergreifen - wir sehen 
immer dieselben Verhaltnisse sich abspielen. 

In siidlichen Gegenden, wo die Germanen festgefugte po- 
litische, wirtschaftliche Verhaltnisse vorfinden, verschwan- 
den die Eigentiimlichkeiten dieser Volkerschaften; sie ha- 
ben jede Bedeutung verloren. Wir horen nichts mehr von 
Goten, Gepiden und so weiter; sie sind bis auf den Namen 
verschwunden. Im Gegensatz dazu waren die Franken in 
noch nicht gefestigte, freie Verhaltnisse, wo noch kein ern- 
ster Besitz bestand, gelangt. Durch diese politische Kon- 
figuration wurden die Franken das mafigebende Volk. 

Nun mussen wir sehen, wie in diesem Frankenreich sich 
dieses Gebilde entwickelt hat, das wir als merowingisches 
Konigreich bezeichnen. Es war eigentlich nichts anderes als 
die vielen kleinen Konigreiche, die sich auf natiirlichste 
Weise bildeten. Die Merowinger blieben als Sieger, nach- 
dem sie die anderen ihnen urspriinglich Gleichen iiberwun- 
den hatten. Alle diese Konigreiche hatten sich auf folgende 
Weise gebildet; irgendein kleiner Stamm wanderte ein, un- 
terjochte die Einwohner, verteilte das Land, so dafi alle 
Mitglieder kleinere und grofiere freie Besitztiimer erhiel- 
ten. So wurden alle solche Gebiete auf Grundbesitz begriin- 
det. Der Machtigste erhielt das grofite Gebiet. Zur Bebau- 
ung desselben wurde eine grofie Anzahl von Leuten ge- 
braucht, die aus der Bevolkerung entnommen wurde, zum 
Teil wurden auch Gefangene aus den Kriegen zu Arbeitern 
gemacht. Nur durch diesen Unterschied des kleineren und 
grofieren Grundbesitzes bildeten sich die Machtverhaltnis- 
se heraus. Der grofite Grundbesitzer war eben der Konig. 
Seine Macht beruht auf dem Grundbesitz, das ist das Cha- 
rakteristische. Aus diesen Machtverhaltnissen bildeten sich 
die Rechtsverhaltnisse heraus, und es ist interessant zu be- 
obachten, wie auf dieser Grundlage die Rechtsverhaltnisse 



skh entwickeln. Allerdings finden wir bei den alten germa- 
nischen Stammen ihre Gewohnheitsrechte, die sich in alten 
Zeiten, in die wir keinen Einblick mehr haben, entwickelt 
hatten. Bei den kleineren Stammen versammelten sich alle 
Leute, urn Recht zu sprechen; spater kamen die Stammes- 
genossen nur am 1. Marz zusammen, um iiber ihre Angele- 
genheiten zu beraten. Jetzt war aber der Grofigrundbesit- 
zer den anderen gegeniiber unverantwortlich fur das, was 
er tat auf seinem Gebiet. Zwar finden wir ein konservatives 
Festhalten an den alten Rechtsgewohnheiten bei den ver- 
schiedenen Stammen. Lange bewahrt finden wir sie beson- 
ders bei den Sachsenj Thiiringern, Friesen, auch bei den 
Cheruskern, deren Stamm sich langer erhalten hat als man 
gewohnlich glaubt. Anders war es, wo Grofigrundbesitz 
sich entwickelte, weil der Besitzer, da er- auf seinem Gebiete 
unumschrankt war, auch unverantwortlich wurde. Er hat- 
te die Macht, Gerichtsbarkeit, Polizeigewalt auszuiiben. 
Aus der Unverantwortlichkeit bildete sich ein neuer 
Rechtsstand heraus. Wenn ein anderer einen Verstofi be- 
ging, wurde er zur Verantwortung gezogen; wenn es der 
Unverantwortliche tat, wurde derselbe Verstofi als Recht 
angesehen. Was bei den nicht Machtigen Unrecht war, das 
war bei den Machtigen Recht. Er hatte die Moglichkeit, 
Macht in Recht umzuwandeln. 

Nun bedenke man, dafi auf diese Weise namentlich im 
Nordwesten die Franken ihre Macht weiter ausdehnen 
konnten, grofie Gebiete erobern konnten. In einer Zeit, wo 
Krieg und immer Krieg war, waren die weniger Machtigen 
auf den Schutz der Machtigen angewiesen. Da entstand das 
Lehn- und Vasallenwesen, das eine Auslese der Machtigsten 
hervorrief. Es entstand die Art und Weise, durch Vertrage 
gewisse Rechte zu ubertragen. Der grofie Grundbesitz, das 
Konigsgut erlangte besondere Rechtsverhaltnisse, die vom 



Konig oder vom Besitzer auch auf andere iibertragen wer- 
den konnten. Mit dem Land zugleich wurde die Gerichts- 
barkeit und die Polizeigewalt iibertragen. Es entstand K6- 
nigsrecht und Recht der kleinen Vasallen. Dadurch, dafi 
eine solche Umlagerung eintrat, sehen wir ein machtiges 
Beamtentum sich entwickeln, nicht auf Grund von Besol- 
dung, sondern von Grundbesitz. Solche Gerichtsherren 
waren oberste Richter. Anfangs, wo sie auf die Rechte 
machtiger Stamme noch Riicksicht zu nehmen hatten, wa- 
ren sie verpflichtet, alte Rechte zu respektieren. Aber all- 
mahlich wurde dieses Verhaltnis ein absolutes Richtertum, 
so dafi in der Folge im Frankenreich neben dem Konigtum 
eine Art Beamtenadel sich bildete, der zum Rival des K6- 
nigtums heranwuchs. Erst war er abhangig, dann wurde er 
machtig und Rival. So mufite sich schon im 6. Jahrhundert 
im Frankenreich immer starker die Rivalitat zwischen dem 
Konigtum und dem Beamtenadel entwickeln, und dieser 
zur grdfken Bedeutung gelangen. 

Das urspriingliche Herrschergeschlecht, das aus den 
Groftgrundbesitzern hervorgegangen ist, die Merowinger, 
wird abgelost von den Karolingern, die urspriinglich zu 
dem Beamtenadel gehorten. Sie bildeten die Hausmeier, 
Majordomus, des ersten Herrschergeschlechtes, das durch 
die Rivalitat des Beamtenadels gestiirzt wurde. Im wesentli- 
chen war es also der Grofigrundbesitz, der hier die Macht- 
verhaltnisse begriindete, und die machtigste moralische 
Stromung, die Kirche, mufke auf diesem Umwege des 
Grofigrundbesitzes ihre Herrschaft einleiten. 

Das Charakteristische bei der frankischen Kirche ist, dafi 
sie zunachst nichts als eine Anzahl von Grofigrundbesit- 
zungen darstellt: wir sehen Bistiimer und Abteien entste- 
hen, und Vasallen, die, wie sonst unter dem Schutz der 
Grofigrundbesitzer, in den Schutz der Kirche sich begeben, 



urn von ihr Lehen zu empfangen. So bildeten sich neben 
weltlichen geistliche Grofigrundbesitzer. Dies ist der 
Grund, warum wir so wenig Tiefe und Wissenschaft wahr- 
nehmen, und dafi das, was wir an Geistigem dort im Chri- 
stentum finden, wesentlich fremden Einfliissen zu verdan- 
ken ist. Nicht innerhalb des Frankenvolkes, sondern durch 
Angehorige des angelsachsischen, besonders des keltischen 
Stammes auf den britischen Inseln, ist es gelungen, jenen 
machtigen Strom zu schaffen, der sich dann nach Osten er- 
gofi. Auf den britischen Inseln wirkten bedeutende Gelehr- 
te, fromme Monche in ernster Vertiefung. Hier ist wirklich 
gearbeitet worden, wie wir im einzelnen an der Wieder- 
aufnahme des Platonismus und seiner Vereinigung mit 
dem Christentum sehen. Wir sehen Mystik, Dogmatismus, 
aber auch Enthusiasmus und begeistertes Pathos von hier 
ausgehen. Von hier aus kommen die ersten Bekehrer: 
Columban, Gallus und Winfrid-Bonifatius, der Bekehrer 
der Deutschen. Und diese ersten Missionare, weil sie 
nichts als das Geistige des Christentums im Auge hatten, 
sind nicht geneigt, den Verhaltnissen des Frankenstammes 
sich anzupassen. Sie sind die treibende Kraft und haben 
auch, besonders Bonifatius, ihren Haupteinflufi bei den 
ostlichen Germanen. - Deswegen greift im Frankenreiche 
in dieser Zeit ein steigender Einflufi von Rom aus Platz. - 
Wir mussen nun sehen, was vorher gestaltend gewirkt hat. 
Da haben wir zwei heterogene Elemente, die sich einander 
anpassen: die rauhe Kraft des Germanen und die geistige 
Lehre des Christentums. Wunderbar erscheint es, wie die- 
se Stamme sich dem Christentum anpassen und wie das 
Christentum sich selbst wandelt, um sich dem Germanen- 
tum anzupassen. Anders arbeiten diese Sendboten als die 
frankischen Konige, die mit der Gewalt der Waffen das 
Christentum ausbreiteten. Nicht als etwas Fremdes wird 



es in ihre Seek gedrangt: geschont werden die Kultusstat- 
ten, heilige Sitten, Gebrauche und Personen, so geschont, 
dafi alte Einrichtungen benutzt wurden, um den neuen 
Gehalt auszugieften. Interessant ist es, wie das Alte das 
Kleid, das Neue die Seele wird. Wir besitzen aus jener Zeit, 
aus dem sachsischen Stamm, eine Schilderung des Jesus- 
Lebens: Sie nahmen die Gestalt des Jesus, aber alle Einzel- 
heiten wurden germanisch iiberkleidet, Jesus erscheint als 
deutscher Herzog, der Verkehr mit den Jiingern gleicht 
einer Volksversammlung. So wird im «Heliand» das Leben 
Jesu dargestellt. 

Alte Helden werden in Heilige verwandelt, Feste, Kultus- 
gebrauche in christliche. Vieles von dem, was heute die 
Leute fiir christliches Alleingut halten, ist damals einge- 
wandert von heidnischen Gebrauchen. Im Frankenreich 
dagegen miissen wir sehen, dafi die Franken im Christen- 
tum nichts anderes sehen als ein Mittel zur Befestigung 
ihrer Machtverhaltnisse: ein frankisches Rechtsbuch be- 
ginnt mit einer Berufung auf Christus, der die Franken 
liebt vor alien anderen Volkern. 

Das sind so Arten, wie diese beiden welthistorischen 
Stromungen ineinanderwachsen. In der Zeit, wo die briti- 
schen Missionare den moralischen Einflufi des Christen- 
tums vertreten, steigt auch der Einflufi der romischen Kir- 
che bedeutend. Ausgehend von dem, was hier vorgearbeitet 
war, suchen die Frankenkonige Anlehnung an das Papst- 
tum. Die Langobarden hatten Italien besetzt und beunru- 
higten namentlich den Bischof von Rom. Sie waren ariani- 
sche Christen. Das bewirkte, daft der romische Bischof sich 
zunachst hilfesuchend an die Franken wandte, aber zu- 
gleich seinen Einfluft den Franken anbot. So wurde der 
frankische Konig Schiitzer des Papstes, und der Papst salbte 
den Konig: daher leiteten die frankischen Konige ihre be- 



sondere Stellung, den besonderen Glanz ihrer Wurde von 
dieser Heiligung durch den Papst ab. Das war eine Verstar- 
kung dessen, was die Franken im Christentum gesehen hat- 
ten. Dies alles vollzieht sich im wesentlichen im 7. Jahrhun- 
dert. Durch dieses Biindnis zwischen Papsttum und Fran- 
kenherrschaft bereitete sich die spatere Kronung Karls des 
Grofien langsam vor. So sehen wir also machtige soziale 
und geistige Veranderungen sich vollziehen. Aber das allein 
hatte nicht zu jenem Ereignis gefiihrt, das ich als eines der 
wichtigsten bezeichnete, als eine materielle Revolution: die 
Begriindung von Stadten. Denn es fehlte der frankisch- 
christlichen Kultur etwas, trotzdem Tiichtigkeit, Geist und 
Tiefe da waren. 

Nicht vorhanden war, was man als Wissenschaft, als rein 
aufierliche Wissenschaft bezeichnet. Lediglich eine mate- 
rielle und eine moralische Bewegung haben wir verfolgt. 
Das, was an Wissenschaft vorhanden war, war stehenge- 
blieben auf derselben Hohe wie zur Zeit der Beriihrung mit 
dem Christentum. Und wie die Frankenvolker kein Inter- 
esse hatten an der Verbesserung ihrer einf achen Agrikultur, 
nicht daran dachten, sie wissenschaftlich auszubilden, 
ebenso suchte die Kirche nur ihren moralischen Einflufi 
auszubauen. Der primitive Ackerbau bot keine besonderen 
Schwierigkeiten, die wie in Agypten zur Entwickelung der 
Physik, der Geometrie, der Technik gefiihrt hatten. Alles 
war hier einfacher, urspriinglicher; so wie auch die schon 
bestehende Geldwirtschaft wieder durch Naturalwirtschaft 
ersetzt worden war. 

So brauchte die europaische Kultur einen neuen Ein- 
schlag, und man versteht sie nicht, wenn man nicht diesen 
Einschlag wiirdigt. Vom Fernen Osten her, woher einst das 
Christentum gekommen, aus Asien kommt diese neue Kul- 
tur durch die Araber. Die Religion, die durch Mohammed 



dort gegriindet worden war, ist in ihrem religiosen Gehalt 
einfacher als das Christentum. Der inner e Gehalt des Mo- 
hammedanismus griindet sich im wesentlichen auf einfache 
monotheistische Ideen, die sich beschranken auf ein gottli- 
ches Grundwesen, dessen Natur und Gestalt man nicht be- 
sonders erforscht, das man nicht ergriindet, in dessen Wil- 
len man sich aber ergibt, das man glaubt. Deshalb ist diese 
Religion dazu geschaffen, ein ungeheures Vertrauen in die- 
sen Willen hervorzurufen, das zum Fatalismus fiihrt, zur 
willenlosen Ergebung. Daher war es moglich, dafi in weni- 
gen Menschenaltern diese Stamme die arabische Herrschaft 
ausdehnten iiber Syrien, Mesopotamien, Nordafrika bis zu 
dem Reich der Westgoten in Spanien, so dafi bereits urn die 
Wende des 7. zum 8. Jahrhundert die Mauren ihre Herr- 
schaft dort ausbreiteten und an die Stelle der westgotischen 
ihre eigene Kultur setzten. 

So stromt etwas ganz Neues, Andersgeartetes in die euro- 
paische Kultur. Auf eigentlich geistigem, religiosem Gebiet 
hat diese arabische Kultur nur einen einfachen Inhalt, der 
in der Seele gewisse Krafte begriindete, aber nicht viele 
Vorstellungen erwirkte, nicht den Geist besonders in An- 
spruch nahm. Dieser Geist war nicht erfullt vom Nachden- 
ken iiber Dogmen, iiber Engel und Damonen und so wei- 
ter. Aber war der Geist nicht damit erfullt, so mit dem, was 
den christlich-germanischen Stammen damals fehlte: mit 
aufterer Wissenschaftlichkeit. Fortgebildet finden wir hier 
alle jene Wissenschaften, wie Medizin, Chemie, mathemati- 
sches Denken. Der praktische Geist, der aus Asien mit 
nach Spanien gebracht war, fand nun in Seefahrten und so 
weiter Betatigung. Er wurde hiniibergebracht in einer Zeit, 
wo dort ein wissenschaftsloser Geist sein Reich begriindet 
hatte. Die maurischen Stadte wurden Statten ernster, wis- 
senschaftlicher Arbeit: wir sehen da eine Kultur, die jeder, 



der sie kennt, nur bewundern kann, von der ein Humboldt 
sagte: «Diese Weite, diese Intensitat, diese Scharfe des Wis- 
sens ist ohne Beispiel in der Kulturgeschichte.» Diese mau- 
rischen Gelehrten sind voll Weitblick und Tiefsinn und ha- 
ben nicht nur wie die Germanen die griechische Wissen- 
schaft iibernommen, sondern vorgebildet. Aristoteles lebte 
auch bei diesen fort, aber bei den Arabern der wahre Ari- 
stoteles als Vater der Wissenschaft, verehrt mit grofiem 
Weitblick. Es ist interessant zu sehen, wie das, was in Grie- 
chenland vorgebildet war, die alexandrinische Kultur, dort 
fortlebte, und damit haben wir eine der merkwurdigsten 
Stromungen im menschlichen Geistesleben beriihrt. Die 
Araber lieferten die Grundlagen zur objektiven Wissen- 
schaft. Diese stromte zunachst von da aus ein in die angel- 
sachsischen Kloster in England und Irland, wo das alte 
energische keltische Blut lebte. Eigentumlich war es zu se- 
hen, was fur ein reger Verkehr zwischen ihnen und Spanien 
eingeleitet wurde, und wie dort, wo Tiefsinn und Fahigkeit 
zum Denken vorhanden war, die Wissenschaft durch Ver- 
mittlung der Araber auflebte. 

Und es ist eine merkwiirdige Erscheinung, wenn wir wei- 
ter sehen, dafi die Araber, die anfangs ganz Spanien in Be- 
sitz nahmen, bald aufierlich besiegt wurden in der Schlacht 
bei Poitiers 732 durch die Franken unter Karl Martell. 
Damit siegte aufierlich die physische Kraft der Franken 
tiber die physische Kraft der Mauren. Aber unbesiegbar 
bleibt die geistige Kraft der Araber, und so wie einst die 
griechische Bildung erobernd in Rom auftritt, so erobert 
sich die arabische Bildung den Westen, den siegreichen 
Germanen gegeniiber. Wenn nun die Wissenschaft, die 
man braucht, um den Gesichtskreis fur Handel und Welt- 
verkehr auszubreiten, wenn die Stadtekultur entsteht, so 
sehen wir, dafi es arabische Einflusse sind, die hier sich gel- 



tend machen, ganz neue Elemente, die hier einstromen, 
und die versuchen, sich den alten anzupassen. 

Dafi jemand wohl verwirrt werden konnte, der mit frei- 
em Blick diese sich widerstrebenden Stromungen im Mit- 
telalter verfolgte, sehen wir an Walther von der Vogelweide 
zum Ausdruck kommen. Der Dichter sah, wie die Germa- 
nenvolker nach aufierer Macht strebten, sah vom Christen- 
tum eine entgegengesetzte Stromung ausgehen. - Denn ich 
bitte Sie zu beachten, dafi das Christentum erst spater jene 
Form annahm, die ihm dann anhaftete. - Bei Walther von 
der Vogelweide sehen wir in Empfindung umgewandelt, 
was das Mittelalter durchstromte, in der wehmiitigen Schil- 
derung: 

Gar banglich bedachte ich mir, 

Weshalb man auf der Welt wohl sei. 

Es fiel mir keine Antwort bei, 

Wie man drei Ding' erwurbe, 

DalS keins davon verdurbe. 

Die zwei sind Ehr s und weltlich Gut, 

Das oft einander Schaden tut; 

Das dritt' ist Gott gefallen, 

Das wichtigste von alien. 

Die wunscht' ich mir in einen Schrein. 

Doch leider kann das nimmer sein, 

Dafi weltlich Gut und Ehre 

Und Gottes Huld je kehre 

Ein in dasselbe Menschenherz. 

Sie finden Hemmnis allerwarts: 

Untreu legt allenthalben Schlingen, 

Gewalt darf alles niederzwingen, 

So Fried' als Recht sind todeswund, 

Und nimmer finden Schutz die drei, 

Eh' diese zwei nicht sind gesund. 



Wir wollen dann weiter sehen, wie schwer es dem Mittel- 
alter selbst wurde, diese drei Dinge im Herzen zu vereini- 
gen, und wie sie die grofien Kampfe hervorgerufen haben, 
die das Mittelalter zerrissen. 



Funfter Vortrag, 15. November 1904 

Wenn Sie irgendeines der gebrauchlichen Schulbiicher oder 
eine der anderen ublichen Darstellungen des Mittelalters 
iiber die Zeit, von der wir jetzt sprechen werden - vom 8. 
oder 9. Jahrhundert - , in die Hand nehmen, so nimmt dar- 
in einen aufierordentlichen Raum ein die Personlichkeit 
Karls des Grqfien. Aber Sie werden wenig von dem verste- 
hen, was eigentlich das Bedeutungsvolle dieses Zeitalters 
ausmacht, wenn Sie diese Eroberungsziige und Taten Karls 
des Grofien in dieser Weise verfolgen. All das war nur ein 
aufierer Ausdruck fiir viel tiefere Ereignisse im Mittelalter, 
die sich darstellen werden als das Zusammenspiel vieler be- 
deutender Faktoren. Wollen wir diese betrachten, so miis- 
sen wir dazu Dinge streifen, die wir schon beriihrt haben, 
um Licht da hineinzubringen. 

Wenn Sie sich erinnern an die Schilderung europaischer 
Verhaltnisse unmittelbar nach der Volkerwanderung, als 
hier und da nach diesem Ereignisse germanische Volker zur 
Ruhe gekommen waren, so werden Sie daran denken miis- 
sen, dafi sich diese Volker ihre altgewohnten Einrichtun- 
gen, ihre Sitten und Gebrauche in die neuen Wohnsitze 
mitgebracht hatten und sie dort ausbildeten. Dabei sehen 
wir, dafi sie sich eine Eigentiimlichkeit bewahrt haben: eine 
Art soziale Ordnung, bestehend in der Verteilung von Pri- 
vat- und Gemeineigentum. Es waren kleine soziale Verban- 



de, in denen sie urspriinglich lebten, Dorfgemeinden, dann 
spater Hundertschaften, Gaue, und in alien gab es Gemein- 
eigentum an alledem, was Gemeineigentum sein konnte: 
Wald, Wiese, Wasser und so weiter. Und nur, was der Ein- 
zelne bebauen konnte, der einzelne Feldanteil, die Hufe, 
wurde der Privatfamilie zugeteilt, wurde erblich. Alles an- 
dere blieb Gemeineigentum. 

Nun haben wir gesehen, wie die Fiihrer solcher Stamme 
grofiere Gebiete bei der Eroberung zuerteilt bekamen, und 
wie dadurch gewisse Herrschaftsverhaltnisse entstanden, 
namentlich in Gallien, wo vieles Land noch urbar zu 
machen war. Fiir die Bearbeitung dieser Landereien nahm 
man teils die Angehorigen der friiheren Bevolkerung, teils 
die romischen Kolonen oder Kriegsgefangene. Dadurch bil- 
deten sich gewisse Rechtsverhaltnisse heraus. Der Groft- 
grundbesitzer war unverantwortlich fiir das, was er tat in- 
nerhalb seines Besitzes; er konnte fiir das, was er verfiigte, 
nicht zur Verantwortung gezogen werden. Daher konnte 
er fiir sein Besitztum Rechtsvorschriften, Polizeimafiregeln 
erlassen. Wir treffen also in dem Frankenreiche kein ein- 
heitliches Konigtum; das, was man das Reich der Merowin- 
ger nennt, war nichts anderes als ein solcher grofier Grund- 
besitz. Die Merowinger waren eine der grofigrundbesitzen- 
den Familien; aus privatrechtlichen Verhaltnissen hervor- 
gegangen, dehnte sich ihre Herrschaft aus dem Kampfe urns 
Dasein immer weiter aus. Immer neue Gebiete wurden hin- 
eingezogen. Der Grofigrundbesitzer war nicht in der Weise 
Konig, wie wir es seit dem 13. und 14., ja noch im 16. Jahr- 
hundert gewohnt sind, sondern privatherrschaftliche Ver- 
haltnisse gingen in Rechtsverhaltnisse iiber. 

Er iibertrug gewisse Teile seines Gebietes an andere, 
minder Begiiterte - weil er nicht alles selbst bebauen konn- 
te -, und mit ihnen seine Rechte; das nannte man «unter 



Immunitat»: jene Richtergewalt, die aus der Unverantwort- 
lichkeit in solchen Verhaltnissen erwachsen war. Dafiir 
mufite der Betreffende Abgaben entrichten und dem Konig 
in dem Kriege Heeresfolge leisten. In solcher Ausbreitung 
der Besitzverhaltnisse ging das Geschlecht der Merowinger 
als Sieger hervor iiber andere, so dafi wir an der Formel 
festhalten miissen: das alte Frankenreich ging hervor aus 
rein privatrechtlichen Verhaltnissen. 

* ■ 

Und wiederum geschah der Ubergang von den Merowin- 
gern zum Karolingergeschlecht, aus dem Karl Martell ent- 
stammte, auf dieselbe Art, aus denselben Verhaltnissen her- 
aus. Die Karolinger waren urspriinglich Verwalter der Do- 
manen der Merowinger, aber allmahlich so einflufireich ge- 
worden, dafi es Pippin dem Kleinen gelang, den blodsinni- 
gen Childerich in ein Kloster zu stecken und mit Hilfe des 
Papstes abzusetzen. Von ihm stammte sein Nachfolger, 
Karl der Grofte. In raschem Fluge konnen wir die aufieren 
Ereignisse nur streifen, denn sie haben keine besondere Be- 
deutung. Karl der Grofie bekriegt die umliegenden deut- 
schen Volksstamme und dehnt gewisse Herrschaftsverhak- 
nisse aus. Man kann dieses Reich noch nicht einen Staat 
nennen. Er fuhrte lange Kampfe gegen die Sachsen, die an 
der alten Dorfverfassung, an den alten Sitten und Gebrau- 
chen, dem alten germanischen Glauben mit grofier Zahig- 
keit festhielten. Die Eroberung geschah nach langwierigen 
Kriegen, die mit aufierordentlicher Grausamkeit von bei- 
den Seiten gefiihrt wurden. 

Bei solchen Stammen, wie die Sachsen waren, tat sich ir- 
gendeine Personlichkeit besonders hervor, die dann zum 
Fiihrer wurde. Diesmal war es ein Herzog mit gro&en Be- 
sitztiimern, starkem Heeresgefolge, Widukind, dessen Tap- 
ferkeit heftigsten Widerstand leistete. Er wurde mit der 
grofiten Grausamkeit niedergezwungen und mufke sich der 



Herrschaft Karls des Grofien unterwerfen. Was bedeutet 
solche Herrschaft? Sie bedeutet folgendes: Wenn Karl der 
Grofie wieder abgezogen ware, so ware nichts Besonderes 
geschehen gewesen. Solche Stamme, die sich zu Tausenden 
hatten taufen lassen miissen, hatten doch in derselben 
Weise fortgelebt wie fruher. 

Das Mittel, um hier ein Herrschaftsverhaltnis zu begriin- 
den, war die Form, die Karl der Grofie hier der Kirche ge- 
geben. Mittels der Macht der Kirche wurden diese Gebiete 
unterworfen. Bistiimer und Kloster wurden gegriindet, die 
grofie Besitztumer zuerteilt erhielten, welche fruher die 
Sachsen besafien. Die Bebauung wurde durch die Bischofe 
und Abte besorgt; damit trat die Kirche das an, was sonst 
der durch Immunitat geschiitzte, weltliche Grundbesitz ge- 
tan, die richterliche Gewalt. Wenn die Sachsen sich nicht 
fiigten, wurden sie durch neue Einfalle Karls des Grofkn 
gezwungen. So geschah dasselbe, wie im westlichen 
Frankenreich: die kleineren Besitzer konnten sich als 
Einzelne nicht halten, sie schenkten daher was sie hatten 
den Klostern und Bistiimern, um es wieder als Lehen zu 
erhalten. 

Das eine Verh'altnis ist also, daft grofie Besitzungen direkt 
zur Kirche gehorten, wie bei den neugegriindeten Bistii- 
mern Paderborn, Merseburg, Erfurt, die fur den Bischof 
von den Unterworfenen bebaut wurden. Aber auch dieje- 
nigen, welche noch selbst Besitztumer hatten, nahmen sie 
zu Lehen und mufiten immer grofkre Abgaben an die be- 
treffenden Bistiimer und Abteien geben. Damit war hier 
die Herrschaft Karls des Grofien begriindet, ein Macht- 
verhaltnis zustande gekommen, mit Hilfe des grofien Ein- 
flusses, den die Kirche gewann, deren Oberherrscher er war. 

So wie hier dehnte Karl seine Macht auch in andere Ge- 
genden aus. In Bayern gelang es ihm, die Macht des Her- 



zogs Tassilo zu brechen, ihn ins Kloster zu stecken und da- 
mit Bayern in sein Herrschaftsverhaltnis einzubeziehen. 
Die Bayern hatten sich mit den Awaren, einem Volke, das 
man als Nachkommen der Hunnen bezeichnen kann, ver- 
bundet. Karl blieb in diesem Kampfe siegreich und hat 
einen Streifen Landes als Grenzmark gegen die Awaren be- 
festigt, die awarische Mark, das Ursprungsland des heuti- 
gen Osterreich. In eben dieser Weise hat er sich auch einen 
gegen die Danen geschaffen. 

Gegen die Langobarden, die den Papst beunruhigten, 
kampfte er in Italien wie Pippin, er blieb siegreich und be- 
griindete abermals dort ein Herrschaftsverhaltnis. Er ver- 
suchte es auch gegen die Mauren in Spanien. Fast iiberall 
blieb er Sieger. Wir sehen liber die damalige europaische 
Welt die Frankenherrschaft sich begriinden, die wir nicht 
Staat nennen konnen, die blofi die Keime der kiinftigen 
Staatsgewalt enthielt. 

In solchen neugewonnenen Gegenden waren auch Gra- 
fen eingesetzt, die richterliche Gewalt ausiibten. In Gegen- 
den, wo Karl der Grofie abwechselnd seinen Hof abhielt, 
an gesicherten Platzen, die man Pfalzen nannte, waren es 
die Pfalzgrafen, meist Grofigrundbesitzer, die gewisse Ab- 
gaben bekamen von den umhegenden Gebieten. Doch 
nicht nur von Grund und Boden, auch Ertragnisse, die aus 
der Rechtssprechung erwuchsen, fielen ihnen zu. War je- 
mand gemordet worden, so wurde vom Gau- oder Pfalzgra- 
fen das offentliche Gericht zusammengerufen. Ein Ver- 
wandter, oder jemand, der in naherem Verhaltnis zu dem 
Ermordeten stand, fuhrte Klage. Fur Mord konnte damals 
ein gewisses Wehrgeld gezahlt werden, das fiir Freie und 
Unfreie verschieden war, eine bestimmte Summe, die teils 
an die Familie des Gemordeten, teils an den Gau- oder 
Pfalzgrafen gezahlt wurde; ein Teil mufite an die konigliche 



Zentralkasse abgeliefert werden. Fur die gemeinschaftli- 
chen Angelegenheiten, es waren eigentlich nur solche, die 
sich auf Abgaben und Verteidigung bezogen, und zur Be- 
aufsichtigung, waren Landgrafen, die von einem Land zum 
anderen reisten, angestellt, Botschafter ohne besondere 
Funktionen. 

Unter diesen Verhaltnissen bildete sich immer mehr her- 
aus das, was man den Gegensatz nennen konnte zwischen 
dem neuen Grundbesitzeradel und den Horigen, sowie 
denjenigen Freien, die zwar personlich noch frei waren, 
aber in ein scharfes Abhangigkeitsverhaltnis gerieten da- 
durch, dafi sie grofte Abgaben zu zahlen und Heeresfolge 
zu leisten hatten. Diese Verhaltnisse spitzten sich immer 
mehr zu, weltlicher und kirchlicher Besitz dehnten sich im- 
mer weiter aus, und bald schon, im 10., 11. und 12. Jahr- 
hundert, sehen wir das Volk in schwerer Abhangigkeit, 
treffen wir schon auf kleinere Emporungen, Revolten, als 
Vorherverkundigung dessen, was wir als Bauernkriege ken- 
nen. Daft sich dabei die materielle Kultur immer produkti- 
ver entwickelte, werden Sie begreifen. Viele germanische 
Stamme hatten vor der Volkerwanderung noch nicht Ak- 
kerbau betrieben, sondern ihren Unterhalt durch Vieh- 
zucht gewonnen; jetzt entwickelten sie sich immer mehr 
zum Ackerbau; hauptsachlich wurde Hafer und Gerste an- 
gebaut, aber auch Weizen und Lein (Flachs) und so weiter. 
Das ist das Wesentliche, was der alteren Kultur Bedeutung 
gab. Das eigentliche Handwerk gab es damals noch nicht, 
es entwickelte sich erst unter der Oberflache; Weberei, Far- 
berei und so weiter wurden im Hause meist von den Frau- 
en betrieben; Schmiede- und Goldschmiedekunst waren die 
ersten Handwerke, die sich herausbildeten. Noch unbedeu- 
tender war der Handel. 

Eigentliche Stadte entwickelten sich vom 10. Jahrhundert 



ab. Ein geschichtliches Ereignis bereitet sich damit vor. 
Aber das, was von diesen Stadten ausgegangen ist, der Han- 
del, hatte damals keine Bedeutung, hochstens wurde von is- 
raelitischen Kaufleuten ein Handel mit Kostbarkeiten aus 
dem Orient betrieben. Gebrauche des Handels gab es fast 
gar nicht, trotzdem Karl der Grofie schon Miinzen pragen 
liefi. Fast alles war Tauschhandel, bei dem Vieh, Waffen 
und dergleichen Dinge ausgetauscht wurden. 

So miissen wir uns die materielle Kultur jener Gebiete 
vorstellen, und nun werden wir begreifen, warum auch die 
geistige Kultur ein ganz bestimmtes Geprage annehmen 
mufite. All das, was wir uns als geistige Kultur vorstellen, 
gab es in diesen Gegenden weder bei Freien noch bei Hori- 
gen. Jagd, Krieg, Ackerbau war die Beschaftigung der 
Grundbesitzer. Als Symptom hierfiir diene, dafi nicht nur 
die Bauern, sondern Gutsbesitzer, Fursten, Herzoge, Koni- 
ge, selbst Dichter, wenn sie nicht geistlich waren, selten le- 
sen und schreiben konnten. Wolfram von Eschenbach mufi- 
te seine Dichtungen einem Kleriker diktieren und sich von 
ihm vorlesen lassen, und Hartmann von derAue riihmt als 
eine besondere Eigenschaft, dafi er in Buchern lesen konn- 
te. Und bei alien denjenigen, die die weltliche Kultur be- 
sorgten, war nicht die Rede davon, dafi sie lesen und schrei- 
ben konnten. 

Nur im Innersten der Kloster wurde die Pflege der Wis- 
senschaft und Kunst betrieben. Alle anderen waren auf das 
angewiesen was ihnen durch die Geistlichen an Belehrung 
und Predigt geboten wurde. Und das bedingt ihre Abhan- 
gigkeit von Geistlichen und Monchen, es bedeutet die 
Herrschaft der Kirche. 

Wenn wir heute geschildert finden das, was man als «fin- 
steres Mittelalter», Ketzerverfolgungen, Hexenprozesse 
versteht, miissen wir uns klar sein, dafi wir damit von Ver- 



haltnissen sprechen, die erst mit dem 13. Jahrhundert be- 
ginnen. In diesen alteren Zeiten hat so etwas nicht bestan- 
den. Die Kirche fiihrte keine andere Herrschaft als der 
weltliche Grofigrundbesitz. Entweder ging die Kirche 
Hand in Hand mit der weltlichen Herrschaft, war nur ein 
Glied derselben, oder sie war bestrebt, christliche Wissen- 
schaft und Theologie auszubilden. 

Bis der Strom des geistigen Einflusses der Araber kam, 
wurde alles Geistige nur in den Klostern gepflegt; was die 
Monche da drinnen taten, war etwas, das in der Welt drau- 
fien vollig unbekannt war. Drauften wufite man nur von 
der Predigt und einer Art geistiger Unterweisung, die in 
primitiven Schulen stattfand. 

Die Herrschaft der Kirche wurde auch dadurch gefor- 
dert, dafi die Geistlichen alle Verrichtungen, welche Wis- 
sen erforderten, selbst ausfuhrten. Die Monche waren die 
Baumeister; sie schmiickten die Kirchen mit Bildwerken, 
sie schrieben die Werke der Klassiker ab in kunstvoller 
Schrift. Auch die hoheren Beamten, die Kanzler der Kaiser, 
waren zum grofien Teil Monche. 

Nun zu dem, was in den Klostern geschah. Eine Form 
der Bildung, die dort in den Klostern gepflegt wurde, war 
die Scholastik, eine spatere die Mystik. Diese Scholastik, 
die bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts ihre Bliite hatte, hat 
ein Ungeheures vollbracht, sie hat ein streng geschultes 
Denken wenigstens bei einem Stande hervorzurufen ver- 
mocht. Das ist der grofie Unterschied zu dem, was spater 
gekommen ist. Es waren harte Priifungen zu bestehen, nie- 
mand konnte ohne harte Proben absolut logischer Schu- 
lung des Denkens weiterkommen; an dem geistigen Leben 
konnte nur der teilnehmen, der wirklich logisch denken 
konnte. Das wird heute nicht geachtet. Aber tatsachlich 
war es dies logische folgerichtige Denken, das, als die mau- 



risch-arabische Kultur nach Europa kam, es bewirkte, dafi 
diese Wissenschaft geschultes Denken vorfand. Die Denk- 
formen, mit denen die Wissenschaft heute arbeitet, sie sind 
dort gefunden, es sind die wenigsten Ideenformen, die nicht 
von dort stammen. 

Die Begriffe, mit denen noch heute die Wissenschaften, 
wie Chemie, Medizin, Philosophic operieren, wie Subjekt 
und Objekt, wurden damals gefunden. Eine Trainierung 
des Denkens, wie sie sonst in der Weltgeschichte nicht vor- 
kommt, wurde da ausgebildet. Der heutige scharfe Denker 
verdankt, was heute in den Adern seines Geistes fliefit, 
jener Trainierung, die zwischen dem 5. und 14. Jahrhun- 
dert gepflogen wurde. Nun mag es jemand als ungerecht 
empfinden, dafi die grofie Menge damals nichts von alle- 
dem hatte, allein der Gang der Weltgeschichte geht nicht 
nach Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, sondern folgt 
dem grofien Gesetz von Ursache und Wirkung. So sehen 
wir zwei streng nebeneinanderlaufende Stromungen auch 
hier: erstens die materielle Kultur draufien mit absoluter 
Unwissenschaftlichkeit, und zweitens eine fein ziselierte 
Kultur bei einigen wenigen innerhalb der Kirche. Und 
doch beruhte die Stadtekultur auf dieser streng scholasti- 
schen Denkweise. Die Manner, die den grofien Urn- 
schwung herbeifiihrten, entstammten ihr: Kopernikus war 
Domherr, Giordano Bruno Dominikaner und so weiter. 
Ihre und vieler anderer Bildung, ihre formale Schulung 
wurzelte in diesem Geist der Kirche. Nicht Machtige, nicht 
Bischofe und reiche Abte, sondern einfache Monche waren 
es, die die Wissenschaft fortpflanzten, arme Monche, die in 
der Vergangenheit lebten und die den Druck der Machtigen 
oft zu spiiren hatten. 

Die Kirche, die sich mit den aufieren Machten verbiinde- 
te, mufite sich vermaterialisieren, sie mufite dazu greifen, 



ihre Lehre und ganzes Wesen zu verweltlichen. Es gab in 
den altesten Zeiten bis zu dem 12. Jahrhundert nichts, was 
erhabener, feierlicher war fiir den Christen als das Abend- 
mahL Es sollte ein dankbares Erinnerungsopfer sein, ein 
Symbol fiir die Verinnerlichung des Christentums. Da kam 
jene Verweltlichung, jenes Unverstandnis solchen hohen, 
geistigen Tatsachen gegeniiber, vor aliem den Festen gegen- 
iiber. Im 9. Jahrhundert lebte im Lande der Franken, am 
Hofe Karls des Kahlen, ein sehr bedeutender, christlicher 
Monch aus Irland, Scotus Erigena, in dessen Buche «Von der 
Einteilung der Natur» wir eine Fiille von Geist und Tief- 
sinn finden, freilich nicht von dem, was das 20. Jahrhun- 
dert unter Wissenschaft versteht. Er hatte zu kampfen ge- 
gen eine feindliche Richtung in der Kirche. Er verteidigte 
die alte Lehre, dafi das Abendmahl die Versinnbildlichung 
des hochsten Opfers bedeutete. Eine andere, materielle 
Auffassung bestand und wurde von Rom protegiert, daft 
Brot und Wein sich wirklich in Fleisch und Blut verwan- 
deln. Unter dem Einfluft der vor sich gehenden Vermate- 
rialisierung entstand das Abendmahlsdogma, doch erst im 
13. Jahrhundert wurde es offiziell. 

Scotus mufite nach England fliichten und wurde auf Be- 
treiben des Papstes im eigenen Kloster von den verbriider- 
ten Monchen hingemordet. Das sind Kampfe, die sich nicht 
innerhalb der Kirche, sondern durch das Eindringen des 
weltlichen Einflusses abspielen. Sie sehen, das, was geistiges 
Leben war, war beschrankt auf einige wenige und unoffen- 
bar der grofien Masse, auf der ein immer steigender Druck 
lag von weltlichen und geistlichen Grundbesitzern. Auf 
diese Weise mehrte sich die Unzufriedenheit immer mehr. 
Es konnte nicht ausbleiben, dafi sich in den von zwei Seiten 
abhangigen Leuten die Unzufriedenheit haufte. Draufien 
auf dem Lande, auf den Bauernhofen entstanden immer 



neue Ursachen zur Unzufriedenheit. Kein Wunder, dafi 
sich die kleinen Stadte, wie sie am Rhein und an der Donau 
schon vorhanden waren, immer mehr vergrofterten und 
neue sich bildeten durch das Abstromen derer, die es auf 
dem Lande nicht mehr aushalten konnten. Was den Grund 
zur Umgestaltung soldier Verhaltnisse bildete, war der Ab- 
flufi der nach Freiheit diirstenden Bevolkerung. 

Eine rein materielle Veranlassung war es, aus der die stad- 
tische Kultur entstand. Die geistige Kultur blieb vorlaufig 
unberiihrt; viele Stadte entwickelten sich auch um die Bis- 
tumer und Kloster. Aus der stadtischen Kultur entstand al- 
les, was Handel und Gewerbe im Mittelalter begriindete 
und nachher ganz andere Verhaltnisse herbeifuhrte. 

Das Bedurfnis nach unmittelbarem Ausleben der 
menschlichen Personlichkeit gab Anlaft zur Griindung der 
Stadte. Das war ein machtiger Schritt auf der Bahn zur Frei- 
heit, wie ja nach dem Worte Hegels die Geschichte die Er- 
ziehung des Menschengeschlechts zur Freiheit bedeutet. 

Und wenn wir die Geschichte des Mittelalters weiter ver- 
folgen, werden wir sehen, dafi diese Begriindung der Stadte- 
kultur nicht einen kleinen, sondern einen groften Schritt 
auf dieser Bahn vorwarts bedeutet. 



Sechster Vortrag, 6. Dezember 1904 

Die Geschichte des Mittelalters ist deshalb fur die menschli- 
che Betrachtung so aufierordentlich wichtig, weil wir es 
mit einem Zeitraum zu tun haben, den wir schon besser er- 
forschen konnen, in dem wir die menschliche Entwicke- 
lung verfolgen konnen vom einfachen Ursprung aus bis zur 



Entstehung dessen, was wir Staaten nennen. Und aufier- 
dem haben wir hier em Ineinandergreifen der mannigfaltig- 
sten Faktoren. Innerhalb einfacher Verhaltnisse lebt sich 
ein fertiges Kulturgebilde ein, wie es das Christentum ist. 
Aus dem Zustande der Barbarei sehen wir immer mehr das 
sich entwickeln, was als Bliite der Kultur des Mittelalters 
erscheint, was wir als Erfindungen kennen. 

Zu diesen auf dem Wege der Volkerwanderung durchein- 
andergewurfelten Volkerschaften sehen wir auf einem 
komplizierten Umwege dasjenige kommen, was man heute 
mit «Wissenschaft» bezeichnet. Das Mittelalter hatte eine 
grofie Erbschaft angetreten. Zwar war von dem, was wir als 
griechische Kultur kennengelernt haben, nichts vorhanden 
geblieben als einige Traditionen auf Plato zuriickgehend 
und durch die Brille der christlichen Anschauungen gese- 
hen. Dagegen war ein machtiges Erbe aus der Zeit des ro- 
mischen Reiches geblieben: das machtige Staatengebilde 
mit seiner Verwaltung und Rechtspflege von einer Einheit- 
lichkeit und Geschlossenheit, wie sie nie zuvor in der Welt- 
geschichte aufgetreten waren, wie wir sie im ganzen Mittel- 
alter auch nicht finden; erst in der Neuzeit, die sich sonst so 
viel auf ihre Freiheit einbildet, begegnen wir einer solchen 
Ausdehnung der Staatsgewalt. Das, verbunden mit jener 
anderen idealistischen Kulturbewegung, die allmahlich das 
romische Reich durchdrungen und aufgesogen hatte, kam 
zu Volkern, die nichts hatten von irgendeiner ahnlichen 
Bildung, und dazu von der Volkerwanderung entwurzelt 
waren. Alle diese Volkerstamme, Goten, Heruler, Lango- 
barden, Franken, Sachsen und so weiter, waren etwas ganz 
anderes, vollig im Kindheitsstadium geblieben, im Ver- 
gleich zu jenen Romern. 

Eine Art Naturleben, beschrankt auf Jagd und Kriegfuh- 
rung, fuhrten sie ohne festes Recht und Gesetz. Ein grofier 



Ubergang fand nun statt in den Verhaltnissen und An- 
schauungen dieser Volkerschaften, die in kleinen Verban- 
den zusammenlebten. 

Was hielt diese einzelnen Stamme zusammen? Das 
Andenken an irgendeinen Ahnen, der dem Stamme den 
Namen gegeben hatte, an machtige Geschlechter, die sich 
in alten Kampfen oder bei Eroberung des neuen Landes 
hervorgetan hatten, und dem Stamm das geliefert, was man 
Grafen, Fiirsten, Herzoge nennt. 

Dieser Ubergang driickt sich nun darin aus, da£ man den 
gemeinsamen Boden liebt. Sie fangen an, mehr Wert auf die 
Gemeinsamkeit des Landbesitzes zu legen als auf die Bluts- 
verwandtschaft . 

An die Stelle der Stammeszugehorigkeit tritt das, was wir 
Dorfgemeinschaft nennen. Auf dem Grund und Boden be- 
ruht das gesamte materielle Leben. Handel und Gewerbe 
gibt es noch nicht.Was diese Menschen davon notig haben, 
wird nebenbei besorgt von den Frauen, den jungen Leuten 
und Sklaven. Der grofke Teil der Bevolkerung kannte gar 
nichts anderes als den Ackerbau und haufige Kriegsziige. 
Sie hatten keine Ahnung von dem, was wir heute Kultur 
nennen, keine Ahnung von dem, was wir als die erste For- 
derung derselben ansehen, von Lesen und Schreiben. Es 
wird Karl dem Grofien als besonderes Verdienst angerech- 
net, dafi er sich bemuhte, im Alter noch Lesen und Schrei- 
ben zu lernen, Alles, was an Bildung vorhanden war, lag in 
den Handen der romischen Bevolkerung in den Gegenden, 
die erobert worden waren. Aus ihnen ging das Beamtentum 
hervor, daher der Einflufi der romischen Rechtsanschauun- 
gen. So war es in den westlichen Gegenden; anders im 
Osten. Dort, in den heutigen deutschen Gebieten, hatte 
sich das urspriingliche germanische Wesen von diesen Ein- 
fliissen frei gehalten. Die ungebrochene Kraft der thuringi- 



schen und sachsischen Stamme war etwas, mit dem alles im 
Mittelalter zu rechnen hatte. 

Das einzige, was hierher eine Bildung brachte, war das 
Christentum. Doch eigentliche Wissenschaft, wie Mathe- 
matik, Naturwissenschaft und so weiter war nicht darin 
einbegriffen. Moralische, religiose Bildung brachte es. Die 
moralischen, ethischen Begriffe hinzugefiigt zu haben, war 
das Verdienst des Christentums. Namentlich innerhalb des 
am meisten begunstigten Frankenstammes war der Einflufi 
des Klerus, besonders der hereinziehenden, gelehrten kelti- 
schen Monche, ein sehr grower. Bei diesem Stamme, der 
durch die Gunst der Umstande in ein freies Land gefiihrt 
wurde, wo er seine Eigenart in noch grofienteils unbebau- 
ten Gegenden ausleben konnte, sehen wir am besten, wie 
diese Umwandlung sich vollzieht. Die Umwandlung von 
kleineren zu grofieren Gemeinschaften kam hier zustande. 
Grafen und Fiirsten eroberten immer neue Gebiete, und 
belehnten kleine Besitzer mit Teilen ihres Besitzes. Da- 
durch breitete sich die Macht der grofien Grundbesitzer 
immer mehr aus. Eine Art Gerichtsbarkeit und Verfassung 
entstand aus der Ubertragung urspriinglich rein privat- 
rechtlicher Verhaltnisse. Was urspriinglich die irischen und 
schottischen Monche antrieb, war der heilige Glaubensei- 
fer, der Gedanke, fiir das Heil der Menschheit zu wirken. 
Das alles anderte sich. Das Frankentum konnte auch das 
Christentum nur als Machtmittel begreifen. 

Besonders Karl der Grofie benutzt die Kirche dazu, sein 
Gebiet zu vergroftern. Irgendein Bischof, den er einsetzte, 
war zumeist bestimmt, ein Werkzeug seiner Herrschaft zu 
sein. Anfangs wurde die Kirche nur von Glaubenseifer, von 
wirklicher Uberzeugung geleitet, spater unter dem Einflufi 
der aufieren Gewalt, suchte sie selbst ein Machtverhaltnis 
zu erringen. So war der Bischof erst ein dienendes Glied der 



Kirche, spater selbst ein Herrscher und Grundbesitzer. So 
zeigt sich uns das Mittelalter etwa zur Zeit Karls des Gro- 
fien. Aber wir diirfen nicht von einem Reiche Karls des 
Grofien sprechen, wie wir heute von Reichen sprechen. 
Der Grofigrundbesitz gibt die Moglichkeit, Grundbesitz an 
andere zu iibertragen. Neue Gebiete werden erobert und 
ergeben neue Moglichkeiten, die Macht zu vergrofiern 
durch neue Ubertragungen. So entstehen hofische Ge- 
richtsbeamte. An die Stelle der alten Gaugerichte treten 
Hofgerichte mit kaiserlichen Grafen, oder wenn sie von 
Bischofen ernannt werden, Vqgten. 

Dazwischen haben wir immer noch unabhangige Stam- 
me, die an ihren alten Herzogen, ihren selbstgewahlten 
Gerichten festhielten. 

So war es noch beim Tode Karls des Grofien, so blieb es 
unter seinem Sohne Ludwig dem Frommen. Das sehen wir 
aus seinem Verhaltnis zu seinen drei Sohnen Lothar, Pip- 
pin und Ludwig; er teilt sein Reich wie einen privaten Be- 
sitz unter die drei. Und als er aus einer zweiten Ehe noch 
einen Sohn erhait und eine abermalige Teilung vornimmt, 
erheben sich seine alteren Sohne gegen ihn, besiegen ihn in 
der Schlacht auf dem Lugenfelde und zwingen ihn, dem 
Thron zu entsagen, um sich ihren Besitz nicht schmalern 
zu lassen. Wir ersehen deutlich, was es mit einem damali- 
gen Staate auf sich hatte. Wir sehen auch, welch falsches 
Bild das gibt, was in der Geschichte von dieser Zeit ge- 
wdhnlich erzahlt wird. Es waren rein privatrechtliche 
Streitigkeiten, die Kampfe, die sich damals abspielten, und 
die eigentlichen Volker wurden zwar bei solchen Feld- 
ziigen durch die Heeresmassen gestort und beunruhigt, 
aber fur den Fortschritt der Menschheit haben alle diese 
Kampfe in der nachkarolingischen Zeit keine wirkliche 
Bedeutung. 



Dasjenige, was aber eine wirkliche Bedeutung hatte, war 
der Gegensatz, der sich herausgebildet hatte zwischen dem 
Frankenreiche und dem Reiche, das Deutschland und 
Osterreich umfalke. Im Westreiche war allmahlich ein 
Kampf entstanden zwischen dem weltlichen Adel und der 
herrschenden kirchlichen Macht. Der gebildete Klerus lie- 
ferte dasjenige, was man friiher aus den Resten der romi- 
schen Bevolkerung entnommen hatte: die hoheren Hofbe- 
amten, die Schreiber bei den Gerichten und so weiter. Sie 
alle besaften eine ganz gleichformige, aus den Klostern her- 
vorgehende Bildung, - Neben diesem gebildeten Klerus 
gab es eine grofie ungebildete Masse, die ganz abhangig war 
von den so ausgebildeten Geistlichen. - Es war die ganze 
Bildung jener Zeit, die hervorgegangen war aus dem, was in 
den Klosterschulen gelehrt wurde. Die christliche Theolo- 
gie umfalke eine Siebenzahl der Wissenschaften, drei nie- 
dere und vier hohere. 

So sehen wir draufien im Lande ein nur Krieg und Acker- 
bau treibendes Volk; in Kirchen, Schulen und Amtern lebt 
das, was den Klosterschulen entstammt. Hier in den Kleri- 
kerschulen werden diese Wissenschaften gelehrt; die drei 
niederen waren: Grammatik, Logik und Dialektik. Die 
Grammatik war die Lehre von der Sprache, die Logik, die 
Denklehre, die sich in der gleichen Gestalt von Griechen- 
land aus in den Klostern des Mittelalters bis in das 19. Jahr- 
hundert erhielt, wahrend man sie heute fur uberfltissig 
erachtet. An die Logik reihte sich dann die Dialektik, die 
ganz aus dem Bestande der heutigen Wissenschaft ver- 
schwunden ist. Die mittelalterliche Bildung ruhte in der 
Dialektik, die mufke jeder lernen und beherrschen, der et- 
was in dem geistigen Leben leisten wollte. Die Dialektik ist 
die Kunst, gegeniiber Angriffen eine Wahrheit in regelrech- 
ter Weise zu verteidigen. Die Gesetze der Vernunft miissen 



gekannt werden, urn dies tun zu konnen. Nicht mit Schein- 
griinden konnte gearbeitet werden, wo es gait, eine Wahr- 
heit dauernd zu verteidigen; es war nicht die Zeit der Zei- 
tungen, wo Griinde von heute nur bis morgen gelten. 

Aus der Dialektik stammt, was man wissenschaftliches 
und gelehrtes Gewissen nennen kann, und das sollte jeder 
haben, der in der Wissenschaft mittun will. Nicht alles 
und jedes lafit sich in vernunftgemafier Weise verteidigen; 
darin lag die grofie Bedeutung dieser Schulung, hier gewis- 
senhaft zu unterscheiden. Spater ist das allmahlich ausge- 
artet, so dafi es im spateren Mittelalter dahin kommen 
konnte zum Beispiel, daft sich jemand erbot, irgendeine 
Wahrheit vierundzwanzig Stunden lang gegen die Angriffe 
samtlicher Professoren, Studenten und Laien von Paris zu 
verteidigen. 

Geschult durch die Dialektik waren diejenigen, die zum 
Richterberuf kamen, weniger die Vorsitzenden der Gerich- 
te, als diejenigen, die die Urteile ausfertigten. 

Wenn Goethe im Anfang des «Faust» ihn sagen lafit: 
«Zwar bin ich gescheiter als alle die Laffen, Doktoren, Ma- 
gister, Schreiber und Pfa£fen», so kennzeichnet er damit die 
Wurden und Amter, zu denen man damals durch eine wis- 
senschaftliche Ausbildung gelangte. «Doktor» war derjeni- 
ge, der sein Wissen selbstandig verwenden konnte. Magi- 
ster war derjenige, der an den Hochschulen unterrichten 
durfte. Schreiber waren alle, die im weltlichen Dienste 
beschaftigt waren, gleichviel ob in hoherer oder niederer 
Stellung. Pfaffen waren alle Geistlichen. Das Wort Pfaffe 
war in jenen Zeiten noch kein Schimpfwort, sondern ein 
Ehrentitel. So nennt noch im 14. Jahrhundert der Meister 
Eckhart Plato den grofien griechischen Pfaffen, 

Die vier hoheren Wissenschaften waren Geometrie, 
Arithmetik, Astronomie und Musik. 



Geometrie ist Raumlehre. Arithmetik ist hoheres Rech- 
nen, auch Astronomie entsprach ungefahr dem, was wir 
heute darunter verstehen. Musik aber war nicht das gleiche, 
was wir heute so nennen. Musik war die Wissenschaft von 
der Harmonie des Weltenalls. Man glaubte, daft das gesam- 
te Weltenganze in harmonischen Verhaltnissen zu seinen 
einzelnen Bestandteilen stehe. Alle diese Verhaltnisse, die 
sich durch Zahlen ausdriickten, suchte man aufzufinden. 
Wie auch in der Tat die Farben, Tone und so weiter auf be- 
stimmten Zahlen beruhen. Man suchte nun in der Musik 
uberall die Gesetze der Harmonie, die rhythmischen Ver- 
haltnisse; der Zusammenklang der Weltgesetze wurde 
gelehrt. 

So habe ich versucht, Ihnen eine Vorstellung zu geben 
von dem, was der durch Bildung herrschende Stand trieb. 
Diese Bildung gewann immer mehr die Oberhand in dem 
Westreich, das wir jetzt Frankreich nennen. Anders in 
Deutschland. Diese Stamme waren ungebrochen geblieben, 
sie hatten sich ihre einfachen Sitten gewahrt, ihre Freiheit 
grofkenteils erhalten. Die Schattenseite dieser primitiven 
Verhaltnisse aber war, dafi hier der Klerus ungebildet war, 
und daher sich dazu verwenden liefi, ein Machtmittel in 
den Handen der Herzoge und Kaiser abzugeben. 

Die Herrschaft des Westreiches blieb bei den Karolin- 
gern. Doch die Herrscher aus diesem Hause wurden immer 
minderwertiger. Zuletzt zeigte sich besonders die Unfahig- 
keit dieser karolingischen Herrscher, als von Norden her 
kriegerische Seerauber, die Normannen, das Land beunru- 
higten. Diese Normannen drangen von der Miindung der 
Fliisse aus, der Elbe und Weser, in das Land, pliinderten 
uberall die Kusten, besonders in Frankreich, wo sie die 
nordlichen Gegenden besetzten und bis nach Paris vor- 
drangen. Dazumal regierte Karl III., der sich vollstandig un- 



fahig zeigte, etwas gegen dieses Volk zu unternehmen. Des- 
halb war es ein Leichtes, dafi ein unbekannter Herzog in 
Osterreich, Amulf von Kdrnten, der Karolingerherrschaft 
ein Ende machen und sich die Herrschaft aneignen konnte. 
Zuerst genoft er grofies Ansehen, da es ihm gelang, die Nor- 
mannen zu besiegen. Aber die Eifersucht unter den Fiirsten 
war so grofi, dafi sich Arnulf bequemen mufite, sich an die 
Kirche zu wenden und einen Bund mit ihr zu schliefien. Er 
mufite einen Zug nach Italien machen und sich uberhaupt 
ihrer Herrschaft in vielen Stiicken unterwerfen. Die Folge 
ist dann, dafi wir nach seinem Tode sehen, wie die Kirche 
sich ihrer Macht bedient. Nicht ein weltlicher FUrst oder 
Graf, sondern der Erzbischof Hatto von Mainz wird der 
Vormund seines Sohnes, Ludwig des Kindes. Er tritt damit 
in all die Herrscherrechte ein, und von da an sehen wir den 
Grund gelegt fur die Herrschaft der Kirche, die nicht mehr 
nur ausgebeutet wird von den weltlichen Herrschern, son- 
dern sich immer mehr einfugt in weltliche Herrschaft und 
weltliche Gerichtsbarkeit ausiibt. Die Folge davon war, 
dafi jener Kampf zwischen weltlicher und kirchlicher 
Macht heraufdammerte, und damit sich jene wichtige Ge- 
schichtsperiode einleitet, der Kampf zwischen Kaiser und 
Papst. 

Es ist falsch, wenn herkommliche Geschichtsbeschrei- 
bung diese beiden Machte als etwas voneinander ganz Ver- 
schiedenes darstellt. Sie sind nur Rivalen im Streite um au- 
Eere Macht. Es sind gleiche Machte, die in derselben Rich- 
tung wirken. Wir haben es nicht zu tun mit einem Streit 
zwischen geistlicher und weltlicher Macht, sondern mit 
einem Streit der weltlich gewordenen Kirche mit weltlicher 
Macht. Zwei sich ausbreitende Machtrichtungen sehen wir, 
und als dritte sehen wir die «freien Stadte» entstehen, die 
iiber ganz Europa sich ausbreiten. 



Siebenter Vortrag, 13. Dezember 1904 



Vor acht Tagen habe ich Ihnen den Gegensatz entwickelt 
zwischen dem West- und dem Ostreich, zwischen dem, was 
heute Frankreich, und dem, was heute Deutschland und 
Osterreich ist, wie es sich im 8., 9. und 10. Jahrhundert her- 
ausgebildet hatte. 

Wir haben gesehen, dafi sich die beiden Reiche dadurch 
unterschieden, dafi im Westreiche die alte romische Kultur 
ihre Spuren hinterlassen hatte und die Kirche bald zu einer 
Herrschaft gelangte, indem sie selbst Grofigrundbesitz er- 
warb. So kam es zum Kampf des Laienadels mit der aufstre- 
benden Kirche. Vor allem haben wir es zu tun mit einer an- 
deren Art von Kirche. Sie war mit machtigem Groftgrund- 
besitz ausgestattet worden, vorzliglich durch Karl den Gro- 
fien, so dafi die Kirche zum Bundesgenossen der weltlichen 
Herrschaft wurde, weil sie in die feudalen Verhaltnisse 
nach oben wie nach unten gebracht worden war. 

Die Unterworfenen waren in ein Lehensverhaitnis zu 
den Uberwindern gekommen; die Adeligen entwickelten 
sich zu Lehensleuten der Konige, und so hatte sich das K6- 
nigreich immer mehr ausgebildet. Fortwahrend hatte das 
Westreich mit dem Gegensatz zwischen den Lehensleuten 
und der Kirche zu schaffen, Anders im Ostreich. Hier war 
das alte Unabhangigkeitsempfinden, das Freiheitsgefiihl 
noch wach geblieben, so dafi die Stammesherzoge sich 
durchaus nicht bequemen wollten, in ein Abhangigkeits- 
verhaltnis zu treten. So ist das 9., 10. und 11. Jahrhundert 
damit ausgefullt, dafi die sogenannten Konige, die zwar ge- 
wahlt, aber eigentlich nur ihrem Namen nach Konige wa- 
ren, fortwahrend damit zu tun hatten, die Stammesherzoge 
in ihre Abhangigkeit zu bringen. 

Die Geschichte erzahlt viel von solchen Kampfen. Auf 



die Karolinger folgte nach dem Franken Konrad das sachsi- 
sche Konigshaus, und es wird viel von den Taten Heinrichs 
L, Ottos L, II. und III. und Heinrichs II. erzahlt, sowie der 
darauffolgenden frankischen Konige, Konrads II., Hein- 
richs III., IV. und V. Diese Konige, die im Ostreich gewahlt 
werden, hatten ja nicht irgendwie in die Verfassung, die 
Gesetzgebung der Stamme hineinzureden; auch keine Ju- 
stizgewalt stand ihnen zur Verfiigung. So ist es viel wichti- 
ger, wenn man weifi, was eigentlich das Reich damals zu 
bedeuten hatte, als dafi man sich von den einzelnen Kamp- 
fen eine genaue Vorstellung bildet. 

Vorhanden waren grofiere Herzogtumer. Sie sind ent- 
standen auf die geschilderte Art. Bei der urspriinglichen 
Wanderung in diese Gegenden waren einzelne, die grofien 
Grundbesitz erworben hatten, immer machtiger gewor- 
den, kleinere Besitzer wurden von ihnen abhangig, muft- 
ten ihren Besitz als Lehen ubergeben und dann Abgaben 
zahlen. 

So hatten die Stammesherzoge allmahlich den kleinen Be- 
sitz eingezogen und dadurch, daft sie von dem grofien 
Grundbesitz anderen etwas zum Lehen gegeben, sich das 
Recht zugesichert, dafi sie ihnen eine bestimmte Anzahl 
von Kriegsleuten zur Verfiigung stellten, eine bestimmte 
Summe zu zahlen hatten. 

So waren durch die Aufsaugung des kleineren Grundbe- 
sitzes durch den grofien die Herzogtumer Sachsen, Fran- 
ken, Schwaben, Bayern und so weiter entstanden. Allmah- 
lich ging auch die Gerichtsbarkeit von den Gaugerichten an 
die sogenannten Hofgerichte uber, die die Herzoge ihren 
Lehensleuten und Bauern aufgedrangt hatten. Die Kirche 
mufke, ihren Vorschriften nach, ihre Gerichtsbarkeit 
durch Vogte ausiiben lassen. Auch der Konig war nichts an- 
deres als ein grofier Grundbesitzer. Er hatte Vasallen, Hee- 



resgefolge, das er in seine Botmafiigkeit gezwungen, ferner 
Domanengiiter erworben und damit da und dort sich Herr- 
schaftsverhaltnisse begriindet. Das Verhaltnis des Herzogs 
zum Konig war auch nur das eines Vasallen, indem er be- 
stimmte Abgaben an den Hof lieferte, bestimmte Ertragnis- 
se der herumziehenden Hofhaltung zur Verfiigung stellte. 
Gerichtsbarkeit war Herzogssache. Nur in den Grenzge- 
bieten gegen die Magyaren, Wenden und Danen zu wurde 
die Gerichtsbarkeit durch konigliche Mark- und Pfalzgra- 
fen ausgeiibt. Grofie Staaten mit einheitlicher Verwaltung, 
einheitlichem Heere gab es nicht. Daher ewige Kriege der 
Konige gegen die unbotmafiigen Herzoge, welche nicht 
Abgaben leisten wollten. Da war es notig geworden, daft 
allmahlich die Kirche herangezogen wurde. 

Es war vereinbar mit der Frommigkeit, daft ihr Lasten 
fur den Konig auferlegt wurden. Otto I. war es besonders, 
der bei aller Frommigkeit, bei aller kirchlichen Glaubigkeit 
die Kirche notigte, Abgaben zu leisten. Die Bistiimer wur- 
den gezwungen, sich in derselben Weise wie die anderen 
Lehensleute zu verhalten. Der kirchliche Besitz wurde in 
zwei Glieder geteilt, von denen ein Teil von Horigen be- 
baut wurde fur den Bischof, zu dem sie' in vollige Abhan- 
gigkeit geraten waren. Ein anderes Gebiet blieb in lose- 
rem Verhaltnis; dort mufiten die Bauern im Namen des 
Bischof s fur den Kaiser das Feld bestellen. 

Immer mehr sahen sich die Kaiser durch neue Feinde ge- 
notigt, die Kirche zu einem engeren Verhaltnis heranzuzie- 
hen. Machtige Feinde bedrohten Mitteleuropa. Die Nor- 
mannen hatten, nachdem sie immer wieder die Volker 
beunruhigten, nachdem sie von Arnulf von Karnten in der 
Schlacht bei Lowen besiegt worden waren und sich die Bre- 
tagne erworben hatten, aufgehort mit ihren Einfallen. Da- 
gegen brachen jetzt von Osten finnisch-ugrische Volker- 



schaften herein, die Magyaren, deren Einfalle einen unbe- 
schreiblichen Schrecken verursachten. Alle Berichte erzah- 
len von der entsetzlichen Brutalitat ihrer Eroberungsziige. 
Das Verdienst, sie zuriickgeschlagen zu haben, wird ge- 
wohnlich Heinrich I. und Otto I. zugeschrieben. Es ist dies 
bis zu einem gewissen Grad richtig. Die Einfalle der 
Magyaren waren nicht etwas, was einer spateren Kriegs- 
fiihrung und Kriegserklarung ahnlich sehen konnte. 

Als die Magyaren hereinbrachen, waren die Herzoge ge- 
rade besonders unbotma£ig, und Heinrich I. mufke sich 
deshalb erst einen Waffenstillstand erbitten, um sich ein 
wenigstens einigermaften einheitliches Heer zu schaffen. 
Dieser Zusammenschlufi wurde nur auf dem Gebiete des 
Heereswesens durch die dringende Not bewirkt. 

Heinrich I. wird gewohnlich als der Stadtegriinder gefei- 
ert; es ist dies eine schiefe Darstellung. Damals begann die 
allgemeine Stadtegriindung iiber ganz Europa, und Hein- 
rich I. folgte nur dem Zuge der Zeit, wenn er diese Bewe- 
gung unterstiitzte. 

Wir haben gesehen, wie die Gerichtsbarkeit allmahlich 
auf die Grundherren, die Herzoge und Konige iiberging. 
Immer unwiirdigere Verhaltnisse traten ein. Eine Menge 
Leute, welche friiher freie Bauern waren, mufken alles, was 
sie hatten hingeben, um in die Botmafiigkeit der Grofi- 
grundbesitzer zu treten. Sie wurden dort, aufier zum 
Ackerbau, als Boten, Handwerker und im Kriegsdienst 
verwendet. 

Namentlich durch die gesteigerte Ertragsfahigkeit des Bo- 
dens, die durch die Verwendung dieser vielen Arbeitskrafte 
immer grower wurde, entstand eine Art von Handel. Zu- 
gleich bildete sich ein besonderer Handwerkerstand heran. 
Das gab es vorher gar nicht; wie schon erwahnt, wurden 
die notwendigen Arbeiten im Hause von Sklaven und 



Frauen besorgt. Hochstens das Schmiede- und das Gold- 
schmiedehandwerk war vorhanden. Aber jetzt durch diese 
Art des Ubertragens bildete sich ein neuer Stand von Hand- 
werkern und Handelsleuten heran. An den Orten, wo ge- 
eignete Markte waren, entstanden Ansiedelungen, feste 
Platze wurden gegriindet iiberall in ganz Europa. Hierzu 
kam die Unzufriedenheit der unwiirdig behandelten Men- 
schen, so daft der Andrang nur grofier wurde. Dieser Zug 
der Zeit zwang den Konig, sich auf die Stadte zu stiitzen. 

Man brauchte ein Reiterheer gegen das Reitervolk der 
Magyaren. Dieses Reiterheer bildete den Grund fur den 
Ritterstand, der damals entstand. Man mufi alles dies zu- 
sammenfassen, um ein wirkliches Bild zu gewinnen, wie 
damals alles verlief. Dies 1st wichtiger als die ausfiihrliche 
Wiirdigung jener Kampfe. 

In den Schlachten auf dem Ried 933 und auf dem 
Lechfelde 955 wurden die Magyaren besiegt und erlitten 
eine so furchtbare Niederlage, dafi ihnen tatsachlich die 
Lust zu weiteren Einfallen vergangen war. Sie gnindeten 
sich in der Donaugegend im heutigen Ungarn ein Reich. 
Seitdem waren die Kaiser gezwungen, sich auf die Kirche 
zu stiitzen, das Christentum wurde politisch ausgenutzt. 
Die Magyaren wurden zum Christentum bekehrt, beson- 
ders von dem Bistum Passau aus. Will man verstehen, 
was damals in den Seelen entstand, mufi man nicht mit 
spateren Begriffen rechnen. Es lebte ein intensiver Glau- 
be, ein bis zur Schwarmerei gesteigertes religioses Emp- 
finden in dem Herzen des Volkes. Es horte in alien Din- 
gen auf die Geistlichen, von denen es sich in alien Ange- 
legenheiten leiten liefi. Die Herzoge und Konige unter- 
stiitzten diese Art von Unterwurfigkeit* Von Karl dem 
Grofien an hat man mit dieser Herrschaft iiber die Seele 
gerechnet. - So wurde der Klerus bester und starkster 



Ratgeber und nistete sich in die Seelen und Herzen des 
Volkes ein. 

Dazu kam, dafi in der damaligen Zeit durch die Araber 
ein starker Einflufi stattfand, nicht nur, wie friiher geschil- 
dert wurde, durch wissenschaftliche, sondern auch durch 
gewisse literarische Einfliisse, durch die ein neuer Seelen- 
zug in das Mittelalter hineinkam. Ein grofier Kreis von Sa- 
gen, Marchen Legenden, Gefiihlen und Bildern wurde in 
die Volksseele verpflanzt, und dieser seelische Einflufi vom 
Orient nach Europa war ein so intensiver, dafi wir sehen, 
wie die ursprungliche rauhe Seele des Germanen mildere 
Gesittung annahm, und dafi ihre Frommigkeit durchtrankt 
wurde von einem Element von grofier Bedeutung: das war 
der Marienkultus und der sich daraus entwickelnde Frauen- 
dienst. Wer das nicht wtirdigt, weifi gar nichts von der Ge- 
schichte des Mittelalters. Ef verschliefk die Augen vor Tat- 
sachen wie der, dafi grofie Volksmassen manchmal ergrif- 
fen wurden von epidemischer Furcht. Von einer solchen 
Furcht wurde das Volk ergriffen urn das Jahr 1000 - wah- 
rend der Regierung Kaiser Ottos HI. -, welches den Welt- 
untergang bringen sollte. Dieses grofte Ereignis, fur das 
man sich durch Bufiubungen und Wallfahrten vorbereiten 
wollte, erregte ganz Deutschland. Kaiser Otto III. selbst 
unternahm eine Wallfahrt zu dem Grabe des heiligen Adal- 
bert von Preufien. All das ergab sich aus der damaligen 
Volksseele. Wer das nicht versteht, versteht auch nicht die 
Entstehung der spateren Kreuzziige. Man hat auch hier ma- 
terielle Beweggriinde gesucht; aber der redet an der Sache 
vorbei, der sie nicht von dieser Seite betrachtet. 

Die Verweltlichung der Bischofe und Abte konnte nicht 
ohne Reaktion, ohne Ruckwirkung bleiben, und so verste- 
hen wir, dafi von Cluny eine machtige Bewegung nach Re- 
form ausgeht. Der Einflufi der Cluniazenser war ein unge- 



heuer grofier; dafi es moglich war, den Gottesfrieden 
durchzusetzen, ist ein Beweis dafor. In einer Zeit, wo nir- 
gends ein einheitliches Reich vorhanden war, kann man er- 
messen, was es bedeutet, daft es den Bestrebungen der Mon- 
che von Cluny gelang, das Faustrecht for einige Tage der 
Woche - von Freitag zum Montag - einzuschranken, so 
daft wahrend dieser Zeit Fehden nicht ausgefochten wur- 
den. Man mulJ nur bedenken, daft es damals eigentlich ein 
Recht nicht gab, sondern vollstandiges Faustrecht herrsch- 
te. Der schroffe Kampf zwischen den deutschen Kaisern 
und den Papsten wurde nicht bloft gehihrt aus selbstsuchti- 
gen Interessen, sondern auch von Seite der Kirche aus Fana- 
tismus. Der Papst f Unite sich als Stellvertreter Christi, als 
Herr auch der weltlichen Gebiete; als ob das Reich Christi 
auch die weltliche Herrschaft sein nenne. 

Papst Gregor VIL, der den deutschen Kaiser Heinrich IV. 
zum Canossagang notigte, war erst Monch von Cluny, und 
ist von dort aus zu seinem Fanatismus gelangt. Es wurde 
Tendenz des Papsttums zu erklaren: so wie es zwei Regie- 
rende gibt im Sonnensystem, die Sonne und den Mond, so 
auch im menschlichen Leben; der Papst sei die Sonne, der 
Konig der Mond, der erst von der Kirche sein Licht emp- 
fangt. Diese Gesinnung fand Eingang und ist auch von dem 
grofien Dichter Dante als gerecht anerkannt, der bei der 
Verteilung der Gewalt die Ubergewalt der geistlichen iiber 
die weltliche Macht als recht und billig bezeichnet. Nun 
war dieser Kampf zwischen Kaiser und Papst deshalb ein so 
machtiger geworden, weil inzwischen ein gewisser Eini- 
gungsprozefi sich vollzogen hatte. Die verschiedenen Her- 
zogtiimer wurden durch aufiere Gewalt zusammenge- 
schmiedet. Die Herzoge betrachteten sich jetzt verpflichtet, 
Heeresfolge und gewisse Abgaben dem Kaiser zu leisten. 
Alle diese Lander: Italien, Burgund, Lothringen, Franken, 



Sachsen, Osterreich und auch Ungarn und Polen standen 
zeitweilig zur deutschen Krone im Lehensverhaltnis. 

So ist man in der Tat im 11. Jahrhundert zu einer gewis- 
sen Einheitlichkeit gekommen. Dabei wird die Kirche im- 
mer machtiger. Bei dem Tode Heinrichs III. werden nicht 
weltliche Fursten zur Vormundschaft des jungen Konigs, 
Heinrich IV. berufen, sondern die Erzbischofe Hanno von 
Koln und spater Adalbert von Bremen. 

Die Durchsetzung der Volksseele mit religiosen Empfin- 
dungen hatte zu einem blinden Autoritatsglauben gefiihrt. 
Jetzt war die Zeit fur Rom gekommen. Eine kluge Politik 
wurde von Rom aus eingeleitet. Der Klerus mufke heraus- 
gerissen werden aus alien weltlichen Interessen, um nur das 
eine vor Augen zu haben: die Predigt und Beherrschung des 
Volkes. Dazu mufke er vollstandig unabhangig gemacht 
werden. So wurde im 11. Jahrhundert das Zolibat iiber den 
Klerus verhangt, die Priesterheirat untersagt, da jeder, der 
durch selbstgewahlte Blutsbande mit der Welt zusammen- 
hange, in Abhangigkeit gerate und nicht so riickhaltlos 
dienen konne. 

Das gab dem Klerus und Papsttum die Tendenz zu un- 
beugsamer Willensentfaltung: nur das eine vor Augen, die 
Herrschaft der Kirche. So kam es, dafi die Kirche die Forde- 
rung stellen konnte, bei Besetzung der Bistiimer nur die 
Kirche mitsprechen zu lassen. Friiher hatten die weltlichen 
Fursten jedes Bistum besetzt, das frei wurde. Jetzt sollten 
nur geistliche Interessen ausschlaggebend sein, und die 
Herrschaft wurde dadurch erhoht, dafi die Besetzung der 
Amter nur von der Kirche ausging. Dadurch kam der In- 
vestiturstreit, der Heinrich IV., der sich das nicht gefallen 
lassen wollte, zum Gange nach Canossa fiihrte. 

Das alles fafit sich zusammen in dem Streit zwischen 
weltlicher und geistlicher Macht. Haben wir noch bei 



Chlodwig gesehen, dafi der Gott der Christen der seine 
wird, weil er die Heere zum Siege fuhrte, so sehen wir, wie 
die Kirche jetzt selbst zur Herrschaft gelangt. Das mufi 
man verstehen, wenn man die neuen Verhaltnisse begreifen 
will, welche die Kreuzzuge venxrsachten. 

Wir haben an den Franken gesehen, was aus den Stam- 
men hervorgegangen ist, die durch die Volkerwanderung 
aus ihren Wohnsitzen verdrangt wurden. Wir sahen, wie 
das Christentum in alien Lebensverhaltnissen ausschlagge- 
bend geworden ist, wie bei den Ansiedlungen Kloster und 
Bistiimer zum Mittelpunkt wurden, wie die Monche nicht 
nur auf geistigem Gebiet die Leiter des Volkes waren, son- 
dern es im Anbau der verschiedenen Friichte unterrichte- 
ten, die Bauleute der Kirchen waren und so weiter. 

Die Stadte bildeten sich gern um die bestehenden Bistii- 
mer herum. So sehen wir iiberall den machtigen Einflufi 
der Kirche, 

Hereinbrechen sehen wir den Einflufi der Mauren durch 
Wissenschaft und Literatur. Einen anderen Einflufi werden 
wir kennenlernen, wichtiger als vieles andere, durch die 
Kreuzzuge; er kam gleichfalls vom Orient. Durch diese 
Einfliisse wurden die grofien Erfindungen und Entdeckun- 
gen angeregt. Denn dort im Orient und in China waren 
viele Dinge bekannt, von denen der Westen nichts wufke: 
Papierbereitung, Seidenweberei, der Gebrauch des Schieft- 
pulvers und so weiter. So wurde zu den grofien Erfindun- 
gen durch diese Ziige der erste Anstofi gegeben. 

Wir sahen so von zwei Seiten aus machtige Impulse auf 
die mittelalterliche Menschheit ihren Einflufi ausuben. 
Halten Sie das zusammen mit der Stadtegriindung und Sie 
werden empfinden, dafi ein Jahrhundert heranbricht, das 
die Entwickelung machtvoll vorbereitet. Wenn Sie das in 
der rechten Weise verfolgen wollen, dann ist es nicht ge- 



nug, es nur verstandesgemafi in sich aufzunehmen. Nie- 
mand versteht die Ereignisse wirklich, der nur mit dem 
Verstande sie ergreifen will und nicht mit dem Gefiihl, der 
sich nicht in die Feinheiten der Volksseele hineinleben 
kann, und begreift, was sich dort im Innern abspielt und 
vorbereitet. Und wer das nicht hat, fur den gilt das Wort 
des Faust: 

Was ihr den Geist der Zeiten heifk, 

Das ist im Grund der Herren eigner Geist, 

In dem die Zeiten sich bespiegeln. 



Achter Vortrag, 20. Dezember 1904 

Wir stehen in der Mitte des Mittelalters und haben die Zeit 
des 11., 12., 13. und 14. Jahrhunderts zu betrachten. Diese 
Zeit ist bedeutungsvoll und wichtig, weil man in dieser 
Epoche das Entstehen von grofien Reichen studieren kann. 
Auch im Altertum haben wir grofie Staatengebilde kennen- 
gelernt - Persien, Romisches Reich und so weiter -, aber 
sie liegen uns so fern, daft uns eine wirkliche, geschichtliche 
Beurteilung schwer ist. Im Mittelalter sehen wir aber aus 
kleinen Ursachen sich das entwickeln, was ein gemein- 
schaftliches Heer, Gericht, Verfassung hat, so gab es in 
Deutschland so etwas nicht. Diese Gegenden zerfielen noch 
im 13. und 14. Jahrhundert in einzelne getrennte Gebiete. 

Erst unter Heinrich III. geschieht etwas, was beitragt zu 
einer Einigung der Reichsgebiete, indem es dem Kaiser ge- 
lang, die einzelnen Stammesherzoge zu einer Art von kai- 
serlichen Beamten zu machen. Vorher waren sie souveran 
hervorgegangen aus der Stammeseigentiimlichkeit; jetzt 
waren sie geworden was man Ministerial nennt, Dienst- 



mannen des Kaisers. Allmahlich geschah eine Gleichstel- 
lung der niederen Lehensleute, die aus Freien auch zu 
Dienstleuten geworden waren, mit den Ministerialen. Sie 
bildeten mit der Zeit das heraus, was man den niederen 
Adel nennt, aus dem sich der Ritterstand rekrutierte, der 
Stand, der in den Kreuzzugen eine so grofk Rolle spielte. 
Auch schon unter der Regierung Heinrichs IV. spielte der 
Ritterstand eine grofie Rolle. 

Als Gregor VII. den Kaiser in den Bann tat, hielten die 
deutschen Fiirsten nur teilweise zum Kaiser, wahrend ande- 
re unter dem Einflufi des Papstes verschiedene Gegenkoni- 
ge wahlten. Wichtig sind alle diese Kampfe nicht; wichtig 
aber ist es, dafi der Ritterstand durch diese verschiedenen 
Streitigkeiten eine besondere Bedeutung erhielt. Ritter und 
Stadte wurden bald vom Papst, bald vom Konig gekodert. 
Fortwahrende Fehden und Kriege herrschten; die Roheit 
nahm immer mehr zu. Bei den Pliinderungszugen hatte der 
Bauernstand schwer zu leiden. Die letzten freien Bauern 
konnten sich nicht mehr halten und wurden aufgesogen 
von den Herren und Herzogen und diese wieder von den 
Konigen. Aus diesem unerquicklichen Prozefi sehen wir 
hervorgehen, was wir als das «Reich» kennen. 

Hierbei war kein Unterschied zwischen weltlichen und 
geistlichen Fiirsten; grofi aber war der Unterschied zwi- 
schen dem verweltlichten Klerus, und dem in den Klostern. 
Der von den Bischofen regierte Klerus war meist ungebil- 
det, konnte nicht lesen und schreiben, verbauerte und beu- 
tete seine Lehensleute aus. Der Bischof beschaftigte sich 
mit der Verwaltung seiner Giiter und war ebenso ungebil- 
det wie Ritter- und Bauernstand; nichts von dem, was wir 
heute Bildung nennen konnen, war vorhanden. So war es 
moglich, von Rom aus die politische Lage der Kirche im- 
mer mehr zu befestigen. 



Anders war es in den Klostern. Hier wurde viel gearbei- 
tet von Mannern und Frauen. Tiefe Gelehrsamkeit war 
hier zu finden; alle Bildung der damaligen Zeit ist lediglich 
von den Klostern ausgegangen. Sie liefien sich auch in be- 
zug darauf nicht abhangig machen von der politischen 
Macht Roms, die auf der weltlichen Macht des Klerus ruh- 
te. Was von Rom aus geschah, ist in der verschiedensten 
Weise zu beurteilen. Es sollte ein gewisser Kampf gefiihrt 
werden gegen die Roheit, gegen das Faustrecht der deut- 
schen Volker. Eifer fur die geistigen Giiter, der Wunsch, 
die Gewalt mittelalterlichen Denkens iiber die Welt auszu- 
breiten war es, was von Rom aus gewollt wurde. Jedenfalls 
ging ein besserer Wille von Rom aus als von den deutschen 
Fiirsten. In diesem Sinne mull man auffassen, was Gregor 
VII. wollte, als er die Ehelosigkeit forderte, und als er nicht 
dulden wollte, dafi weltliche Furstenmacht einen Einflufl 
auf die Besetzung der Bistiimer sich anmafie: es war eine 
Opposition gegen die iiberhandnehmende Roheit in den 
deutschen Landern. So waren die Kampfe Heinrichs IV. 
mit den Sachsen nicht nur fast ebenso blutig, wie einst die 
Kriege Karls des Grofien gegen die Sachsen, sondern sie 
wurden mit ganz besonderer Hintansetzung von Treu und 
Glauben gefiihrt. 

Durch alle diese Kampfe wurde der Wohlstand immer 
mehr zerriittet. Aus den Sturmen der Zeit entstand ein tief- 
religioser Zug, der sich bis zur Schwarmerei steigerte, wie 
ich es Ihnen bei dem Jahre 1000 schilderte. Diese religiose 
Schwarmerei trieb immer wieder die Menge zu Zugen nach 
dem Morgenland. 

Urspriinglich hatte die christliche Religion kein Festhal- 
ten an irgendein Dogma gekannt. Auf den Ideengehalt war 
es angekommen, nicht auf die aufiere Einkleidung. Sie ha- 
ben gesehen, wie im Heliand die Christus-Idee in freier 



Weise ausgestaltet wurde, wie der Dichter dabei fiir seine 
Landsleute das Christus-Leben in altsachsische Verh'altnisse 
verlegte. Er fafite die Aufierlichkeiten dabei ganz frei auf, 
die ganz ebensogut bei uns in Deutschland, wie in Palastina 
sich ereignen konnten. 

Unter den sich immer mehr veraufierlichenden Verhalt- 
nissen wurde fiir die Kirche die aufiere Gestaltung des 
Glaubens eine Lebensfrage. Sie konnte nicht mehr den 
Stammen iiberlassen, wie sie Christus auffassen wollten. 
Als Seitenstiick der politischen Macht trat ein, dafi auch die 
Dogmen fest und starr wurden. 

Die Fiirsten versuchten die weltliche Macht der Kirche in 
ihrem Interesse zu verwenden; die Bischofsstiihle wurden 
mit jiingeren Briidern besetzt, die korperlich oder geistig 
zu anderem unbrauchbar erschienen. Ganz allmahlich an- 
derten sich so die Verhaltnisse und die alte Zeit wuchs in 
eine neue hinein. 

So entstehen nun die Kreuzziige, die wir nur psycholo- 
gisch aus der Stimmung, die das Mittelalter beherrschte, 
verstehen konnen. Die vorhandene religiose Schwarmerei 
bewirkte, dafi es dem Papst ein Leichtes war, durch eigene 
Agenten wie Peter von Amiens und andere die Menschen zu 
den Kreuzziigen aufzustacheln. Dazu kam, dafi eine grofie 
Anzahl von Leuten vollig mittellos geworden war. So wa- 
ren es nicht nur religiose Beweggriinde, die mitwirkten. 
Immer mehr Freie waren zu Horigen geworden; andere 
hatten ihr Besitztum verlassen miissen und waren fahrende 
Leute geworden, die nichts hatten, als was sie auf dem Lei- 
be trugen. Unter diesen fahrenden Leuten, die alien Stan- 
den entstammten, auch dem Adel, war eine grofie Menge, 
die nichts zu tun hatte und zu jeder Unternehmung bereit 
war, auch zum Kreuzzug. 

So kommen wir dazu zu verstehen, dafi eine grofie An- 



zahl von Faktoren tatig war: religiose Schwarmerei, starres 
Dogma und materielle Bedriickung. Wie stark diese Ursa- 
chen wirkten, sehen wir daraus, dafi, als der erste Kreuzzug 
zustande kam, es eine halbe Million Leute waren, die nach 
dem Morgenlande zogen. Den ersten aufieren Anstofi dazu 
hatte die schlechte Behandlung der zahlreichen Pilger 
durch die Sarazenen gegeben. Doch lagen tiefere Ursachen 
dem zugrunde. Ein starres Dogma, dem die Menschen sich 
unterwarfen, war vorhanden. Doch die wissen nichts vom 
Mittelalter, die nicht verstehen, wie damals die Menschen 
mit Herz und Seele an der Religion hingen. Eine Predigt 
wirkte ziindend auf die Leute, wenn sie das rechte Wort 
traf . Viele glaubten durch solche Tat Hilfe zu finden; ande- 
re suchten Vergebung ihrer Siinden zu erlangen. Aus unse- 
rer heutigen Anschauung erhalt man kein rechtes Bild die- 
ser Erscheinung des Mittelalters, man hat es hier mit vielen 
ungreifbaren Ursachen zu tun. 

Nicht die Ursachen, sondern die Wirkungen der Kreuz- 
ziige sind es, die von besonderer Bedeutung fur die Weiter- 
entwickelung geworden sind. Bald nach Beginn wurde eine 
dieser Wirkungen sichtbar: namlich ein viel intimerer Aus- 
tausch zwischen den einzelnen Landern. Bisher war 
Deutschland im allgemeinen ziemlich unbekannt mit den 
romanischen Landern geblieben; jetzt wurden sie durch 
die Waffenbriiderschaft einander nahergebracht. Auch die 
maurische Wissenschaft fand erst auf diesem Wege wirkli- 
chen Eingang. Vorher hatten Lehrstiihle der Hochschulen 
nur in Spanien, ItaHen und Frankreich bestanden; in 
Deutschland wurden sie erst nach den Kreuzziigen errich- 
tet. Erst jetzt kam der Einflufi wahrer Wissenschaft vom 
Osten. Dieser war bisher vollig verschlossen gewesen und 
bewahrte grofie Bildungsschatze in den Schriften der 
griechischen Klassiker. Griindlich genommen entstand 



erst durch die Beriihrung mit dem Osten eine Wissen- 
schaft. 

Der unbestimmte Drang religioser Schwarmerei hatte 
eine bestimmte Form angenommen, war das geworden, 
was man mittelalterliche Wissenschaft nennt. Diese Wis- 
senschaft mochte ich Ihnen ein wenig charakterisieren. 

Vor alien Dingen hatten sich zwei Denkweisen ausgebil- 
det, die sich bemerkbar machten im wissenschaftlichen Le- 
ben des Mittelalters. Die Denkweise der Scholastik trennte 
sich in zwei Stromungen: Realismus und Nominalismus. 
Es ist ein scheinbar abstraktes Thema, wenn ich von Nomi- 
nalismus und Realismus rede, aber fiir das Mittelalter und 
auch fiir die spateren Zeiten gewann dieser Streit eine tief- 
greifende Bedeutung. Theologische und weltliche Wissen- 
schafter teilten sich nach diesen zwei Lagern. Nominalisten 
heifit Namenglaubige, Realisten sind diejenigen, die an das 
Wirkliche glauben. Realisten im Sinne des Mittelalters wa- 
ren diejenigen, die an die Wirklichkeit des Gedankens 
glaubten, an einen realen Sinn der Welt. Sie nahmen an, 
dafi die Welt einen Sinn hat, und nicht von ungefahr 
gebildet sei. Vom Standpunkt des Materialismus aus mag 
das als ein torichter Standpunkt angesehen werden; wer 
aber den Gedanken nicht fiir ein leeres Hirngespinst halt, 
mufi zugeben, daft der Gedanke iiber ein Weltgesetz, den 
man sucht und in sich findet, auch eine Bedeutung fiir die 
Welt hat. 

Die Nominalisten waren diejenigen, die nicht glaubten, 
daft Gedanken etwas Wirkliches sind, die darin nur Na- 
men, Zufalligkeiten sahen, Dinge von keiner Bedeutung. 
Alle, die glauben, in dem, was das menschliche Denken er- 
reicht, nur blinde Zufalligkeiten zu sehen, wie Kant, auch 
Schopenhauer, der die Welt als Vorstellung auffalk, bilden 
einen Ausflufi des mittelalterlichen Nominalismus. 



Diese Stromungen teilten das Heer der Monche in zwei 
Lager. In so wichtigen Fragen ist es bemerkenswert, wie die 
Kirche keinen Zwang ausiibte und, insofern es die Gelehr- 
samkeit betrifft, ruhig es gestatten konnte, dafi man die 
Frage anschnitt, ob nicht die gottliche Dreieinigkeit auch 
blofi ein Name und somit nichts Wirkliches sei. Immerhin 
sehen Sie daraus eine grofie Freiheit der mittelalterlichen 
Kirche. Erst am Ende dieser Zeit beginnt man mit Ketzer- 
verfolgungen, und es ist bezeichnend, dafi der erste Ketzer- 
richter in Deutschland, Konrad von Marburg vom Volke 
erschlagen wurde. Damals begann man erst damit, Meinun- 
gen zu verfolgen. Es ist dies ein wichtiger Umschwung. 
Wie frei vorher kirchliches Denken war, konnen Sie an 
dem grofien Lehrer und Denker Albertus Magnus sehen. Er 
war ein ausgezeichneter Gelehrter, vertiefte sich in die ge- 
samte Wissenschaft: kirchliche Gelehrsamkeit, arabisches 
Wissen, naturwissenschaftliches und physikalisches Den- 
ken sowie philosophisches beherrschte er; er wurde vom 
Volke als ein Zauberer aufgefaik. Schroff stoSen aufeinan- 
der Gelehrsamkeit und Volksaberglaube, der ausgebeutet 
wird vom verweltlichten Klerus. 

Jetzt kommen die Stadte empor. In den Stadten sehen wir 
ein machtiges Burgertum entstehen. Das Handwerk bluht 
und schliefk sich in Ziinften zusammen. Nicht mehr 
braucht sich der Handwerker unter der Bedruckung eines 
Grundherrn zu beugen, wie einst als Horiger. Bald schlie- 
fien Konige und Fiirsten Biindnisse mit den mittelalterli- 
chen Stadten. Kaiser Friedrich Barbarossa kampfte jahrelang 
mit den norditalienischen Stadten. Im Burgertum entwik- 
kelte sich ein starkes Freiheitsgefuhl und der Sinn fur den 
unmittelbaren personlichen Wert. Wir sehen so auf der 
einen Seite auf dem Lande eine religiose Gesinnung bei zu- 
nehmendem aufierem Druck; in den Stadten ein freies Bur- 



gertum, zwar an eine streng geregelte Zunftverfassung ge- 
bunden, doch gerade dadurch gedieh damals die Freihek 
der Stadte; auf dem Lande aber ein absterbendes Leben, 
Faustrecht und Roheit. Das Rittertum geriet nach den 
Kreuzzugen in ein in das Nichts fiihrendes, leeres hofisches 
Leben. Die Ritter beschaftigten sich mit Fehde, Turnieren 
und Waffenkampfen; ihre Sitten nahmen immer rohere 
Formen an. Besonders gewann der Minnedienst mit der 
Zeit die lacherlichsten Formen. Diejenigen Ritter, die dich- 
ten konnten, dichteten Strophen auf ihre Damen; die iibri- 
gen machten ihnen auf andere Weise den Hof. Eine grofte 
Unwissenheit war mit diesem Hofleben vereint. Die Man- 
ner waren fast alle ganz ungebildet; die Frauen mufken 
lesen und schreiben konnen. Die Frauen nahmen eine ganz 
eigentiimliche Stellung ein; auf der einen Seite wurden 
sie vergottert, auf der anderen geknechtet. Eine Art von 
Barbarei herrschte, ein ziigelloses Leben, das dazu fiihrte, 
dafi das Gastrecht zur Entehrung der Frauen fiihrte. 

Wahrenddessen bereitet in den Stadten sich das vor, was 
man spater Kultur nennt. Es geschah dort, was geschehen 
mufite, denn Neues bildet sich dort heran, wo es die Mog- 
lichkeit hat, sich frei zu entfalten. Der wirkliche geistige 
Fortschritt findet dort statt, wo das wirtschaftliche Leben 
nicht beengt ist. Nicht dem materiellen Fortschritt ent- 
springt das geistige Leben, sondern der wahre geistige Fort- 
schritt findet sich dort, wo das wirtschaftliche Leben nicht 
bedriickt und eingeengt ist. 

So entstand in den Stadten damals eine reiche Kultur; fast 
alles, was uns in den Werken der Malerei, der Baukunst, 
der Erfindungen geschenkt wurde, ist in dieser Zeit der 
Stadtekultur zu danken. Einer solchen reichen italienischen 
Stadtekultur entstammte auch Dante. Auch in Deutschland 
finden wir bedeutende geistige Leistungen unter dem Ein- 



flufi dieser Stadtekultur. Zwar waren die ersten bedeuten- 
den Dichter Ritter, wie Wolfram von Eschenbach, Gott- 
fried von Strafiburg und so weiter, aber ohne den Ruck- 
halt, den die Stadte boten, waren diese Leistungen nicht 
moglich gewesen. In dieser Zeit, wo eine freie Luft in den 
Stadten weht, entsteht auch das Universitatsleben. Zu- 
nachst mufite der Deutsche, wenn er hoheres Wissen fin- 
den wollte, nach Italien, Frankreich und so weiter. Jetzt 
entstehen in Deutschland die ersten Universitaten, wie 
Prag 1348, Wien 1365, Heidelberg 1386. Das Freiheits- 
wesen raumte auf mit dem mittelalterlichen Diinkel. 

Der weltliche Klerus war wie die Fiirsten in egoistische 
Interessenkampfe verwickelt, und die Kirche hatte diesen 
Zug angenommen. Wer die Entwickelung verfolgt, wird 
verstehen, dafi die neue geistige Stromung, die deutsche 
Mystik nur so entstehen konnte - in schroffer Opposition 
gegen den weltlichen Klerus. Besonders am Rhein entlang, 
in Koln, Strafiburg, in Siiddeutschland, breitete sich diese 
Bewegung aus, der Manner wie Eckhart, Tauter, Suso und so 
weiter angehorten. Sie hatten sich unabhangig gemacht von 
dem romischen Klerus; dafiir wurden sie auch zu Ketzern 
erklart und ihnen das Leben auf jede Weise erschwert. Ein 
Zug von Innerlichkeit geht durch ihre Schriften; sie hatten 
sich in das menschliche Herz zuriickgezogen, um mit sich 
selbst ins klare zu kommen. Diese Monche, die sich unab- 
hangig gemacht hatten, sprachen zu dem Herzen des Vol- 
kes in seiner Sprache. Die deutsche Sprache wurde in einer 
Art veredelt, die man heute nicht begreift, wenn man nicht 
die Schriften liest eines Meisters Eckhart, Taulers oder des 
Verfassers der «Theologia deutsch». Die Schonheit der 
Sprache wurde durch die Mystik eingepflanzt, und die da- 
maligen Ubersetzungen iibertrafen an Schonheit der Spra- 
che weit die spateren. Diese Entwickelung der deutschen 



Sprache wurde schroff unterbrochen dadurch, daft Luther 
die deutsche Bibel in der pedantischsten, philistrosesten 
damaligen Mundart schuf, aus der das jetzige Hochdeutsch 
geworden ist. Alles das geschah in Opposition gegen den 
Klerus. Was damals gewollt wurde, ist auf vielen Gebieten 
heute noch nicht erreicht. Ich habe Ihnen vieles anders ge- 
schildert, als Sie gewohnt sind zu horen. Es wird immer 
versichert, dafi etwas Unerhortes geschehen ist durch die 
Bibeliibersetzung Luthers; Sie sehen aber, wie vorher viel 
Hoheres erreicht war. Ich habe Ihnen ein Tableau fur das, 
was in der Folgezeit uns beschaftigen wird, entworfen. 

Wir nahern uns der Renaissancezeit. Die Konsolidierung 
der Verhaltnisse, die sich vollzog, bestand im wesentlichen 
darin, daft immer grofiere Gebiete unter die Herrschaft der 
Landesfiirsten gerieten. Auch ein grofier Teil der mittelal- 
terlichen Stadtefreiheit wurde aufgesogen durch die Verfas- 
sung der grofkn Staaten, jedes Ding hat eben seine zwei 
Seiten. Den heutigen Menschen wird gewift vieles abstofien 
und es wird heute viel geredet iiber die Willkiir, die damals 
herrschte. Die Freiheit hat selbstverstandlich ihre Kehrsei- 
te, und es ist noch keine Freiheit, wenn man in der Willkiir 
durch die Willkiir anderer eingeschrankt ist. 

Eine Sprache konnte zum Beispiel in der Mitte des Mit- 
telalters an den Universitaten gegen die Willkiir der weltli- 
chen Machthaber gefiihrt werden, wie spater vielleicht nur 
Fichte es getan hat. Die Dokumente der damaligen Univer- 
sitaten bewahren uns die Worte der damaligen freien Gei- 
ster. Heute ist nicht nur die weltHche Herrschaft, sondern 
auch die Wissenschaft verstaatlicht. 

Ohne Licht und Schatten nach den Schlagworten der Ge- 
genwart zu verteilen, habe ich Ihnen diese Zeiten geschil- 
dert. Ich suchte an den Punkten zu verweilen, wo wirkli- 
cher Fortschritt vorhanden ist. Wollen wir freie Menschen 



sein, miissen wir ein Herz haben fiir die, die vor uns nach 
Freiheit gestrebt haben. Wir miissen verstehen, dafi auch 
andere Zeiten Menschen hatten, die etwas auf Freiheit ge- 
geben haben. 

Geschichte ist die Entwickelungsgeschichte der Mensch- 
heit zur Freiheit, und wir miissen, um sie zu verstehen, die 
Freiheit in all ihren Gipfelpunkten studieren. 



Neunter Vortrag, 28. Dezember 1904 

Wie sich das Leben des Mittelalters in den Stadten herange- 
bildet hat, haben wir gesehen. 

Wir sind bis dahin gekommen, wo das offentliche Leben 
sich hauptsachlich in dem Leben der Stadte abspielt. Ur- 
spriinglich war die Veranlassung zur Ansiedelung in den 
Stadten die Bedriickung der Landleute und die Ausbreitung 
des Handelswesens. 

Wir haben gesehen, wie diejenigen, welche ihren Bedriik- 
kern entflohen oder sich dem Handel gewidmet hatten, 
sich entweder in einem Bischofssitz oder an einer anderen 
Statte mittelalterlicher Macht ansiedelten. Zunachst befand 
sich der Teil der Bevolkerung, welcher die Stadte bewohn- 
te, nicht in einer angenehmen Lage; sie mufken ihrem frii- 
heren Gutsherrn Abgaben zahlen, Waffen, Kleider und so 
weiter liefern. Diejenigen, die in die Stadte gezogen waren 
und sich dem Handel gewidmet hatten, sowie die, welche 
konigliche, bischofliche oder sonstige Beamte waren, bilde- 
ten zunachst die eigentlich freien bevorzugten Stande. Aber 
mehr und mehr wurden die Vorrechte der Beamten und 
der Kaufleute, die das Patriziat bildeten, den Bevorrechte- 
ten abgenommen von denen, die bedriickt lebten. Am 



Rhein in Siiddeutschland wurde diese Gleichberechtigung 
im 13. und 14. Jahrhundert errungen. Konige und Kaiser 
rechneten damit. 

Friiher hatten die herumziehenden Konige bald hier bald 
dort Hof gehalten, nun liefien sie sich in den Stadten nie- 
der. Die Herrscher mufiten rechnen mit den Stadten, sie 
fanden in ihnen Grund zu eigener Machtentfaltung. Daher 
wurden den Stadten gewisse Rechte iibertragen, Gerichts- 
barkeit, Miinzrecht und so weiter. Auf diese Weise wuchs 
ihre Macht immer mehr. Ein demokratisches Element bil- 
dete sich dadurch jetzt in Deutschland. Friiher hatte der 
Grundadel, der Feudaladel der Zeit ihr bestimmtes Gepra- 
ge gegeben. Statt dessen ist jetzt etwas Neues aufgekom- 
men. Immer mehr wurden in den Stadten die Vorrechte be- 
seitigt. Statt allgemeine Betrachtungen anzustellen, wollen 
wir uns zu bestimmten Beispielen wenden. Koln war schon 
lange eine wichtige Handelsstadt, Sitz eines machtigen Kle- 
rus; auch auf geistigem Gebiete wurden ja die Stadte zu 
einer Macht. Dort hatte der untergeordnete Stand sich bald 
Gleichberechtigung mit dem Patriziat, eine Art von Verfas- 
sung erworben, das Eidbuch, in dem verzeichnet war, was 
jeder einzelne fur Rechte hatte. Zusammengeschlossen hat- 
ten sich die Ziinfte, von denen es in Koln zweiundzwanzig 
gab, die vor dem 14. Jahrhundert auch hier von den Patrizi- 
ern abhangig waren. Jetzt, im Jahre 1321, eroberten diese 
die Gleichberechtigung. 

Der Stadtrat wurde nicht nur aus Patriziern zusammen- 
gesetzt, sondern die Mitglieder der Ziinfte hatten gleiches 
Wahlrecht. Um diesen Rat moglichst demokratisch zu ge- 
stalten, sollten die Mitglieder immer nur auf eine halbes 
Jahr gewahlt werden und nachher auf drei Jahre nicht 
wahlbar sein. Mit der Durchfiihrung des demokratischen 
Prinzips wuchs auch das Interesse des einzelnen Burgers am 



Aufbluhen der Stadte. Noch bis ins 12. Jahrhundert waren 
solche Stadte nicht viel anderes als schmutzige Dorfer mit 
strohgedeckten Hausern. Aber wir sehen sie in wenigen 
Jahren in ganz auffallender Weise wachsen. Jeder Mann ist 
jetzt Burger und mit der Teilnahme des Einzelnen wachst 
das Ansehen und die Schonheit der Stadt. 

Was die Stadte angaben, wirkte bestimmend auch auf die 
ganze hohe Politik. Was konnte Stadte wie Hamburg, Lu- 
beck, Koln politisch interessieren, wie es friiher die Konige 
und Herzoge draufien trieben? Als die Stadte anfingen Poli- 
tik zu treiben, geschah es nach stadtischer Weise. Weite Ge- 
biete verbiindeten sich zur Wahrung ihrer stadtischen In- 
teressen. Solche machtigen Stadtebiindnisse bildeten sich 
zuerst in Norddeutschland, spater schlossen die norditalie- 
nischen Stadte ebensolche Biindnisse. Die deutschen Stadte 
erlangten auch weithin im Ausland bedeutenden Einflufi; 
in Bergen, in London hatten sie ihr machtiges Gildehaus. 

Wie sich die Fiirsten entschliefien mufiten, den Stadten 
das Recht zu solcher Politik zuzusprechen, so wurden die 
Stadte auch allmahlich der Mittelpunkt einer neuen Kultur. 
Allerdings einer materiellen Kultur, die aber zur Besied- 
lung weiter Gebiete fiihrte. Neue Kulturzentren bildeten 
sich, in denen ein lebhafter Handel mit den nordlichen 
Landern, besonders mit Rufiland bliihte; das sagenhafte Vi- 
neta war ein solcher Handelsplatz. Wir sehen, wie die Han- 
delspolitik sich entwickelt, machtige Handelsstrafien ent- 
stehen, den Rhein entlang, durch Nord- und Mitteldeutsch- 
land, mit wichtigen Handelsstadten wie Magdeburg, Hil- 
desheim, Erfurt, Breslau und so weiter. Aus diesen Stadte- 
biindnissen ging das hervor, was man die Hansa nennt. Im 
Lauf der Zeit war es notig geworden, nicht nur Handels-, 
sondern auch Kriegspolitik zu treiben. Im Hintergrunde 
lauerten Feinde, die Ritter und Herzoge, die neidisch die 



Entwickelung der Stadte verfolgten. Die Stadte mufiten 
sich mit Mauern umgeben und sich gegen ihre Feinde ver- 
teidigen. So wurden sie immer mehr machtige Kulturstat- 
ten, auch Mittelpunkte des geistigen Lebens. Was in jener 
Zeit geistiges Leben in sich spiirte, zieht sich in den Stadten 
zusammen. Auch die Kunst erbliiht in den mittelalter- 
lichen Stadten unter dem Einfluft des freien Burgertums. 
In Venedig wird die Halle der Tuchmacher durch Tizian 
gemalt. 

Auch eine neue Form der Kriegsfuhrung entstand. Durch 
die Anwendung des Pulvers, dessen Gebrauch schon friiher 
im Orient bekannt war, aber erst jetzt fur Europa neu ge- 
funden wurde, entsteht eine neue, die demokratische Form 
des Kampfes gegeniiber dem Einzelkampf der geharnisch- 
ten Ritter. Die Anwendung des Schiefipulvers bildet sich 
immer weiter aus. Erst waren es ungeschlachte Donner- 
biichsen und Morser, aber bald wurden vollkommenere 
Waff en besonders durch Kaspar Zollner in Wien erfunden. 

Was sich namentlich in den Stadten im Zusammenhang 
mit dem Geiste kirchlichen Lebens entwickelte, ist fur den 
Kulturfortschritt von besonderer Wichtigkeit. Wir haben 
gesehen, wie die hochste Ekstase der religiosen Schwarme- 
rei in den Kreuzziigen sich darstellt. Wir haben gesehen, 
wie namentlich am Rhein die deutsche Mystik aufbliiht, 
wie die Briider des gemeinsamen Lebens eine tiefe From- 
migkeit ganz unabhangig von Rom pflegen. Zwei verschie- 
dene Zeitstromungen treten uns jetzt entgegen: auf der 
einen Seite ist der Burger bedacht auf Erhohung des mate- 
riellen Lebens, auf der anderen Seite sehen wir hier ein ins 
Innere gerichtetes geistiges Leben. Im friihen Mittelalter ist 
materielles und geistiges Leben eng ineinander verschlun- 
gen, das Gedeihen seiner Friichte wie sein religioses Emp- 
finden glaubt der Landmann durch die Kirche gefordert 



unci gesegnet. Jetzt, wo personliche Tuchtigkeit in den 
Vordergrund trat, spalteten sich diese Richtungen. 

Der eigentiimliche Baustil des Mittelalters, den man 
falschlich den gotischen nennt, kam aus Siidfrankreich, ent- 
stammte Gegenden, wo solche frommen Ketzer lebten wie 
die Katharer, die Waldenser, die bestrebt waren, das innere 
Leben zu vertiefen und mit dem uppigen Leben der Bischo- 
fe und des Klerus zu brechen. Ein eigentumliches geistiges 
Leben breitet sich von dorther aus; die deutsche Mystik 
wird stark davon beeinflufit. 

Welch tiefen Einflufi diese Gesinnung auch auf die aufie- 
re Gestalt dieser Kirchen hatte, geht daraus hervor, daft alle 
diese gotischen Miinster einen mystischen Schmuck besa- 
ften in den wunderbaren Glasrnalereien. Diese Kunst, die 
im 17. Jahrhundert vollstandig verlorengegangen ist, war 
nicht artistische Allegorie, sondern die Sinnbilder, die dort 
eingemalt waren, iibten wirklich einen mystischen Einfluft 
aus auf die Menge, wenn der Sonnenschein durch sie her- 
einschien in die dammerigen hohen Kirchen. Eng bedingt 
war diese Bauart aus den Verhaltnissen der mittelalterli- 
chen Stadte, gotisch war auch das Rathaus, das Gildehaus. 
Die Stadt, die von Mauern umgeben war, war darauf ange- 
wiesen, sich innerhalb dieser Mauern zu vergrofiern, der 
romanische Baustil reichte dazu nicht aus. So entstanden 
die hochaufstrebenden gotischen Kirchen, ein Ausdruck 
zugleich der Innerlichkeit des damaligen Lebens; die Toten- 
tanze, die sie haufig schmucken, fuhrten die Verganglich- 
keit alles Irdischen vor Augen. 

In der Sorge fur die Reinlichkeit und Schonheit ihrer 
Stadt finden die Burger eine vornehme Form, ihren Namen 
im Gedachtnis ihrer Mitbiirger zu erhalten. Besonders wer- 
den iiberall schone Brunnen errichtet. Wir sehen, daft da- 
mals etwas entsteht, was im Mittelalter besondere Bedeu- 



tung erlangte, die offentlichen Bader, die in keiner Stadt 
fehlten. Im spateren Mittelalter gaben diese Bader Anlaft zu 
moralischen Ausschreitungen und wurden aus diesem 
Grunde vom Protestantismus ausgerottet. Doch dieser Biir- 
gersinn ging noch weiter, er griff in das offentliche Leben 
ein, indem er Wohltatigkeitsanstalten schuf, die heute noch 
als Muster gelten konnen. Und diese Wohltatigkeitsanstal- 
ten wurden auch dringend notig, denn im 14. Jahrhundert 
wurde Europa von schweren Plagen heimgesucht, von 
Hungersnoten, dem Aussatz, der Pest oder, wie man es da- 
mals nannte, «dem schwarzen Tod». Aber der mittelalterli- 
che Mensch wufke dem zu begegnen. Siechenhauser, Spita- 
ler, Pfrundhauser entstanden allerwarts und auch fur die 
Fremden wurde gesorgt durch die sogenannten Elendsher- 
bergen. Elend war damals gleichbedeutend mit fremd und 
hat erst spater eine andere Bedeutung erlangt. 

Neben diesen lichten Seiten des mittelalterlichen Lebens 
gab es natixrlich auch manche dunkle. Vor allem die harte 
Behandlung aller derjenigen, die nicht zu einer festen Ge- 
meinschaft gehorten. Sie waren ausgestofien, etwas fur das 
die Stadte nicht aufkamen. Alle die nicht zur Zunft gehor- 
ten, mu£ten eine schlechte Behandlung erleiden. Vor allem 
die «fahrenden Leute». Der Name «unehrliche Leute» ent- 
stand damals, eine furchtbare Bezeichnung fur die fahren- 
den Leute. Zu den unehrlichen Leuten wurden die ver- 
schiedensten Berufe gerechnet, Schauspieler, Gaukler, 
Schafer und so weiter. Ihnen war der Zutritt zu den Ziinf- 
ten verschlossen, sie durften sich nirgends zeigen, ohne Ge- 
fahr zu laufen, gequalt zu werden. Ebenso erging es den Ju- 
den. Das Vorurteil gegen diese ist nicht sehr alt. Im fruhen 
Mittelalter finden wir viele Juden als Gelehrte anerkannt. 
In spaterer Zeit kamen sie dem Geldbediirfnis der Fiirsten 
und Ritter entgegen. Durch die eigentiimlichen Verhaltnis- 



se des Mittelalters gelangten sie zu der Stellung des Geldver- 
leihers, der zwischen Handel und Wucher stand und ihnen 
Hafi eintrug. Doch verschaffte ihnen die Geldnot der Koni- 
ge immer wieder gewisse Rechte; diese Tatigkeit trug ihnen 
den seltsamen Namen Konigliche Kammerknechte ein. 
Eine andere Schattenseite bildete das Gerichtswesen, das 
notwendig mit dem Mittelalter heraufgezogene Strafrecht. 
In friiheren Zeiten war Recht wirklich mit Rache ver- 
wandt, entweder sollte ein Schaden wieder gutgemacht 
werden, oder es sollte eben Rache genommen werden. Der 
Begriff der Strafe war nicht vorhanden, er kam erst jetzt 
herauf. Romische Rechtsbegriffe biirgerten sich ein. Die 
Gerichtsgewalt war ein wertvolles Vorrecht einer Stadt 
und die Burger waren nicht nur stolz auf ihre Kirchen und 
Mauern, sondern auch auf ihr Hochgericht. Oft wurden 
wegen der geringfiigigsten Ursachen die hartesten Strafen 
verhangt. 

So steht das 15. und 16. Jahrhundert des mittelalterlichen 
Lebens unter dem Einflufi des stadtischen Lebens. Eine an- 
dere Stromung ging daneben her. Was wir heute als grofie 
Politik verstehen, hing mit dieser anderen Stromung zu- 
sammen. Es ist dies die Bewegung, die man als die der Ket- 
zer oder Katharer bezeichnet. Welchen Umfang diese ange- 
nommen hat, konnen Sie ermessen, wenn Sie sich die Tat- 
sache vorhalten, dafi es in Italien im 13. Jahrhundert mehr 
Ketzer als Rechtglaubige gab. 

Hier lag auch der eigentliche Konflikt, der zu den Kreuz- 
ziigen fuhrte. Als auf der Kirchenversammlung zu Cler- 
mont 1095 der Beschlufi zu ihnen gefafk worden war, war 
es nicht nur Gesindel, nein, es waren auch anstandige Leu- 
te, die sich in ungeordneten Scharen unter Peter von 
Amiens und dem Ritter Walter von Habenichts auf den 
Weg nach dem gelobten Lande machten. Ein papstliches 



Unternehmen war es, es war nicht lediglich hervorgegan- 
gen aus Begeisterung. Es handelte sich um die Bedrangung 
des papstlichen Einflusses durch die Ketzer. Das Bestreben 
des Papstes war, was auch wirklich erfolgte, so einen Ab- 
flufi fur die Ketzer zu schaffen. 

Im ersten richtigen Kreuzzuge waren es grofienteils Ket- 
zer, die sich aufmachten. Das geht auch aus der Person des 
Fuhrers hervor. Gottfried von Bouillon war von entschie- 
den antipapstlicher Gesinnung, wie aus seinem Vorleben 
hervorgeht. Denn als auf Betreiben des Papstes Gregor ge- 
gen Heinrich IV. ein Gegenkonig in der Person des Her- 
zogs Rudolf von Schwaben aufgestellt wurde, kampfte 
Gottfried von Bouillon auf der Seite des Kaisers Heinrich 
und totete Rudolf von Schwaben. Man mufi sehen, um was 
es sich fur ihn handelte, was aber nicht zur Ausfiihrung 
kam: in Jerusalem ein Anti-Rom zu griinden. Deshalb 
nannte er sich auch nur «Beschiitzer des heiligen Grabes» 
und suchte in anspruchsloser Bescheidenheit in Jerusalem 
die Fahne des antiromischen Christentums aufzurichten. 
Nach den Kreuzzugen ist dann aus den Vertretern solcher 
Anschauungen die ghibellinische Partei entstanden; ihnen 
gegeniiber, auf der Seite des Papstes, standen die Guelfen. 

Auch bei Betrachtung des zweiten Kreuzzuges, den auf 
Betreiben Bernhardt von Clairvaux 1147 Kaiser Konrad III. 
unternahm, sehen wir dieselben Erscheinungen. Diese 
Kreuzzuge hatten an sich keine weitere Bedeutung, sie zeig- 
ten nur, welch ein Geist durch die Welt wehte. Barbarossa, 
welcher gegen den Papst und die norditalischen Stadte, 
die auf Seite des Papstes standen, fiinf Romerziige unter- 
nahm, um sie niederzuzwingen, mufite im Frieden von 
Konstanz ihnen die Unabhangigkeit zugestehen, nachdem 
es ihm nicht gelungen war, ihre Festung Alessandria einzu- 
nehmen. 



Die deutsche papstliche Partei bestand besonders aus den 
FUrstengeschlechtern, die zuriickgeblieben waren aus dem 
alten Adel. Heinrich der Stolze und sein Sohn Heinrich der 
Lowe kampften fur die alte Herzogsmacht gegen die kaiser- 
liche Gewalt. Gewohnlich wurden dann durch Vermah- 
lung mit einer Kaisertochter diese widerstrebenden Fiirsten 
an die Kaisermacht gefesselt. Durch die Belehnung von 
Verwandten des Kaisers mit erledigten Herzogtiimern wur- 
den in der Folge immer wieder solche Umlagerungen der 
Machtverhaltnisse bewirkt. 

Kaiser Friedrich Barbarossa unternahm den dritten Kreuz- 
zug, der auch zu keinen wirklichen Erfolgen fuhrte, der 
aber wichtig wurde durch die Kyffhausersage, die sich dar- 
an kniipfte. Wer Sagen lesen kann, weifi, dafi er es hier mit 
einer der wichtigsten zu tun hat. Nicht aus der Volksseele 
entsprungen, wie es gewohnlich heifit, denn es dichtete nur 
der Einzelne und dann verbreitete sich das, was er hervor- 
gebracht hat, in dem Volke, wie es auch bei dem Volkslied 
geschieht, von dem Professoren behaupten, dafi es unmit- 
telbar aus dem Volke hervorgehe und nicht den Kopfen 
von Einzelnen entstamme. Hervorgegangen ist die Sage aus 
dem Geiste eines Menschen, der verstand die Symbole zu 
verwenden, die eine tiefe Bedeutung hatten, wie die Hohle 
im Kyffhauser, die Raben und so weiter. Es ist eine der Sa- 
gen, die sich in der ganzen Welt finden, ein Beweis, dafi 
hier iiberall etwas ahnliches vorliegt. 

Die Barbarossasage ist eine kulturhistorisch sehr wichtige 
Sage. - Rom war in der Kirche der An wait dessen, was sich 
aus dem, dem germanischen Geiste in Verbindung mit dem 
Christentum aufgedrangten aufieren Beiwerk, ergab. - In 
einer Grotte sollte der Kaiser verborgen sein. Von alters 
her waren Grotten geheime Kultstatten. So wurde der 
Mithrasdienst allgemein in Grotten abgehalten. Bei dieser 



Verehrung wurde Mithras auf dem Stiere dargestellt, dem 
Sinnbild der niederen tierischen Natur, die von Mithras, 
dem Vorganger des Christus iiberwunden wurde. In der 
Kyffhausersage wurde der in der Felsengrotte verborgene 
Kaiser zum Anwalt dessen, was sich im deutschen Seelenle- 
ben gegen Rom und seinen Einfluft wendete. Wieviel steckt 
in dieser Sage! Ein reines Christentum, das damals von vie- 
len ersehnt wurde, sollte, wenn die Zeit gekommen war, 
aus der Verborgenheit hervorgehen. 

Unter dem Staufenkaiser Friedrich II. geschah der Mon- 
goleneinfall, der Europa verwiistete. Nicht eine Geschichte 
der Hohenstaufen will ich Ihnen hier geben, nur auf das 
hindeuten, was sich aus den Kreuzziigen entwickelte: er- 
weiterte Handelsbeziehungen, eine Neubelebung der Wis- 
senschaften und Kunste durch die Beriihrung mit dem 
Orient. Was die Kreuzfahrer errangen an neuen Erfahrun- 
gen und Glitern, brachten sie mit in die Heimat. 

Damals war es auch, als die beiden groften Monchsorden 
entstanden, die fur das geistige Leben von besonderer Be- 
deutung wurden, die Dominikaner und die Franziskaner. 
Die Dominikaner vertraten die als Realismus bezeichnete 
geistige Richtung, wahrend die Franziskaner dem Nomina- 
lismus sich zuneigten. Im heiligen Lande geschah auch die 
Griindung der geistlichen Ritterorden; der Johanniter- 
orden wurde zunachst zur Krankenpflege gegriindet. 

Aus einer ahnlichen Stimmung wie die, welche ich Ihnen 
als die von Gottfried von Bouillon geschildert habe, ging 
der zweite Ritterorden, der der Tempelherren hervor. Sei- 
ne wirklichen Ziele wurden geheimgehalten, doch durch 
intime Agitatoren war der Orden bald sehr machtig gewor- 
den, Es herrschte in ihm ein antiromisches Prinzip, wie es 
auch bei den Dominikanern sich zeigte, die sich haufig in 
volliger Opposition gegen Rom befanden; so standen sie 



bei dem Dogma von der unbefleckten Empfangnis in hefti- 
gem Widerstand gegen den Papst. Die Tempelherren er- 
strebten eine Reinigung des Christentums. Unter Berufung 
auf Johannes den Taufer vertraten sie eine asketische Ten- 
denz. Ihre gottesdienstlichen Handlungen waren aus dem 
Widerstande gegen die romische Verweltlichung so kir- 
chenfeindlich, dafi es heute noch nicht angeht, dariiber 6f- 
fentlich zu reden. Der Orden war durch seine Macht dem 
Klerus und den Fiirsten sehr unbequem geworden, er mufi- 
te schwere Verfolgungen erleiden und ging zugrunde, nach- 
dem sein letzter Grofimeister, Jacob von Molay, mit einer 
Anzahl von Ordensbriidern 1314 den Marty rertod erlitten 
hatte. 

Auch der «deutsche Ritterorden» war ahnlichen Ur- 
sprunges. Mit dem Orden der Schwertbriider, der sich ihm 
anschlofi, machte er es sich besonders zur Aufgabe, die 
noch heidnisch gebliebenen Gegenden Europas zu bekeh- 
ren, besonders im Osten, von seinem Hauptsitze Marien- 
burg aus. Aus den Berichten der Zeitgenossen erhalt man 
von den Bewohnern der Gegenden, die heute die Provin- 
zen Ost- und Westpreufien bilden, ein merkwiirdiges Bild. 
Albert von Bremen schildert die alten Preufien als vollstan- 
dige Heiden. Bei diesem Volke, von dem es nicht genau 
feststeht, ob es germanischen oder slawischen Stammes 
war, finden sich die alten heidnischen Gebrauche des Pfer- 
defleisch-Essens und Pferdeblut-Trinkens. Der Chronist 
beschreibt sie als heidnisch grausame Leute. 

Bevor sie mit den deutschen Rittern in Beruhrung ge- 
kommen war, hatten die Schwertbriider besonders nach 
weltlicher Gewalt gestrebt. 

Man kann sich die Entwickelung nur konstruieren. Ob- 
gleich sich die Stadte gebildet hatten, war doch ein Teil der 
Herzogsgewalt und des Raubrittertums zuriickgeblieben. 



Nicht Begeisterung fiir das Christentum, sondern blofkr 
Egoismus war es, der es bewirkte, dafi die Reste des Feudal- 
adels sich zusammenzogen in diesen beiden deutschen Rit- 
terorden. In diesen Gegenden war kein nennenswerter Ein- 
flufi der Stadte zu verspiiren. Die anderen beiden christli- 
chen Orden waren Verbindungen derer, die nicht mit Rom 
in Verbindung standen. Wenn man die historischen Quel- 
len untersucht, wird man oft Biindnisse zwischen ihnen 
und den Stadten finden. 

Neben diesen zwei Stromungen der stadtischen Entwik- 
kelung und des tieferen religiosen Lebens sehen wir, dafi 
die kaiserliche Gewalt alle Bedeutung verlor. In den Jahren 
1254 bis 1273 war in Deutschland kein Trager der kaiser- 
lichen Gewalt vorhanden, die Kaiserwiirde war zeitweise 
an auslandische Fiirsten verkauft, von denen der eine, 
Richard von Cornwall, nur zweimal nach Deutschland 
kam, wahrend der zweite, Alfons von Castilien, es iiber- 
haupt nicht betreten hat. 

Als man endlich wieder zu einer richtigen Kaiserwahl 
schritt, war das Bestreben, nicht irgendwelche kaiserliche 
Zentralgewalt aufzurichten oder nochmals zu versuchen, 
eine Kaisermacht zu schaffen, sondern der Wunsch war 
ausschlaggebend, Ordnung in bezug auf das Raubrittertum 
zu bringen. 

So wahlte man den Grafen Rudolf von Habsburg. Wenn 
man fragen soil, was er und seine Nachfolger fiir das Reich 
taten, wiirde es schwer sein, dies zu sagen, denn sie waren 
nicht fiir die offentlichen Verhaltnisse tatig. Sie waren be- 
schaftigt, ihre Hausmacht zu begriinden. So verlieh Rudolf 
von Habsburg nach dem Tode des Herzogs Heinrich Jaso- 
mirgott Niederosterreich an seinen Sohn und griindete da- 
mit die habsburgische Hausmacht. Seine Nachfolger such- 
ten diese Macht durch Eroberungen und besonders durch 



Heiratsvertrage zu erhohen und kiimmerten sich nicht 
mehr urn irgend etwas, was mit allgemeinen Interessen 
zusammenhing. 

Sie sehen, was wirklich bedeutend fiir die Fortentwicke- 
lung war: Die Ereignisse, die zu den mittelalterlichen Ver- 
haltnissen das ergaben, was endlich zu den grofien Entdek- 
kungen und Erfindungen am Ende des Mittelalters fiihrten. 
Wir sehen die Stadte mit machtig aufstrebender, aber ver- 
weltlichter Kultur; in der Kirche sehen wir die Scheidung, 
das Schisma, die Trennung; aus dieser Stromung heraus 
bricht der letzte Akt des mittelalterlichen Dramas an, wir 
sehen die Abendrote des Mittelalters, den Aufgang einer 
neuen Zeit. 



Zehnter Vortrag, 29. Dezember 1904 

Wir schreiten immer mehr in der Betrachtung der Ge- 
schichte fort zu den Zeiten, in denen die grofien Erfindun- 
gen und Entdeckungen geschahen im 15. Jahrhundert. 

Die neue Zeit beginnt. Fiir eine geschichtliche Betrach- 
tung hat diese neue Zeit besonderes Interesse; in charakteri- 
stischen Merkmalen vollzieht sich der Ubergang zu den 
grofien Staatenbildungen Europas. Wir haben gesehen, wie 
aus der Feudalmacht der Ubergang zu der neuzeitlichen 
Fiirstenmacht sich entwickelt. Sie bedeutet auf der einen 
Seite eine Reaktion von alten Uberbleibseln aus fruherer 
Zeit und nur in gewisser Weise eine Erneuerung. Dasjenige, 
was geblieben ist von den alten Anspriichen von Fursten 
und Herzogen, was iibriggeblieben war, sammelt wieder 
seine Krafte und bestimmt durch seine famiKaren privaten 
Verhaltnisse die Landkarte Europas. 

Der Grundbesitz war in seiner Vorherrschaft durch die 



Stadte abgelost worden, das Biirgertum bliihte und alle ei- 
gentlichen Kulturfaktoren gingen von den Stadten aus. Das 
Kaisertum war zu einer Schattenmacht herabgesunken; 
nach langem Interregnum wurde Rudolf von Habsburg 
zwar gewahlt, aber der Kaiser war im Reich sehr unnotig 
geworden, er brauchte sich dort kaum mehr sehen lassen. 
Die habsburgische Dynastie ist nur bestrebt, durch diese 
kaiserliche Gewalt ihre Hausmacht zu mehren, uberall, wo 
aufierhalb der Stadtemacht ihr Rechte geblieben sind. Es ist 
ein einfacher Prozefi, der sich hier vollzieht, auch die iibri- 
gen - Fiirsten und Herzoge - sammeln, was ihnen geblie- 
ben ist, um ihre Hausmacht zu starken, und schaffen so die 
Grundlage fur grofie politische Gebiete. 

Der Mongoleneinbruch, spater die Einfalle der Tiirken, 
geben dazu Anlafi. Nur grofiere Fiirsten sind imstande, 
ihre Gebiete zu verteidigen; es schliefien sich die kleineren 
dem machtigeren an und bilden so die Grundlage fur kiinf- 
tige Staaten. Der neue Kaiser bedeutete nur noch sehr we- 
nig. Wie erwahnt, war Rudolf von Habsburg nur bestrebt, 
sich eine Hausmacht zu griinden. Nach der Uberwindung 
Ottokars von Bohmen wurde sein Sohn mit dessen Landern 
belehnt, spater wurde die habsburgische Hausmacht da- 
durch verstarkt, dafi immer neue Gebiete dazu erheiratet 
wurden. 

Nur der Vorgang kann bei all diesen rein privaten Unter- 
nehmungen uns interessieren, dafi es dabei zu dem Aufstan- 
de der Schweizer Eidgenossen kam, die frei sein wollten 
von den Anspruchen, die der Nachfolger Rudolf von Habs- 
burgs, Kaiser AlbrechtL, an sie machte. Durch harte Kamp- 
fe erlangten sie es, nur abhangig von kaiserlicher Gewalt - 
reichsunmittelbar - zu sein; sie wollten nichts wissen von 
fiirstlicher Gewalt. 

Das Bestreben, die eigene Hausmacht zu vergrofiern, 



setzt sich fort unter den folgenden Kaisern; so bemachtigt 
sich Adolf von Nassau eines grofien Teiles von Thiiringen, 
das er den schwachlichen Fiirsten entreifit. Auch Albrecht 
von Osterreich und dessen Nachfolger Heinrich von Lu- 
xemburg suchen sich in dieser Weise zu bereichern, letzte- 
rer, indem er seinen Sohn mit einer bohmischen Prinzessin 
vermahlte. Dies ist ein typischer Fall fur die Entwickelung 
der damaligen Verhaltnisse. 

Diese Stromung setzte sich fort unter neuem Anwachsen 
der kirchlichen Gewalt, aber zugleich war auch ein An- 
wachsen der Stromung vorhanden, die nichts mit der Kir- 
che zu tun haben wollte. Die Lehren der Waldenser oder 
Katharer wirkten aufreizend, es gab gewaltige Kampfe ge- 
gen die wieder aufkommende Fiirstenmacht. Die Lage der 
Bauern, die sich gehoben hatte durch die Stadte-Entste- 
hung, wurde jetzt immer driickender durch das feudale und 
Raubrittertum, die Bistiimer und Abteien, denen sie fronen 
mufiten. Die Stadte hatten eine Zeit der Bliite gehabt, da- 
mals hatte der Grundsatz gegolten: Stadtluft macht frei. - 
Doch mit der Zeit waren viele Stadte in Abhangigkeit gera- 
ten, besonders war es den Hohenstaufen gelungen, viele 
Stadte in Abhangigkeit zu bringen. Jetzt bestrebten sich die 
Stadte, weiteren Zuflufi abzuhalten, sie machten Schlufi da- 
mit und suchten auch hier sich fiirstlichen Schutz. Die Bau- 
ernbevolkerung geriet dadurch in erhohte Abhangigkeit 
von ihren Grundherren. Die Stimmung der Unterdriickten 
wurde aufgestachelt von den Waldensern und Ketzern, 
denen die Kirche nicht mehr gemigte. 

Der Schrei nach Freiheit und die christlich-ketzerische 
Stimmung gingen Hand in Hand; es verquickte sich religio- 
se Stimmung mit politischer Bewegung und diese Volks- 
stimmung fand ihren Ausdruck in den Bauernkriegen. Wer 
sie erfassen will, diese geistige Ketzerstimmung unabhangig 



von aufierer Kirchlichkeit und Fiirstengewalt, der mull sich 
vergegenwartigen, dafi besonders in den Rheingegenden - 
«des Heiligen romischen Reiches Pfaffengasse» - durch 
Jahrzehnte hindurch harte Kampfe von der fiirstlichen 
Macht gegen diese Stromung gefiihrt wurden. Volkstumli- 
che Prediger, die namentlich dem Dominikanerorden ent- 
stammten, widersetzten sich, ja, es kommt zum Streite der 
Prediger, weil sich diese Prediger nicht fiigen wollen der 
Bedriickung des Volkes durch die papstliche Gewalt. Sie 
sind nicht einverstanden mit der politischen Machtentfal- 
tung des Papsttums und der Ausbreitung der Macht der 
Fiirsten. 

Die franzosischen Konige sahen in dem Papsttum eine 
Unterstiitzung im Kampfe mit der deutschen Fiirsten- 
macht. So wurde der Papst nach Avignon gefiihrt und wah- 
rend etwa siebzig Jahren hatten die Papste dort ihren Sitz. 
Heinrich von Luxemburg kampft mit dem Papst, dem der 
Konig von Frankreich seine Unterstiitzung leiht. So be- 
herrscht nun der Papst von Avignon, von Frankreich aus, 
die Christenheit, und wie die Fiirsten ihren Lehensleuten 
gegeniiber immer mehr ihre Macht zur Geltung bringen, so 
streben die Papste nach immer grofierer Ausbreitung ihrer 
Gewalt. per weltliche Klerus, die machtbesitzenden Ab- 
teien und Bistumer waren abhangig vom Papst. Wahrend- 
dessen gestalteten die Fiirsten willkiirlich die Landkarte 
Europas. Kaiser Karl IV. vereinigt unter seiner Hausmacht 
Brandenburg, Ungarn und Bohmen. Die Kaiserwiirde ist 
zur Titulatur geworden, die Kaiser begniigen sich damit, 
ihre Privatlander zu verwalten, der Kaisertitel wird von 
den Fiirsten verschachert. 

Wollen wir die eigentliche Geschichte verstehen, miissen 
wir uns vorhalten, wie der grofie Umschwung vom Mittel- 
alter zur neuen Zeit darin bestand, dafi die Fiirsten fur ihre 



Privatinteressen jene unzufriedene Stimmung benutzt ha- 
ben; die Staaten, die sich bilden, sehen wir ihre Fangarme 
ausbreiten uber eine jahrhundertlange populare Stromung, 
und es wird diese Stromung fur religiose Freiheit benutzt, 
um zuerst das Papsttum zu bekampfen und seine Macht zu 
unterbinden und sich selber dann in diese Machtstellung 
hineinzuschleichen. 

Auf dem Grunde der Volksseele entwickelte sich jene 
Stromung; sie erstrebte etwas ganz anderes, als was dann 
die Reformation brachte. Der verweltlichte Klerus war ein 
ebensolcher Bedriicker geworden wie die weltlichen Fiir- 
sten. Die stadtische Bevolkerung sah sich in ihrem Egois- 
mus nicht genotigt, sich auf die Seite der Bedriickten zu 
stellen, nur wenn ihre eigene Freiheit bedroht wurde, sa- 
hen wir sie bemiiht, sich diese Freiheit zu erhalten. So ge- 
lang es ihnen im schwabischen Stadtebund und in der Pfalz 
doch nicht, sich zu behaupten, so dafi sich auch hier neue 
Furstenmacht herausbildete. 

Schon wahrend der Regierung des Kaisers Sigismund kam 
es zum Ausbruch in Bohmen in einer eigentiimlichen reli- 
giosen Bewegung. Eine Bewegung, die sich ausbreitet unter 
einem Manne, der - man mag anerkennen oder leugnen, 
was er vertrat - doch nur sich auf seine eigene Uberzeu- 
gung verliefi; eine Uberzeugung, die sich stiitzte auf den 
reinsten Willen, auf das Feuer in der eigenen Brust. Dieser 
Mann war Johannes Hus von Hussonetz, der Prediger und 
Professor an der Universitat Prag. Gestiitzt auf etwas, was 
in ganz Europa sich ausbreitete - denn schon vorher war 
in England durch Wiclif auf Herstellung des urspriingli- 
chen Christentums gedrungen worden - , was aber beson- 
deren Glanz erhielt durch die feurige Beredsamkeit des her- 
vorragenden Mannes, fand Hus iiberall Zustimmung. 
Uberall fanden seine Worte dadurch Eingang, dafi man nur 



hinzuweisen brauchte auf das schmahliche Verhalten des 
weltlichen Klerus, auf den Verkauf der Bistiimer und so 
weiter. Es waren zu Herzen gehende Worte, denn sie ver- 
kiindeten etwas, was als Stimmung durch ganz Europa ging 
und nur dort hervortrat, wo eine Personlichkeit sich fand, 
die ihr Ausdruck verlieh. Durch die Papste und die Gegen- 
papste war die Kirche in Unordnung geraten, die Papste 
selbst mufiten etwas tun. So wurde das Konzil von Kon- 
stanz einberufen. Es bildete einen Wendepunkt des mittel- 
alterlichen Lebens. Eine Umwandlung in eine reine Kirche 
wurde angestrebt. Dieses Vorhaben setzte eine lebhafte 
Opposition in Bewegung. Politische Beweggriinde spielten 
mit, Kaiser Sigismund selbst war lebhaft interessiert. Die 
argsten Mifistande der Kirche sollten abgestellt werden, 
denn der Klerus war vollstandig verwahrlost, auch in den 
Klostern waren unglaubliche Miftbrauche eingerissen. In 
Italien hatte Savonarola seine machtvolle Agitation gegen 
die Verweltlichung der Kirche begonnen. Auch damit woll- 
te das Konzil abrechnen. Der Vorsitzende des Konzils war 
Gerson, der oberste Leker der Pariser Universitat, ein zwei- 
ter Tauler fur die romanischen Lander. Diese Tatsache war 
fur den Ausgang des Konzils bedeutsam, denn mit Hilfe des 
Gerson war es dem Kaiser moglich geworden, die Fuhrung 
den Papstlichen zu entreifien und dem Hussitismus den 
Garaus zu machen. Weil diese Stromung nichts zu tun hat- 
te mit politischer Machtentfaltung, sondern aus tiefster 
Volksseele hervorging, deshalb war sie den geistlichen und 
auch besonders den weltlichen Machthabern so gefahrlich. 
Es ist nicht Rom allein, es ist die heraufkommende Fiirsten- 
gewalt, der Hus zum Opfer gef alien ist. Die Hussiten fiihr- 
ten ihren Krieg fur ein republikanisches Christentum nicht 
nur gegen die Kirche, er wurde gefuhrt gegen die heranna- 
hende Furstenmacht. 



Im Protestantismus verbundet sich aber diese Macht mit 
der religiosen Unzufriedenheit, urn sie fur seine Zwecke 
auszumitzen. Die Taten der Nachfolger des Hus waren da- 
mit zum Tode verurteilt, daft die Fiirstengewalt gesiegt Kat- 
te. Sonst hatten die Kaiser in jener Zeit nicht besondere 
Macht: den Kaiser Friedrich III. zum Beispiel nannte man 
allgemein den «unniitzen Kaiser». 

So gibt sich uns ein Bild der eigentumlichen Entwicke- 
lung in jener Zeit. In den immer mehr heraufkommenden 
Stadten ein bliihendes Leben, dahingegen dort, wo die feu- 
dale Macht sich behauptete, fortwahrend zunehmende Be- 
driickung; auf dem Gebiete tieferen religiosen Lebens zu- 
gleich, von diesen beiden Faktoren beeinflufit, eine starke 
Bewegung, wie sie im Auftreten eines Wiclif, eines Hus 
hervortrat. Italien bietet uns ein glanzendes Bild jenes stad- 
tischen Lebens in seinen Stadterepubliken; so waren es in 
Florenz die Mediceer-Kaufleute, die grundlegend wirkten 
fiir die Kultur Italiens. Alle diese Stadte waren maftgebende 
Kulturfaktoren. 

So werden Sie begreifen, daft die Mittel, durch die man 
sonst zur Macht gelangte, nicht mehr ausreichten. Im Mit- 
telalter hatte aufter der Anzahl von Geistlichen, die in den 
Klostern und in den Beamtenstellen wirkten, niemand le- 
sen und schreiben konnen. Nun ist dies Verhaltnis ein an- 
deres geworden. Lesen und Schreiben findet Verbreitung 
durch die neuen Stromungen, die nun iiber die Volksmen- 
gen dahinfluten. Die groften Schreibinstitute verbreiteten 
in Abschriften, was friiher dem Volke verboten war, und 
diese Abschriften wurden gekauft wie spater Biicher: 
Schriften des Neuen Testamentes, popularwissenschaftli- 
che Biicher, Sagen-, Legenden-, Helden- und Arzneibucher 
wurden im 14. Jahrhundert ins Volk geworfen. 

Namentlich von den Briidern vom gemeinsamen Leben 



waren, wie schon erwahnt, iiberall Schulen errichtet wor- 
den. Den Rhein entlang namentlich wurde, was friiher in 
Klostern verborgen war, jetzt ans Licht geholt. Eine formli- 
che Abschriftenindustrie entstand in Hagenau im Elsafi, de- 
ren Ankiindigungen wie zum Beispiel die von Lamberts, 
einem heutigen Kataloge ahnlich sind. Auch von Koln ging 
ein nachhaltiger Handschriftenhandel aus und die Briider 
vom gemeinsamen Leben wurden auch genannt «Br6dder 
von de penne». 

Hier haben wir das Vorbereitungsstadium der Buchdruk- 
kerkunst. Sie entsprang einem tiefen Bediirfnis, sie ist nicht 
wie aus der Pistole geschossen entstanden, sondern war 
dadurch vorbereitet, dafi sie zum Bediirfnis geworden war, 
indem die Biicher, die durch Abschrift hergestellt wurden, 
zu teuer waren, aber auch die armeren Volksklassen nach 
Biichern verlangten. Sie war ein Mittel damals, das Volk 
aufzuriitteln. 

Die Manner, die dazumal die Sache der Bauern fiihrten, 
konnten nur dadurch diese Flugschriften im Volk verbrei- 
ten, dafi ihnen die Verhaltnisse entgegenkamen. So entstan- 
den damals die Bauernbundnisse, der «Arme Konrad», der 
«Bundschuh» mit dem Wahlspruch: «Wir mogen von Pfaf- 
fen und Adel nicht genesen». Von alien Seiten ging damals 
das Bediirfnis nach etwas Neuem aus und als um 1445 Gu- 
tenberg die beweglichen Lettern erfand, war das Mittel ge- 
geben, das dazumalige Kulturleben ausgestalten zu konnen. 
Die Empfanglichkeit war vorbereitet fur die Erweiterung 
des Gesichtskreises. Unter dem Einflufi solcher Stimmun- 
gen entwickelt sich die Verweltlichung von Kiinsten und 
Wissenschaften, und dadurch die Periode der Erfindungen 
und Entdeckungen. Wahrend friiher die Kirche allein die 
Tragerin der Kunste und Wissenschaften gewesen ist, sind 
jetzt die Stadte und das Biirgertum die Trager der Kultur; 



aus der friiheren blofi kirchlichen Kultur ist sie heriiber- 
gebracht und verweltlicht worden. 

Wir kommen zu den Entdeckungen, die wir nur kurz 
aufzahlen konnen, die den Schauplatz der Menschenge- 
schichte iiber weite unbekannte Gebiete hin erstreckte. 
Dazu kam der Einfall der Tiirken in Griechenland, wo- 
durch die dort noch vorhandene Kultur Einflufi auf Euro- 
pa gewann. Es wanderte eine grofie Anzahl von griechi- 
schen Kunstlern und Gelehrten nach den anderen Landern, 
namentlich nach Italien aus und fand in den Stadten Unter- 
kunft. Sie befruchteten den Geist des Abendlandes. Diese 
Reformation nennt man die Renaissance. Das alte Grie- 
chenland stand wieder auf, jetzt erst konnte man die Schrif- 
ten kennenlernen, auf denen das Christentum fufite. Das 
alte hebraische Testament wurde gelesen, namentlich 
Reuchlin verdanken wir das und durch ihn und Desiderius 
Erasmus von Rotterdam wurde die Bewegung in die Welt 
gesetzt, die wir als Humanismus kennen. Aus den Bestre- 
bungen, die durch diese Einwirkungen eingeleitet waren, 
ging die Morgenrote der neuen Zeit hervor. Noch etwas 
hatte die Ausbreitung der tiirkischen Gewalt zur Folge. 
Lange schon hatte das Abendland mit dem Orient in Ver- 
bindung gestanden. Durch die Herrschaft der italischen 
Stadte iiber die Meere, deren Mittelpunkt Venedig war, 
hatte man die Produkte des Orients, namentlich indische 
Spezereien, nach Europa verfrachten konnen. Als nun 
durch den Einfall der Tiirken den Handelsleuten die Mog- 
lichkeit dieser Verbindung erschwert worden war, ent- 
sprang daraus das Bedurfnis, um Afrika herum einen ande- 
ren Weg nach Indien zu finden. Von Portugal und anderen 
siidlichen Landern gingen Sendungen aus, um die Gegen- 
den um Afrika zu erforschen, und es gelang Bartolomeo 
Diaz, das Kap der Stiirme, spater Kap der Guten Hoffnung, 



und Vasco da Gama 1498 den Seeweg nach Indien zu fin- 
den. Damit war eine neue Epoche for das europaische Wirt- 
schaftsleben angebrochen, die ihren Gipfelpunkt 1492 in 
der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus fand. Doch das 
gehort zu der Geschichte der neueren Zeit. 

So haben wir den Ausgang des Mittelalters kennengelernt 
und die Faktoren, die hinuberfuhren zu einer neuen Zeit. 
Erschiittert sehen wir das ganze Leben in seinen Grundla- 
gen. Und wenn man oft meint, dafi die Einschnitte bei der 
Geschichtsbetrachtung willkiiriich gewahlt seien, dieser 
Einschnitt ist wirklich bedeutsam. Es geschah einer von je- 
nen «Rucken», wie wir das in der Mitte des Mittelalters bei 
der Stadtegriindung, im Anfang bei der Volkerwanderung 
haben verfolgen konnen. 

Jetzt unter der Agide der Stadtekultur in Verbindung al- 
ler dieser Erfindungen mit der grofien wissenschaftlichen 
Eroberung, die die Tat des Kopernikus ist, wird eine ganz 
neue Kultur hervorgerufen. Die Verweltlichung der Kul- 
tur, eine Erstarkung der Fiirstenmacht wird herbeigefiihrt 
durch diese Stromung. Kleinere Gebiete hatten nicht Wi- 
derstand leisten konnen gegen die verheerenden Ziige der 
Tiirken, sie hatten sich Machtigeren angeschlossen. All die- 
sen Faktoren ist die Ausbreitung der grofien Staaten zuzu- 
schreiben. In mannigfaltigen Bildern haben wir die Verhalt- 
nisse sich wandeln gesehen, wir haben gesehen, wie das 
Biirgertum ersteht, wie es emporbliiht und wie ihm in der 
Fiirstenmacht ein gefahrlicher Gegner entgegentritt. 

Sie wissen, dafi die Gegenwart das Ergebnis der Vergan- 
genheit ist, wir werden daher Geschichte treiben in richti- 
ger Weise, wenn wir von der Vergangenheit fur die Gegen- 
wart und Zukunft lernen in der Art, wie es uns in dem Aus- 
spruch eines alten keltischen Barden entgegentritt, der sagt, 
dafi es ihm die schonste Musik sei, wenn er die grofien Ta- 



ten der Vorzeit hore, die ihn aufriitteln und begeistern. So 
wahr es ist, dafi das menschliche Dasein das wichtigste Pha- 
nomen und damit der Mensch selbst das wtirdigste Studium 
ist, so wahr ist es auch, dafi der Mensch sich ein groftes Rat- 
sel bleibt. Wenn der Mensch sich klar wird, dafi er sich 
selbst ein Geheimnis bleibt, wird er zu dem rechten Stu- 
dium gelangen. Denn nur dann wird der Mensch sich in 
rechter Wurdigung gegeniiberstehen, wenn er weift, dafi 
dies sein Geheimnis ist: sein eigenes Dasein im Zusammen- 
hange stehend mit dem Allsein. Das gibt ihm die rechte 
Grundlage fur all sein Tun und Handeln. 

Will er aber etwas erfahren iiber dieses Geheimnis seines 
eigenen Daseins, so mufi er sich wenden an die Wissen- 
schaft, die von seinem eigenen Streben erzahlt. In der Welt- 
geschichte sehen wir, wie Gefuhle und Gedanken in Hand- 
lungen iibergehen. Darum sollen wir Weltgeschichte ler- 
nen, da£ wir an ihr befliigeln unsere Hoffnungen, unsere 
Gedanken und Gefuhle. Bringen wir herixber aus der Vor- 
zeit, was wir brauchen fur die Zukunft, was wir brauchen 
fur das Leben, fur die Tat! 



II 



VORTRAGE AN DER BERLINER 
«FREIEN HOCHSCHULE» 



PLATONISCHE MYSTIK 
UND DOCTA IGNORANTIA 



Erster Vortrag, 29. Oktober 1904 

Im Aufgange dessen, was wir die christliche Mystik nen- 
nen, zur Zeit der Gnosis, wurde die Mystik «Mathesis» ge- 
nannt. Es war eine Welterkenntnis im grofien, die nach 
dem Muster der Mathematik aufgebaut ist. Der Mystiker 
sucht nicht blofi den aufieren Raum nach innerlich gewon- 
nenen Gesetzen zu erkennen, sondern er sucht alles Leben 
zu erkennen; er beschaftigt sich mit dem Studium der Ge- 
setze alles Lebens. Vom Allereinfachsten ausgehend steigt 
er zum Vollkommenen auf. Die Grundlage des mystischen 
Denkens, die Grundbegriffe der Mystik, der Inhalt dessen, 
was man Mystik nennt, wird wenig verstanden, nicht des- 
halb allein, weil sie blofi nach dem aufieren Worte beurteilt 
wird. Wenn man Darstellungen der Mystik liest, so ist es 
so, als ob man eine Darstellung lase, in der von Winkeln 
und Ecken in einem Hause gesprochen wird, da wo der Ma- 
thematiker eigentlich mathematische Winkel und Ecken 
meint. Die Worte der Mystik beziehen sich aber auf Le- 
benszusammenhange. 

Wir betrachten nun ein Bild der mystischen Vorstel- 
lungsweise bis zum Meister Eckhart im 13. und 14. Jahr- 
hundert, dessen Predigten alle spateren Mystiker angeregt 
haben. Wir mussen da an einen Namen ankniipfen, der 
oft verkannt wird, den des Dionysius Areopagita. In der 
Apostelgeschichte wird erzahlt von einem Dionysius, der 
ein Schiiler des Apostel Paulus gewesen sein soil. Im 6. 



Jahrhundert tauchten einige Schriften auf, die aufierordent- 
lich anregend sind fur die, welche eine Religion des Gemu- 
tes brauchen. Aus dem Griechischen wurden sie ins Latei- 
nische iibersetzt, und dadurch wurden sie dem abendlandi- 
schen Geistesleben bekannt gemacht. Das geschah am Hofe 
Karls des Kahlen durch den Theologen Scotus Erigena. 

Man nennt heute in gelehrten Schriften die Werke des 
Dionysius gewohnlich die des Pseudo-Dionysius. Man 
kann die Schriften nicht weiter zuriick als bis zum 6. Jahr- 
hundert nachweisen. Aber da sie durch Tradition iiberlie- 
fert wurden, ist mit Bestimmtheit anzunehmen, dafi die 
Schriften in den altesten Zeiten der abendlandischen Welt 
bestanden. Im 6. Jahrhundert sind sie aber wohl erst nieder- 
geschrieben worden. 

Der Mystiker denkt anders, als der Rationalist und Mate- 
rialist es tut. Der Mystiker sagt: Ich sehe hinaus in den 
Raum, sehe die Gesetzeswelt, nach der die Sterne sich be- 
wegen; ich erfasse diese Gesetze und schaffe sie nach. So 
gibt es also eine nacherschaffende Kraft des Geistes. Der 
Gedanke ist fiir den Mystiker mchts blofi Imaginares. Der 
Gedanke, der im Menschen lebt, ist nur ein nachschaffen- 
der Gedanke, worin der Mensch das nachlebt, was draufien 
in der Welt erschafft. Der Geist, der draufien im Weltenall 
schafft, ist derselbe Geist, der seine Gesetze in mir nach- 
denkt. Er sieht draufien in der Welt sprechende Gedanken. 
Die schaffenden Gewalten des Weltenalls haben die Geset- 
ze den Sternenbahnen eingepragt. Dieser Geist feiert seine 
Selbsterkenntnis, seine Wiedergeburt im Menschengeist. 
Der Mystiker sagte sich: Im Weltenall draufien schafft der 
Gedanke. Indem der Mensch erkennt, erkennt er den ob- 
jektiven Gedanken draufien. Im Menschen wird er subjek- 
tiver Gedanke. Es gibt ein Bindeglied, welches zu gleicher 
Zeit den Menschen in seinem innern Erleben trennt von 



dem aufieren Gedanken und verursacht, dafi der Gedanke 
von aufien hereinfliefk in ihn. 

Wenn wir einen Kristall ansehen, so ist in dem Kristall 
der Gedanke eines Wiirfels oder ein anderer Gedanke ver- 
wirklicht. Wenn ich diesen Gedanken verstehen will, mufi 
ich den Gedanken nachkonstruieren, nachleben. Dafi das, 
was in der Aufienwelt lebt, zu mir in Beziehung tritt, ge- 
schieht durch die Empfindung von innen, durch den Weg 
des Auges, die Empfindung, die den Gedanken nachlebt. 

Wir haben also zu unterscheiden: Erstens den schaffen- 
den Gedanken im Weltenall; zweitens die Korperlichkeit 
oder Leiblichkeit des Menschen als das Bindeglied; drittens 
den nachlebenden Gedanken im Menschen. - Der Leib des 
Menschen eroffnet die Pforte, dafi der schaffende Gedanke 
von auften einfliefk, und dadurch im Innern wieder auf- 
leuchtet. Der Leib des Menschen bildet die Vermittlung 
zwischen beiden Gedanken, dem schaffenden und dem 
nachschaffenden. Der Mensch nennt das, was in der Natur 
erst erschaffender Gedanke ist, den Geist. Das, was den Ge- 
danken empfindet, nennt er Leib. Das, was den Gedanken 
nachlebt, nennt er Seele. - Der Geist ist der Schopfer des 
Gedankens. Der Leib ist der Empfanger des Gedankens. 
Die Seele ist die Erleberin des Gedankens. 

Den schaffenden Geist draufien erfafit der Mystiker unter 
drei Begriffen. Dies ist bei Aristoteles klar ausgefiihrt. Er hat 
einen ganz merkwurdigen Begriff vom Weltenschopfer. Er 
sagt namlich, dieser Weltenschopfer kann nicht unmittel- 
bar gefunden werden; er ist aber in jedem Dinge enthalten. 
Wiirde der gottliche Geist heute irgendwo in irgendeiner 
Gestalt vorhanden sein, und wiirden wir uns ein Bild vom 
Schopfer danach machen, so wiirden wir doch nur ein un- 
vollkommenes Bild von ihm haben. Wir diirfen uns nicht 
ein bestimmtes, begrenztes Bild von dem Weltengeist 



machen. Erst in Zukunft wird man erkennen, was die Welt 
eigentlich treibt und in Bewegung setzt. Die Welt ist in 
fortwahrender Vervollkommnung begriffen. Derjenige, 
der da schafft in der Welt, ist der eigentliche Beweger, 
der Urbeweger, der unbewegte Beweger. 2u ihm miissen 
wir aufblicken und in ihm die Urkraft erkennen, die in 
allem lebt. Der Urgeist des Aristoteles bewegt alles in 
der Welt, er lebt sich aber in keinem Wesen ganz aus; er ist 
der schdpferische, die aufiere Welt bewegende, gestaltende 
Geist. 

Immer ist in der Welt schon etwas verwirklicht. Wir er- 
heben unseren Blick zu den Sternen eines Sonnensystems. 
Dort finden wir eine grofte Vollkommenheit. Im Sinne der 
Entwickelungslehre gedacht, miissen wir verstehen, dafi 
dieses Weltensystem nicht immer da war, sondern daft es 
sich gebildet hat. Wo wir auch hinausblicken in das Welt- 
all, miissen wir sagen, es hat sich bis zu einem gewissen 
Vollkommenheitsgrade gebildet. In verschiedenen Voll- 
kommenheitsgraden ist das, was erreicht ist, durch den un- 
bewegten Beweger vorhanden. Man kann tiberall immer 
unterscheiden zwischen dem schon Vorhandenen, Ver- 
wirklichten und dem fernen, gottlichen Ziel. Aber warum 
bewegt sich ein Weltensystem, eine Erde, zu diesem fernen 
Ziele hin? Es mufi in sich ein Streben nach dem unbeweg- 
ten Beweger haben. In der Mystik braucht man fur dieses 
Streben in dem einzelnen Weltensystem eine Bezeichnung. 
Man fragte sich, wodurch hat der Mensch nach diesem un- 
bewegten Beweger gestrebt? Er hat sein Gemiit darauf ge- 
richtet. Der Ausdruck dieser Richtung war stets gegeben in 
dem Inhalt seiner Religionsbekenntnisse, in denen noch 
heute vorhanden ist die Anleitung, zum unbewegten Bewe- 
ger zu gelangen. In der indischen Welt hieft der Ausdruck 
des Hinstrebens Veda oder Wort. Bei den Griechen hiefi es 



Logos, Wort. Es ist das Streben des Menschen nach dem 
unbewegten Beweger, der uns hinzieht zu sich. Das, was 
verwirklicht ist, heifit in den ersten Zeiten der christlichen 
Mystik der Geist, der Heilige Geist. Das Hinstrebende ist 
das Wort. In der Gnostik und bei Augustin ist der Heilige 
Geist der das Weltenall gestaltende Gedanke. Das, was in 
alien Dingen strebt, um zu der Gestalt des Geistes zu gelan- 
gen, heilk Logos oder Wort. Das dritte ist der unbewegte 
Beweger selbst, was die christliche Mystik der ersten Jahr- 
hunderte den Vater nennt. Dies ist der dreifache Aspekt, 
unter welchem sich der Gedanke in der Aufienwelt dar- 
stellt. Die erste christliche Mystik sagte: Gott stellt sich dar 
in drei Masken - Maske = persona, von personare, hin- 
durchtonen - , also in drei Masken oder drei Personen des 
gottlichen Geistes. Unter diesen drei Masken zeigt sich der 
Geist im Universum. 

Was als Geist im Innern des Menschen lebt, ist die Seele. 
Diese Seele kann nicht einen Gedanken fur sich schaffen. 
Sie mufi zuerst die Empfindung haben von dem Gegenstan- 
de. Dann kann sie in sich geistig den Gegenstand nachschaf- 
fen. Dann haben wir die Vorstellung in der Seele; dann 
kommt uns das Bewufitsein der Vorstellung. Was in der 
Seele lebt, konnen wir darstellen unter zwei Aspekten: dem 
Aspekt der Empfindung, der grofie Anreger, der grofie Be- 
fruchter; dann kommt das, was in der Seele aufleuchtet als 
Vorstellung; das ist das Ruhende in der Seele, was von au- 
fien seinen Inhalt empfangt. Die ruhende Seele, die sich be- 
fruchten laftt durch die Eindriicke aus der Welt, ist die 
Mutter. Die Summe der Empfindungen durch das Univer- 
sum ist das Seelisch-Mannliche, der Vater. Das, was sich be- 
fruchten lafit, ist das Seelisch-Weibliche, die Mutter-Seele, 
das Ewig-Weibliche. Das, wodurch der Mensch sich selbst 
bewufit wird, nennt der Mystiker den Sohn. 



Die Aspekte der Seele sind: Vater, Mutter und Sohn. Sie 
entsprechen den drei Aspekten im Kosmos: Vater, Sohn, 
Heiliger Geist, den Aspekten des Weltengeistes. 

Indem der Mensch durch die Empfindung seine Seele be- 
fruchten lalk, gebiert er noch einmal das ganze Weltenall 
aus seiner Seele heraus als Sohn. Dies aus der Seele als Mut- 
ter herausgeborene Universum nennt der Mystiker den 
Christus. Der Mensch, der sich dem Ideale nahert, immer 
mehr bewufit zu werden von dem Universum, der nahert 
sich dem, was der Mystiker den Christus im Menschen 
nennt. Meister Eckhart sagt, da$ in der Seele Christus gebo- 
ren wird. Ebenso sagt Tauler: Christus ist das in jedem 
Menschen wiedergeborene Weltenall. Diese Dreiheit war 
im alten Agypten: Osiris, Isis und Horus. 

Als drittes betrachtet der Mystiker das leibliche Selbst. 
Der Mystiker unterscheidet als sein Erlebnis die drei Perso- 
nen des universellen Geisteslebens als Vater, Mutter und 
Sohn. In diesem Sinne muE der Meister Eckhart gelesen 
werden. Das Erkennen ist fur den Meister Eckhart eine 
Auferstehung. Er sagt, Gott habe sich in ihm ein Auge ge- 
schaffen, mit dem er sich selbst anschauen konne. Wenn 
der Mensch sich fiihlt als Organ der Gottheit, die sich da- 
durch selbst beschaut, dann ist er zum Mystiker geworden; 
eine hohere Erkenntnis ist ihm dann aufgegangen. 



Zweiter Vortrag, 5. November 1904 

Wir haben gesehen, dafi der Mystik des Mittelalters zu- 
grunde liegt die Anschauung von der Dreiteilung der 
menschlichen Natur und des ganzen Universums. Wir ha- 
ben gesehen, wie der Mystiker sich den Geist vorstellte und 



das Leibliche und Seelische. Es liegt in der Natur der mysti- 
schen Vorstellungsweise, dafi der Mystiker im Geiste er- 
lebt, was draufien in der Natur ist, dafi er aus sich nach- 
schafft, was draufien in der Natur schafft. In aller Erkennt- 
nis, in allem innern Erleben sucht er ein Wiederaufleben 
des Universums aus der Seele des Menschen. In den Geset- 
zen, die das Universum beherrschen, sieht er die groften 
Weltgedanken, Weltideen. Damit steht er ganz auf dem 
Standpunkt der platonischen Weltanschauung. Plato war 
der grofie Mystiker des Altertums, und alle, die sich im 
Mittelalter in mystischer Anschauungsweise betatigt ha- 
ben, fufien auf dem Platonismus. Wenn der Mystiker dar- 
um in der Natur den schaffenden Gedanken sieht, den kos- 
mischen Gedanken, dann wird jedes einzelne, was den My- 
stiker umgibt, ein Ausdruck des Geistigen. Er unterschei- 
det: erstens die groften Weltgesetze, die schopferischen Ge- 
danken; zweitens die formlose Materie; drittens die Kraft, 
zu der die Materie wird dadurch, dafi der Geist sich in ihr 
betatigt. Also: erstens Gesetz oder Weltgedanke; zweitens 
Materie; drittens Kraft. Die Kraft entsteht dadurch, dafi der 
Weltgedanke sich in der Materie zum Ausdruck bringt. 
Nichts konnte mit den Sinnen wahrgenommen werden, 
wenn nicht die Kraft an die Sinne sich herandrangte und 
auf die Sinne eine Wirkung ausiibte. Im aufieren Physi- 
schen gibt es also drei Glieder. In der Seele ersteht das 
Aufierliche innerlich wieder auf. 

Wir unterscheiden im Sinne der Mystik: erstens das Va- 
terprinzip, die Summe aller Empfindungen und Wahrneh- 
mungen; zweitens das, was die Empfindung empfangt in 
der Seele, nannte man die seelische Mutter; drittens das Be- 
wufksein selbst, worin die Empfindung auflebt, nannte 
man den Sohn. Dies ist der Zusammenhang von Empfin- 
dung, Vorstellung und Gedanke. 



In der Seek selbst erlebt der Mystiker den Geist in seiner 
Innerlichkeit als Geist unmittelbar, in drei Gliedern: er- 
stens den Vatergeist, den unbewegten Beweger des Aristo- 
teles; zweitens die Sehnsucht nach dem unbewegten Bewe- 
ger, die in der Seele lebte: das Wort oder Logos; drittens das 
Aufleben in der geistigen Welt: das ist der Geist. 

Die Seele kann sich in sich selbst versenken, geistig schau- 
en, durch die Inspiration oder Intuition. Der Mystiker sagt: 
Wenn ich herausschaue in die Natur, wirkt die Kraft auf 
mich, und ich empfinde die Kraft, die auf mich wirkt - die 
Energetik genannt, das Kraftleben. - Indem die Seele sich 
in die Auftenwelt versenkt, mufi sie nach dem Satze des 
Aristoteles durch die Empfindung beseelt werden. Er sagt: 
Wenn ich den unbewegten Beweger sehen will, mufi ich 
frei sein von aller aufieren Empfindung. Dies Versenken in 
die Seele nennt er die Katharsis, Reinigung. Nach der Ka- 
tharsis vereinigt sich die Seele mit dem Geiste, wenn sie in- 
tuitiv wird, wenn sie mit der Empfindung aus der Aufien- 
welt sich nicht vereinigt. 

Die Henosis - Vereinigung - ist die Versenkung in den 
Geist, die Vereinigung mit dem gottlichen Urgeist. Diese 
kann nur vor sich gehen, wenn die Seele von der aufteren 
Empfindung gereinigt ist. Diese gereinigte, von aufkrer 
Empfindung freie Seele nennt der Mystiker die jungfrauli- 
che Seele, die nicht befruchtet ist durch die auftere Empfin- 
dung. So wie die Seele sonst von der Aufienwelt befruchtet 
wird durch die Empfindung, so wird sie im Inner n befruch- 
tet durch die Idee. Wenn die Seele in sich die Idee erlebt, 
jungfraulich sich befruchten lafit von dem Geist, dann ist 
diese Empfangnis fur den Mystiker die unbefleckte, jung- 
frauliche Empfangnis: die Conceptio immaculata. Die Idee 
wird in der Seele nicht nur den Sohn erzeugen, der wieder- 
gibt die Aufienwelt, sondern den Sohn, der der Geist selbst 



ist. Das Aufleben des zweiten Prinzips des Geistes, des 
Wortes oder Logos in der jungfraulichen Seele, nennt der 
Mystiker das Aufleben des Christus-Prinzips. So kann die 
Seele durch die Empfindung befruchtet werden und den 
Christus in sich auferstehen lassen, der in der Aufienwelt 
begraben ist, oder sie kann von der Idee befruchtet werden, 
und dann gebiert die Seele in sich den geistigen Christus, 
das Wort oder Logos. Nur der ist im hoheren Sinne fur den 
Meister Eckhart ein wirklicher Teilnehmer am Christus- 
Prinzip, der in sich den Christus, den Logos erlebt. Nichts 
hilft es, wenn der Mensch sich mit seinem Gott vereinigt 
weift, wenn er den Gott als aufiere Wirklichkeit ansieht, 
sondern nur, wenn er in seiner Seele das Christus-Prinzip 
aufleben lafit. Der Meister Eckhart hat mit seiner Lehre die 
Herzen immer wieder ergliihen lassen dadurch, dafi er den 
Menschen gezeigt hat, dafi der Mensch trunken werden 
kann, wenn er dies in sich erlebt. Die tiefste Geburt des 
Geistes mufi aus der eigenen Seele geboren werden. Die 
Mystiker haben alle dies verstanden. Eckhart sagt, es 
kommt nicht auf das gegenwartig gewordene Bild an, son- 
dern auf das, was dem Menschen immer gegenwartig ist. 
Gott und ich sind eins im Erkennen. Gott ist Mensch ge- 
worden, damit ich Gott werde. Er spricht ferner davon, wie 
in jedem einzelnen Menschen der hdhere, innere Mensch, 
der zum Geiste hinauffuhrt, auflebt. In jedem wohnen zwei 
Menschen, der weltliche und der geistige Mensch. Der in- 
nere, geistige Mensch geht seine Wege fiir sich. 

Der aufiere Mensch kann ein Leben fiir sich fuhren; aber 
das innere Leben nimmt seinen eigenen Gang dadurch, dafi 
es sich im Innern durch den Logos befruchten lafit. Immer 
wieder hielt Eckhart dies durch seine gewaltigen Predigten 
dem Menschen vor. Das Funklein in der Seele ist das 
Wesentliche. Das Funklein ist ein ewig Eins. 



Wenn der Mensch das Aufleben des Fiinkleins erlebt, so 
fiihlt er Gott selbst in der Seele. Es gibt bei den Mystikern 
einen Kunstausdruck: Die Seele hat sich in den Grand ge- 
lassen. - Es ist dies eine Anknupfung an das Bild der Tur 
mit dem Angel. Wie der Angel, auf dem sich die Tur dreht, 
unbewegt bleibt, so bleibt auch der innere Mensch unbe- 
wegt; im Innern fuhrt er ein eigenes Leben. Das innere Er- 
leben Gottes ist das, was zustande kommt, wenn die Seele 
sich in ihren Grund lafit. Das Gewahrwerden des gottli- 
chen Lebens in sich selbst nennt der Mystiker die Gelassen- 
heit (Angelus Silesius). Der Mystiker erlebt den Gott in sei- 
nem Innern. Dadurch ist Gott wie in einer Wohnung in 
dem Menschen gegenwartig. Der Mystiker fuhlt sich als 
Vermittler Gottes und der Welt; er fiihrt die in die Seele ge- 
senkten Befehle der Gottheit aus. Er hat die Vorstellung, 
dafi Gott den Menschen braucht; diese Vorstellung zieht 
sich wie ein Leitmotiv durch die ganze Mystik des Mittel- 
alters hindurch. Das macht das Weihevolle der Mystik aus. 

Eckhart vergleicht die Welt mit einem Bau, und die Men- 
schen mit den Bausteinen. Der Mensch soli als Baustein 
sich nicht dem Weltenall entziehen. Der Mystiker fiihlt 
sich vereint mit dem urgottlichen Leben: das ist das Durch- 
leuchtetsein, das man in der Mystik als Selbsterkenntnis des 
Menschen bezeichnet. Es zeigt, dafi, so wie der Mathemati- 
ker die Zahlen, der Mensch das Hochste aus sich erzeugen 
kann. Selbsterkenntnis wird zum unmittelbaren Enthusias- 
mus, weil die Selbsterkenntnis Hingabe an die Gottheit 
bedeutet. 

Bei Johannes Tauler kommt dieses Stimmungsvolle des 
Mystikers in seinem ganzen Leben heraus: sein Leben war 
eine Darlegung des gottlichen Lebens. Er sagt, so lange ich 
die hochste gottliche Weisheit nur bespreche und darstelle, 
habe ich nicht das Richtige erreicht. Ich mufi selbst ganz 



verschwinden und mufi Gott aus mir sprechen lassen. Er 
sagt, Gott sieht seine eigenen Gesetze, durch die er die Welt 
geschaffen hat, durch mich an, mein Selbst ist das Selbst- 
leben: Ich mufi Gott in mir sich erleben lassen. 

Die Mystik Eckharts ist eine mystische Erkenntnis; bei 
Tauler finden wir mystisches Leben. Von der Zeit an findet 
sich ein besonderer Kunstausdruck des Mystikers: der, der 
in sich Gott erlebt, wird «Gottes£reund» genannt. 

Eine unbekannte Personlichkeit erschien wahrend der 
Predigt Taulers; sie wird der «Gottesfreund aus dem Ober- 
land» genannt. Er begegnet uns nie anders, als daft er gleich- 
sam als Spiegel der anderen Personlichkeiten erscheint, die 
von ihm beeinflufit werden. Johannes Tauler stellt in sei- 
nem Meisterbuch dar, dafi er Gotteserkenntnis den Men- 
schen mitteilte, aber er konnte das Leben noch nicht iiber- 
flieften lassen; da kam der Gottesfreund und liefi Johannes 
Tauler seine Erleuchtung zuteil werden. Der Urquell selbst 
ging in ihm lebendig auf. Lange Zeit gab er alles Predigen 
auf und zog sich zuriick mit dem Unbekannten aus dem 
Oberland, um sich in die Geistesverfassung zu bringen, in 
der dieses Geistesleben aufging, so dafi er sich selbst zum 
Kanale der gottlichen Weisheit machte und diese durch 
ihn in andere uberflofi. Seine Rede gewann an Feuer, er 
machte den grofiten Eindruck; die Leute wurden durch sei- 
ne Worte verwandelt, wodurch die Menschen das Fiinklein 
in sich angefacht fanden. Das Ersterben fur alles, was lebt 
in der Aufienwelt, das ist das Aufleben des neuen Men- 
schen: das konnte Johannes Tauler jetzt bewirken durch 
die Kraft seines Wortes. Goethe sagt: «Denn solang du das 
nicht hast, dieses Stirb und Werde, bist du nur ein triiber 
Gast auf der dunklen Erde.» Das Erleben der Conceptio 
immaculata ist das Stirb und Werde, im niederen Sinn und 
im hoheren Sinn. Es erlebten die, welche Tauler zuhorten, 



die Unio mystica. Wie der Mensch alle aufieren Schonhei- 
ten empfindet, die von aufien herankommen, durch die 
Empfindung, so empfindet der Mystiker die Schonheit der 
geistigen Welt durch Christus, den er erlebt; es ist ein Er- 
lebnis, das ihn trunken macht: dies ist die wahre Spharen- 
musik. So wie der Mensch in der Empfindungswelt die 
sinnliche Harmonie empfindet, so empfindet der Mystiker 
in der Seele den Zusammenhang der grofien Weltgesetze, 
das Walten, das Schaffen des Logos, des Gottes selbst, die 
Spharenmusik. Durch die Menschenseele spricht der ewige 
Gott in seinem Logos sich aus. Johannes Ruysbroek, der bel- 
gische Mystiker, hebt diesen Gedanken in besonders inten- 
siver Weise hervor. Der Mystiker versteht in der Mystik 
das Aufleuchten des gottlichen Urquells in seiner eigenen 
Seele. Der Mystiker fuhlte in sich, in der Selbsterkenntnis, 
die Gottheit. Dadurch fand er solch flammende Worte 
dafur. 



Dritter Vortrag, 12. November 1904 

Wir kommen heute zu einem Hohepunkt der mittelalterli- 
chen Mystik, zu dem Mystiker, welcher zu gleicher Zeit 
einer der bedeutendsten Gelehrten seiner Zeit war: Niko- 
laus Chrypff oder Krebs, von Kues an der Mosel, der Kusa- 
ner genannt. Er war eine der interessantesten Personlich- 
keiten seiner Zeit. Er lebte von 1401 bis 1464. Er stand auf 
der Hohe seiner Zeit in den verschiedenen Wissenschaften. 
Er war Mathematiker, Physiker, Jurist, zuerst Rechtsan- 
walt. Auch war er einer der fuhrenden, der tonangebenden 
Manner seiner Zeit. Er war seiner Zeit aufierordentlich 
vorausgeeilt. Etwa hundert Jahre spater stellte Nikolaus 



Kopemikus die Weltanschauung der Astronomie auf eine 
neue Basis. Doch hat Nikolaus von Kues schon klar ausge- 
sprochen, dafi sich die Erde um die Sonne bewegt. Noch 
bedeutsamer scheint zu sein, dafi der Kusaner nicht nur ein 
tiefer, fuhrender Denker, sondern ein klarer Denker war. 
Er ist ein Denker, der die Scholastik ganz in sich aufgenom- 
men hatte. Dasjenige, was durch die Scholastik zum Aus- 
druck gebracht wird, wird nur sehr wenig studiert. Die un- 
geheure Klarheit und Scharfe der Begriffsfiihrung ist das 
Wesentliche daran. Niemals hat es eine so scharfe Fuhrung 
der Begriffskonturen gegeben, niemals eine so strenge Be- 
grenzung der auf das Geistesleben beziiglichen Begriffe. 
Wer sich schulen will in klarem Denken, derjenige, wel- 
cher arbeitet mit festen, begrifflichen Umri&zeichnungen, 
miifite sich in irgendeines der scholastischen Werke vertie- 
fen. Cusanus machte diese Schulung durch. 

Er besafi auch alles auf die soziale Kenntnis seiner Zeit 
Beziigliche. Er hatte einen umfassenden Gesichtskreis. 
1432, auf dem Basler Konzil, nahm er eine wichtige Stel- 
lung ein. Dann machte er weite Reisen durch Deutschland 
und die Niederlande, die namentlich der Reform des Erzie- 
hungswesens gewidmet waren. Er ging hervor aus der 
Schule der «Briider des gemeinsamen Lebens». Es wurde 
dort auf eine griindliche Gemutsbildung und eine klare 
Verstandesbildung gesehen. Der Kusaner unternahm seine 
Reise im Dienst dieser Schule. Wissenschaftlich geschult, 
klar und scharf denkend - frei steht er da, als Personlich- 
keit von imponierendem Charakter. Hatte er gewollt, so 
hatte er noch manches auf wissenschaftlichem Gebiete 
leisten konnen. Als Prediger wufite er die Zuhorer in der 
Tiefe des Gemutes durch seine Predigt zu fassen. Das, was 
seine Predigt so bedeutend machte, war der Strom, der aus 
der mittelalterlichen Mystik hervorging, der Strom, den 



wir bei Eckhart finden, bei Tauter und Suso, und in einer 
anderen Gestalt bei Giordano Bruno und Paracelsus. 

Tiefe des Gemiits, Feuer der Seele, paarte sich bei ihm 
mit einem ganz durchsichtigen, scharfen Begriffsvermogen. 
Alles, was der Verstand begreifen kann, was die Vernunft 
iiberschauen kann, das gab dem Kusaner nur den Unterbau 
fiir dasjenige, was er der Welt zu sagen hatte. Er wurde von 
dem Papst nach Konstantinopel geschickt, um dort eine 
Vereinigung zwischen der griechischen und romischen Kir- 
che zu bewirken. Auf der Heimreise bekam er eine Er- 
leuchtung, bei welcher er fuhlte, daft es noch etwas ganz an- 
deres gibt als das Verstandeswissen. Von da an sprach er 
nur dem den hochsten Wert zu, was hoher als das Wissen 
ist. Das Werk: «De docta ignorantia» schrieb er aus dieser 
Stimmung heraus. Der Titel: «Von der gelehrten Unwis- 
senheit» sollte bedeuten: etwas, was iiber das blofte Sinnes- 
und Verstandeswissen hinausgeht, ein Schauen, ein Er- 
leuchtetsein. Will man dies ganz verstehen, so mufi man 
manche Begriffe zu Hilfe nehmen, die erst das 19. Jahr- 
hundert gebracht hat. 

Das 19. Jahrhundert hat eine eigentiimliche Sinnesphy- 
siologie herausgebildet, zum Beispiel bei dem beriihmten 
Gesetze der Sinnesenergien des Physiologen Johannes Miil- 
ler. Er sagt, daft wir eine Farbe sehen, Licht aufnehmen 
konnen, das riihrt davon her, daft unser Auge in einer be- 
stimmten Weise gebaut ist. Hatten wir nicht das Auge, so 
wiirde die in Licht und Farben erglanzende Welt lichtlos 
sein, ohne die Wahrnehmung von Farben. Dasselbe laftt 
sich sagen iiber die Einrichtung unseres Ohres. Es hangt 
von der Einrichtung unserer Sinne ab, wie die aufiere Welt 
in uns eindringt. Von den spezifischen Energien unserer 
Sinne hangt es ab, wie wir die Welt wahrnehmen. Helm- 
holtz hat sich dariiber ausgesprochen, wie er das Verhaltnis 



sich denkt. Er sagt: Wie kann ich wissen, wie das Licht an 
sich, der Ton an sich gestaltet ist? Nur Zeichen der aufteren 
Welt sind unsere Sinnesempfindungen. 

Das «Wissen» nennt der Kusaner auch in diesem Sinne 
Wissen, namlich als die durch den Verstand verarbeiteten 
Eindriicke. 

Wir fragen nun: Haben denn unsere Sinne kein intimes 
Verhaltnis zu dem, was wir sehen, horen und so weiter? 
Wir haben uns vorzustellen, daft das Auge selbst vom Licht 
gebaut ist, daft die Sinne nicht nur fur die Auftenwelt da 
sind, sondern aus der Auftenwelt. Das Auge ist durch das 
Licht gebildet worden. Wer sind denn diejenigen, die bauen 
an unseren Sinnen? Ware nicht der Mensch begrenzt in den 
Grenzen seines gewohnlichen Bewufttseins, so wiirde er 
dies wissen. 

Im einzelnen Individuum muft die Kraft sein, welche die 
Sinne bildet. Im Embiyonalleben muft das Licht wirksam 
sein, muft der Ton wirksam sein. Sie miissen im Embiyo- 
nalleben im Individuum selbst arbeiten und die Organe bil- 
den. Das Licht schlieftt das Auge von innen auf, der Ton 
das Ohr. Die aufteren Qualitaten nehmen wir erst wahr 
durch die Sinne. Diese aufteren Qualitaten haben die Sinne 
auch gebildet. Sie sind die Baumeister der eigenen Organe. 
Wir sind selbst Licht vom Weltenlichte; wir sind Ton vom 
Weltenton. 

Der Mystiker lebt sich ein in das, was um ihn und in ihm 
lebt und webt. Das schaffende Licht, das drauften wirkt 
und innen schafft, empfindet er. Er ist selbst leuchtend und 
tonend in einer leuchtenden und tonenden Welt. Wenn er 
im schopferischen Lichte lebt, im schopferischen Ton lebt, 
dann hat er mystisches Leben. Dann uberkommt den Men- 
schen etwas, was anders ist als das Licht von auften und der 
Ton von auften. Wer das einmal erfahren hat, der empfin- 



det es als Wahrheit. Von dem schaffenden Lichte sprechen 
die Gnostiker, die agyptischen Mystiker, die Mystiker des 
Mittelalters. Sie nennen es das Aonenlicht. Es ist ein Licht, 
welches vom Mystiker aus die Gegenstande urn ihn her zu 
lebendigem Leben erweckt. Das ist das Pleroma der Gnosti- 
ker. So fuhlt sich der Mystiker in dem Weltenlicht beseligt. 
Er fuhlt sich beseligt verwebt mit diesem Aonenlicht. Da 
ist er nicht getrennt von der Wesenheit der Dinge; da ist er 
teilhaftig der unmittelbaren Schopferkraft. Das ist, was der 
Mystiker als seine BeseHgung in dem schopferischen Lichte 
bezeichnet. Die Vedantaweisheit bezeichnet die Welten- 
weisheit als Chit, aber die Beseligung, wo der Mystiker un- 
tertaucht in die Dinge, wo die Seele ganz mit den Dingen 
verschmilzt, bezeichnet die Vedantalehre als Ananda. Chit 
ist Weltenweisheit, Ananda die Weisheit, die unmittelbar 
mit dem Aonenlicht verschmilzt, die eins sich fuhlt mit 
dem die Welt durchleuchtenden All-Licht. Diese Stim- 
mung bezeichnet der Kusaner als «Docta ignorantia». 

So wie der Mensch die Erfahrung machen kann, dafi er 
verschmilzt mit dem Aonenlichte zu dem Pleroma, so 
kann er auch verschmelzen mit dem kosmischen Weltge- 
danken. Dann fuhlt er die Weltgedanken in seinem eigenen 
Innern auftonen. Wenn der Mensch gewahr wird den Ge- 
danken, der das Gesetz zum Dasein bringt in den Dingen, 
und dies als eigenes Gesetz in sich aufquillen fuhlt, dann to- 
nen die Dinge in ihrem eigenen Wesen in seiner Seele wi- 
der, dafi er intim mit den Dingen wird, wie der Freund mit 
dem Freunde intim wird. Dieses Wahrnehmen der ganzen 
Welt bezeichneten die Pythagoraer als Spharenharmonie. 
Das ist das Widerklingen des Wesens der Dinge in der eige- 
nen Seele des Menschen. Da fuhlt er sich vereinigt mit der 
Gotteskraft. Das ist das Horen der Spharenharmonie, des 
schaffenden Weltgesetzes; das ist das Verwobensein mit 



dem Sein der Dinge, das ist das, wo die Dinge selbst reden, 
und die Dinge sprechen durch die Sprache seiner Seele aus 
ihm selbst heraus. Dann hat er erreicht, wovon der Kusa- 
ner sagt, dafi keine Worte fahig sind, dies auszudriicken. 

Das Seiende ist das Gesehene. Das driickt nicht die erha- 
bene Existenz aus, welche als Pradikat den Dingen zu- 
kommt, wenn der Mystiker sich in der tiefsten Weise mit 
den Dingen vereinigt. Diese erhabene Existenz ist das Sat 
der Inder. 

Die pythagoraische Schule unterscheidet drei Stufen: 
Erstens die aufiere Wahrnehmung = Chit; zweitens das 
Pleroma = Ananda; drittens die Spharenharmonie = Sat. 

Dies sind die drei Stufen der Erkenntnis bei dem Cusa- 
nus: Erstens das Wissen; zweitens das Uberwissen oder die 
Beseligung; drittens die Vergottung. So nennt er sie in der 
«Docta ignorantia». 

Dafi er diese Zustande kennt, gibt seinen Schriften einen 
Schmelz, eine Weichheit, dafi man sagen kann, sie sind vol- 
lig siifi vor Reife. Aufierdem sind seine Schriften wunder- 
bar klar, durchsichtig, voll gewaltiger Ideen. 

Er war ein fuhrender Geist. Alle, die ihm folgen, stehen 
dann auf der Grundlage, die er geschaffen hat. So auch 
Giordano Bruno. Cusanus hat seine Weisheit aus der pytha- 
goraischen Schule geschopft. Er hat verstanden, was mit 
dem Pleroma, dem Aonenlicht und der Spharenharmonie 
gemeint war. - Auch Ruysbroek und Suso sind in ihrer fei- 
nen und geistestrunkenen Art die Vorlaufer des Cusanus. 

Wie eine Ouverture nimmt sich zu dem, was der Kusaner 
geschrieben hat, die «Theologia deutsch» aus. Ein Neu- 
druck derselben ist nach einer Handschrift von 1497 durch 
Franz Pfeiffer besorgt worden. Tiefe, gemutvolle Tone von 
einer historisch unbekannt gebliebenen Personlichkeit sind 
in dieser Schrift enthalten. Will jemand das Sat der Vedan- 



taphilosophie verstehen, so mufi er, wie er bei Ananda sich 
ausgiefien mufi in die Welt, bei Sat seinen Willen ganz aus- 
giefien. Bei der Vergottung (Sat) mufi das selbstlose Wollen 
da sein; sein Wille mufi unpersonlich geworden sein. - Der 
die «Theologia deutsch» geschrieben hat, hat dafiir gesorgt, 
dafi sein Name nicht auf die Nachwelt kam. Er nennt sich 
nur «der Frankfurters Der Mensch mufi sein Wollen hin- 
geben an das Gottliche, als Bote der Gottheit, und dasjeni- 
ge, was der Mensch von sich aus will, nennt er die Schrift, 
ein Entgegenbringen. 

Vor Cusanus strebte die Mystik aus dem blofien Wissen 
in das Einfiihren in das Pleroma, das schaffende Welten- 
Hcht. In dem gelehrten Nichtwissen kam das dann auf eine 
gelehrte und scharfsinnige Weise heraus. Wissen und Ver- 
stand wurden zu unmittelbarem, neuem Leben erweckt. 

Das Nichtwissen des Kusaners ist zugleich ein Uber- 
wissen. Er unterscheidet drei Stufen: Wissen, Beseligung, 
Vergottung - Chit, Ananda, Sat. Er ist zugleich der grofite 
Gelehrte und einer der tiefsten Menschen. 



SCHILLER UND UNSER ZEITALTER 
Vorwort von Rudolf Steiner 

ZUR I. AlJFLAGE I905 

Einige Worte an den Leser 

Das folgende ist eine Wiedergabe der Vortrage, die ich in 
den Monaten Januar bis Marz an der Berliner «Freien 
Hochschule» iiber Schiller gehalten habe. Der Abdruck ist 
erfolgt lediglich nach Notizen, die sich zwei Zuhorer wah- 
rend der Vortrage gemacht haben. Ich selbst war gar nicht 
in der Lage, die Aufzeichnungen durchzusehen. Nur einem 
dringenden Wunsche entspreche ich, wenn ich meine Ein- 
willigung zur Drucklegung gebe. Eigentlich bin ich nicht 
der Ansicht, dafi Vortrage gedruckt werden sollen. Was ge- 
sprochen wird, ist auf das Gehort- werden und nicht auf das 
Gelesen-werden zu stilisieren. Gesprochene Abhandlungen 
oder Biicher sind ein Unding. Und ebenso Bucher, die aus 
nachgeschriebenen Vortragen entspringen. Wer Stilgefuhl 
hat, wird mir recht geben. Ausnahmen von diesem Gesetze 
mogen in einzelnen Fallen gemacht werden. Eine solche 
Ausnahme liegt hier vor. Sie scheint mir die Regel zu be- 
statigen. 



Berlin, April 1905 



Dr. Rudolf Steiner 



Erster Vortrag, 21. Januar 1905 



Schillers Leber? und Eigenart 

Hundert Jahre sind am 9. Mai 1905 seit Schillers Tode da- 
hingegangen. Die deutsche gebildete Welt wird ohne Zwei- 
fel die Erinnerung an dieses Ereignis in festlicher Weise 
begehen. 

Drei Generationen trennen uns von Schillers Tode. Da 
erscheint es notwendig, Umschau zu halten, was uns heute 
Schiller ist. Im Jahre 1859 fand die letzte grofte Schillerfeier 
statt in ganz anderer Weise, als es heute sein kann. Die Zei- 
ten haben sich seitdem unermefilich geandert: andere Bil- 
der, Fragen, Gedanken sind es, die heute die Gemuter der 
Zeitgenossen beschaftigen. Als im Jahre 1859 die Schiller- 
feier stattfand, war sie etwas, was tief eingriff in die Herzen 
des deutschen Volkes. Damals gab es noch Personlichkei- 
ten, die selbst ganz in den Vorstellungen lebten, die durch 
Schillers dichterische Kraft hervorgebracht waren. Es ist 
moglich, dafi diesmal rauschendere Festlichkeiten veran- 
staltet werden; eine solche Anteilnahme aus der Tiefe der 
Seek kann es nicht mehr geben. Die Frage drangt sich uns 
auf: Was ist seitdem vorgegangen und wie kann Schiller uns 
noch etwas sein? Der Schiller-Goethe-Zeit grofie Bilder 
sind dahingeschwunden. Damals waren jene Anschauun- 
gen noch verkorpert in Personlichkeiten, die die alteren 
von uns in ihrer Jugendzeit kennengelernt haben. Diese 
fuhrenden Geister, die ganz in den Traditionen jener Zeit 
wurzelten, sie gehoren heute zu den Toten. Die Jungsten 
kennen sie nicht mehr. In der Person meines Lehrers 
Schrder, der in begeisterter Weise uns die Goethezeit dar- 



stellte, war es mir vergonnt gewesen, einen Menschen ken- 
nenzulernen, der ganz wurzelte in den Traditionen jener 
Zeit. In Herman Grimm ist der letzte gestorben von denen, 
deren Seelen ganz verbunden waren mit jener Zeit. 

Heute ist das alles Geschichte geworden. Andere Fragen 
beschaftigen tins heute. Politische Fragen, soziale Fragen 
sind so brennend geworden, dafi wir jene intime Kunstbe- 
trachtung nicht mehr verstehen. Sonderbar mufiten uns die 
Schiller-Goethe-Zeitmenschen erscheinen. Verlorengegan- 
gen ist uns die intime seelenvolle Betrachtung der Kunst. 
Das soil kein Tadel sein; hart ist unsere Zeit geworden. 

Sehen wir uns drei fuhrende Geister der Gegenwart an: 
wie anders sprechen sie iiber das, was die Zeit bewegt. Zu- 
nachst Ibsen: Wir sehen ihn, wie er in umfassender Art die 
Kulturprobleme der Gegenwart schildert, er, der die ein- 
dringlichsten Tone gefunden hat, gerade fur das Herz der 
Gegenwart, fur eine ins Chaotische gehende Zivilisation. 
Dann Zola: Wie soil sich die heutige Kunst zum Leben ver- 
halten, das in sozialen Kampfen emporlodert - , das ist die 
Frage, die er aufwirft. Dieses Leben erscheint uns so fest, so 
undurchdringlich, von ganz anderen Machten bestimmt, 
als es unsere Phantasie und Seele sind. Endlich Tolstoi: Er, 
der ausgegangen ist von der Kunst und hieraus erst gewor- 
den ist zum Prediger und Sozialreformator. Unmoglich er- 
scheint heute eine rein asthetische Kultur, wie Schroer fur 
die Schiller-Goethe-Zeit sie uns charakterisierte. Dazumal 
war das, was wir das asthetische Gewissen nennen konnen, 
zur mafigebenden Lebensfrage geworden. Man nahm 
Schonheit, Geschmack, kiinstlerisches Empfinden fur so 
ernste und wichtige Fragen, wie heute die Politik und die 
Freiheit. Man betrachtete die Kunst als etwas, das eingrei- 
fen sollte in das Raderwerk der Kultur. Heute ist das an- 
ders: Tolstoi, der auf dem Gebiete der Kunst selbst ein 



hochstes geleistet hat, verlafk die Kunst und sucht nach an- 
deren Mitteln, um zu dem Empfinden seiner Zeitgenossen 
zu sprechen. 

Schiller ist daher fur unsere Zeit nicht zu wiirdigen in der 
Weise, wie es im 18. Jahrhundert geschah. Was aber geblie- 
ben ist, das ist die eindringlichste Tiefe seiner Weltanschau- 
ung. Wir sehen zahlreiche Fragen in ganz neue Beleuch- 
tung geriickt durch Schillers Weltbetrachtung. Versuchen 
wir sie von diesem Standpunkt aus zu betrachten. Es soli 
dies die Aufgabe dieser Vortrage sein. 

Bei der Behandlung der Tages- und Kulturfragen, in der 
Wissenschaft wie im kunstlerischen Streben, herrscht heute 
vielfach Verwirrung und Unklarheit. Jeder junge Schrift- 
steller glaubt sich berufen, eine neue Weltanschauung zu 
begriinden. Die Literatur wird erfiillt mit Buchern iiber 
Fragen, die langst gelost sind. Probleme werden aufgerollt, 
die sich, so wie sie uns entgegentreten, unreif ausnehmen, 
weil diejenigen, die sie zu losen versuchen, sich nicht wirk- 
lich mit den Fragen beschaftigt haben. Oft werden die Fra- 
gen iiberhaupt nicht richtig gestellt. Das Problem liegt in 
der Fragestellung. 

Aus zwei Stromungen sehen wir die Personlichkek Schil- 
lers hervorwachsen. Es ist dies einerseits das Emporkom- 
men des Materialismus, und andererseits die Sehnsucht 
nach der Behauptung der Personlichkek. Was wir Aufkla- 
rung nennen, wurzelt in diesen beiden Stromungen. Uralte 
Traditionen waren im 18. Jahrhundert ins Wanken gekom- 
men. Im 16. und 17. Jahrhundert noch wurden die tiefsten 
Fragen des Menschengeistes aus der Tradition heraus ge- 
lost. An dem Verhaltnis des Menschen zur Welt, zum 
Urgrunde der Welt wurde nicht geriittelt. 

Jetzt wurde es anders. Uber das menschliche Geistesleben 
die Grundwahrheiten in dem Sinne zu losen, wie sie Jahr- 



hunderte gelost, war unmoglich geworden. In Frankreich, 
angeregt durch den englischen Sensualismus, kam eine ra- 
tionalistisch, materialistische Anschauung auf . Man begann 
die Seele abzuleiten aus materiellen Bedingungen, aus dem 
Stofflichen; man versuchte alles Geistige aus dem Physi- 
schen zu erklaren. Die Enzyklopadisten lieften den Geist 
aus der Materie hervorgehen. Wirbel von Atombewegun- 
gen waren das Um und Auf, das man in der Welt sah. «Der 
Mensch ist eine Maschine», so ungefahr formuliert La- 
mettrie sein materialistisches Glaubensbekenntnis. Schon 
Goethe klagt, als ihm die Schriften dieser franzosischen 
Materialisten - Holbachs «Systeme de la nature» - bekannt 
werden, sein Unbehagen iiber die Anmaftung, mit ein paar 
hingepfahlten Begriffen die ganze Welt erklaren zu wollen. 

Daneben gab es eine andere Stromung, diejenige, die von 
Rousseau ausging. Rousseaus Schriften machten den groft- 
ten Eindruck auf die bedeutendsten Manner jener Zeit. Es 
wird von Kant erzahlt, daft er, der ein grofter Pedant war, 
mit einer solchen Pixnktlichkeit seinen taglichen Spazier- 
gang unternahm, daft die Bewohner Konigsbergs ihre Uh- 
ren darnach stellen konnten. Einmal aber blieb, zum grofi- 
ten Erstaunen der Burger, der Philosoph fur einige Tage 
aus; er hatte Rousseaus Schriften gelesen. Sie hatten ihn 
so gefesselt, daft er den gewohnten Spaziergang dariiber 
vergaft. 

Die Grundlage der gesamten Kultur war in Zweifel ge- 
stellt durch Rousseau. Er hatte die Frage aufgeworfen, ob 
die Menschhek durch die Kultur hoher gekommen sei, und 
er verneinte diese Frage. Seiner Ansicht nach waren die 
Menschen in dem Naturzustande gliicklicher gewesen als 
jetzt, wo sie die Personlichkeit in sich verkommen liefien. 
In den Zeiten, als der Mensch, in alten Traditionen fuftend, 
noch etwas zu wissen glaubte von den Zusammenhangen 



der Welt, war er nicht so sehr auf die Personlichkeit ge- 
stellt. Jetzt, wo die Personlichkeit zerschnitten hatte die 
Verbindungsketten zwischen sich und der Welt, kam die 
Frage heran: Wie soli diese Personlichkeit wieder festste- 
hen in der Welt? Uber den Urgrund der Welt und der Seele 
glaubte man nichts wissen zu konnen. Wenn aber so nichts 
fest stand in der Welt, mufite der Drang nach besseren Zu- 
standen machtig in alien Herzen werden. Das revolutiona- 
re Streben des 18. Jahrhunderts ging von hier aus, Es hing 
zusammen mit der materialistischen Stromung. Ein guter 
Christ des 17. Jahrhunderts hatte nicht so von Freiheit, 
Gleichheit und Bruderlichkeit sprechen konnen. Dieses 
Freiheitsstreben mull als ureigenste Stromung jener Zeit 
gelten. 

Schiller war jung in der Zeit, als die Gedanken der Frei- 
heit reiften. Rousseaus Ideale iibten, wie gesagt, einen ge- 
waltigen Eindruck auf die hervorragendsten deutschen 
Manner aus, wie Kant, Herder, Wieland und so weiter. 
Auch der junge Schiller wurde ergriffen von dieser Stro- 
mung. Wir finden ihn schon auf der Karlsschule damit be- 
schaftigt, Rousseau, Voltaire und andere zu lesen. Es war 
die Zeit damals auf einen toten Punkt gekommen; die ho- 
heren Schichten hatten alien moralischen Halt verloren; 
die aufiere Tyrannis herrschte auch auf der Schule. Bei 
Schiller finden wir eine eigentiimliche Tiefe der Gemutsan- 
lage, die schon im Knaben als Neigung zur Religion hervor- 
trat. Urspriinglich beabsichtigte er daher auch, das theo- 
logische Studium zu wahlen, sein ganzes Gemut drangte 
ihn zu den tiefsten Fragen des Daseins. Es war eine Form 
jenes Freiheitsstrebens, das gerade in Deutschland diese be- 
sondere Gestaltung annahm: Frommigkeit vereinigte sich 
mit unendlicher Sehnsucht nach Emanzipation. Der Per- 
sonlichkeits-Freiheitsdrang, nicht nur Religion, ist es auch, 



was aus Klopstocks «Messias» spricht. Gerade in seinem 
religiosen Empfinden wollte der Deutsche frei sein. Der 
«Messias» machte auf Schiller einen ungeheuren Eindruck. 

Schiller wahlte das Studium der Medizin. Die Art, wie er 
die Medizin ergriff, hangt zusammen mit den Fragen, die 
ihn vor allem beschaftigten. Durch ernstes Naturstudium 
suchte er sich Aufschlufi zu verschaffen iiber diese ihm vor- 
liegenden Fragen. Der Unterricht in der Karlsschule sollte 
in ganz umfassender Weise auf ihn einwirken. Die Schaden, 
die dem heutigen Gymnasialunterricht vielfach anhaften, 
bestanden in der Karlsschule nicht. Physik, Naturwissen- 
schaften wurden eingehend behandelt; im Mittelpunkte 
des Studiums stand die Philosophic Ernste Fragen der Me- 
taphysik, der Logik wurden erortert. Schiller trat mit 
philosophischem Geist in das medizinische Studium ein. 
Die Art und Weise, wie er es erfalke, ist wichtig und bedeu- 
tungsvoll fiir sein Leben. Man versteht Schiller nicht ganz, 
wenn man nicht seine beiden Dissertationen liest, die er 
nach Absolvierung seines Studiums schrieb. Sie behandeln 
die Fragen: «Welches ist der Zusammenhang zwischen 
Materie und Geist?» - «Uber den Zusammenhang der 
tierischen und geistigen Natur des Menschen.» 

Von der ersteren Dissertation ist uns wenig nur erhalten 
geblieben. In der zweiten stellt sich Schiller die Frage: Wie 
haben wir uns das Wirken des Stofflichen im menschlichen 
Korper zu deuten? 

Fiir Schiller 1st schon im materiellen Korper etwas Geisti- 
ges. Es gibt Menschen, die im Korper nur etwas Niedriges, 
Tierisches sehen. Es ist keine tiefe, gehaltvolle Weltan- 
schauung, wenn man das Korperliche so erniedrigt und ver- 
abscheut. Es war nicht die Weltanschauung des jungen 
Schiller. Fiir Schiller ist der Korper der Tempel des Geistes, 
von Weisheit auferbaut, und hat nicht umsonst Einflufi auf 



das Geistige. Welche Bedeutung hat der Korper fiir das See- 
lische? - Diese Frage hat Schiller, dem das Physische auch 
heilig war, sich zu losen gesucht. Er schildert zum Beispiel, 
wie im Affekt, in der Geste, sich das Seelische ausdruckt; er 
sucht sich das Bleibende der seelischen Bewegung im Aus- 
druck in feiner geistvoller Weise zu erklaren. Er sagt am 
Schlusse seiner Abhandlung: 

«Die Materie zerfallt (beim Tode) in ihre letzten Elemen- 
te wieder, die nun in anderen Formen und Verhaltnissen, 
durch die Reiche der Natur wandern, anderen Absichten 
zu dienen. Die Seele fahrt fort, in anderen Kreisen ihre 
Denkkraft zu iiben und das Universum von anderen Seiten 
zu beschauen. Man kann freilich sagen, da£ sie diese Sphare 
im geringsten noch nicht erschopft hat, dafi sie solche voll- 
kommener hatte verlassen konnen, aber weifi man denn, 
dafi diese Sphare fur sie verloren ist? Wir legen jetzt man- 
ches Buch weg, das wir nicht verstehen, aber vielleicht 
verstehen wir es in einigen Jahren besser.» 

So versucht sich Schiller das Ewige des Geistes im Ver- 
haltnis zur physischen Natur klarzulegen, ohne aber das 
Physische zu unterschatzen. Diese Frage blieb nun die 
Grund- und Kernfrage Schillers fur das ganze Leben: «Wie 
ist der Mensch herausgeboren aus dem Physischen, und wie 
stellt sich seine Seele, die Freiheit seiner Personlichkeit, zur 
Welt?» «Wie soil die Seele ihren Mittelpunkt finden, da die 
alten Traditionen dahin sind?» 

Nachdem er in seinen Jugenddramen herausgebraust hat 
seinen ganzen Emanzipationsdrang, und damit das Herz 
des Volkes gewonnen hatte, vertiefte er sich in Geschichte 
und Philosophic, und wir beruhren die tiefsten kulturge- 
schichtlichen Fragen, wenn wir die Schillerschen Dramen 
betrachten. Jeder Mensch hatte damals ein Stuck Marquis 
Posa in sich. Dadurch gewann Schillers Problem ein neu- 



es Gesicht. Tiefe Fragen werden aufgerollt uber die 
Menschenseele, iiber die Bedeutung des Lebens. Schiller 
sah, wie wenig auf dem aufieren Plane sich hatte erreichen 
lassen. Man versuchte nun in Deutschland das Problem der 
Freiheit auf kunstlerische Art zu losen, und das ergab die 
Bedeutung des «asthetischen Gewissens». Auch Schiller 
hatte sich die Frage jetzt in diesem Sinne gestellt. Es war 
ihm klar, daft der Kiinstler den Menschen das Hochste zu 
bringen habe. Er hat dieses Problem in spateren Jahren be- 
handelt. In seinen «Briefen iiber die asthetische Erziehung 
des Menschen» sagt er: Der Mensch handelt unfrei in der 
Sinnenwelt aus Notwendigkeit; in der Vernunftwelt ist er 
unterworfen der Notwendigkeit der Logik. So ist der 
Mensch eingeschrankt von der Wirklichkeit und dem Ver- 
nunftideale. Es gibt aber einen anderen, mittleren Zustand 
zwischen Vernunft und Sinnenwelt, den asthetischen. Der- 
jenige, der kiinstlerisch empfindet, genielk den Geist im 
Sinnlichen; er sieht den Geist in die Natur hineinverwo- 
ben. Die Natur ist ihm ein schonheitsvolles Bild des Geisti- 
gen. Das Sinnliche ist dann nur der Abdruck des Geistes; 
im Kunstwerk ist das Sinnliche durch den Geist geadelt. 
Der Geist ist herabgeholt aus dem Reiche der Notwendig- 
keit. In der Schonheit lebt der Mensch als in der Freiheit. 
Die Kunst ist also die Vermittlerin zwischen dem Sinn- 
lichen und dem Verniinftigen im Reiche der Freiheit. 

Auch Goethe empfand so vor den Kunstwerken in Ita- 
lien. Im Schonen fand der Freiheit sdrang dieser Menschen 
seine Befriedigung; hier ist er der ehernen Notwendigkeit 
enthoben. Nicht durch Zwang, durch staatliche Gesetze: 
im asthetischen Genusse sah Schiller eine Erziehung zur 
Harmonic Als Mensch fuhlt er sich frei durch die Kunst: 
so mochte Schiller die ganze Welt in ein Kunstwerk um- 
wandeln. 



Wir sehen hier den Unterschied jener Zeit von der unse- 
ren. Heute stent die Kunst im Winkel; damals wollte Schil- 
ler dem Leben durch die Kunst einen unmittelbaren Ein- 
druck geben. Tolstoi mufi heute die Kunst verdammen, Ib- 
sen wird in seiner Kunst zum Kritiker des gesellschaftli- 
chen Lebens: Damals wollte Schiller durch seine Kunst ein- 
greifen in das Leben selbst. Als er, wahrend seiner Tatigkeit 
als Mannheimer Theaterreferent, seine Abhandlung iiber 
die «Schaubiihne als moralische Anstalt» schrieb, geschah 
es, um durch die Kunst unmittelbar einen Kulturimpuls 
zu geben. 



Zweiter Vortrag, 28. Januar 1905 

Schillers Schaffen und seine Wandlungen 

Wir haben gesehen, wie Schiller herausgewachsen ist aus 
den Ideen des 18. Jahrhunderts, wie die Ideale des Aufkla- 
rungszeitalters in seiner Seele wurzelten. Ihre besondere 
Gestalt hatten sie schon angenommen, als er von der Karls- 
schule abging und jene vorher erwahnten Abhandlungen 
geschrieben hatte. Wenn wir diese Anschauungen mit 
einem Worte charakterisieren wollen, konnen wir sagen, es 
handelte sich um die Emanzipation der Personlichkeit. 
Dieses Freimachen von uralten Traditionen geht noch 
weiter. 

Wenn der mittelalterliche Mensch vor der Aufklarungs- 
zeit nachgedacht hatte iiber sein Verhaltnis zu sich, zur Na- 
tur, zum Universum, zu Gott, hat er sich hineingestellt ge- 
funden in dieses Universum. Er verehrte denselben Gott 
draufien, der in der eigenen Seele lebte; dieselben Welten- 



machte, die er in der Natur fand, waren in der eigenen Seele 
des Menschen tatig; es war eine gewisse Einheit, die man 
sah in den Gesetzen des Weltalls und in der Natur des Men- 
schen. Man braucht sich nur an Geister wie Giordano 
Bruno zu erinnern. Diese monistische Uberzeugung von 
dem Zusammenhang der Natur mit dem Menschen spricht 
aus seinen Schriften. So war keine Trennung zwischen 
dem, was man moralische Forderung nennt, und den 
objektiven Gesetzen in der Natur. 

Dieser Gegensatz ist erst spater gekommen, als man die 
Natur von dem gottlichen Einflufi ausschlofi. Das, was im 
Materialismus heraufgekommen ist, kannte keinen Zusam- 
menhang zwischen der Natur und dem moralischen Emp- 
finden, dem, was der Mensch als moralische Forderung in 
sich ausbildet. Aus diesem ging hervor, was man den Rous- 
seauismus nannte. Er ist im tiefsten Grunde eine revolutio- 
nare Empfindung, ein Protest gegen die ganze bisherige 
Entwickelung. Er lehrt, dafi, wenn wir den Ruf des Men- 
schen nach Freiheit, seine Forderung nach Moral betrach- 
ten, wir einen tiefen Mifiklang finden. Er fragt: kann es 
denn einen Unterschied geben zwischen der objektiven 
Welt und der menschlichen Natur, daft die Menschen sich 
heraussehnen miissen, aus der ganzen Kultur heraus? 

Diese geistigen Sturme lebten sich aus als Gesinnung des 
jungen Schiller. In seinen drei Jugenddramen erhalt dieses 
Sehnen eine neue Gestaltung. In den «Raubern», in «Fies- 
co» und in «Kabale und Liebe» sehen wir ganz lebendig dar- 
gestellt, mit ungeheurem Pathos die Forderung, dafi der 
Mensch etwas tun miisse, um diesen Einklang hervorzuru- 
fen. In der Figur des Karl Moor wird herausgearbeitet ein 
Mensch, der in sich selbst den Zwiespalt zwischen der ob- 
jektiven Ordnung und den menschlichen Forderungen 
tragt, und der sich berufen fuhlt, zwischen der Natur und 



sich diesen Einklang hervorzurufen. Seine Tragik entsteht, 
weil er glaubt, durch Gesetzlosigkek und Willkur dem Ge- 
setz wieder aufzuhelfen. - In «Fiesco» scheitert das Sehnen 
nach Freiheit an dem Ehrgeiz. Das Ideal der Freiheit geht 
unter durch diese Disharmonie in der Seele des ehrgeizigen 
Fiesco, der sich nicht hineinfinden kann in die Ordnung 
des moralischen Ideals. - In «Kabale und Liebe» steht die 
Forderung der menschlichen Natur im aufstrebenden Biir- 
gerstande den Forderungen der Welt gegeniiber, wie sie in 
den herrschenden Standen zum Ausdruck kamen. - Es 
war verlorengegangen der Zusammenhang zwischen den 
moralischen Idealen und den universellen Weltenideen. 
Dieser Mifiklang tont grandios bei aller jugendlichen Un- 
reife aus Schillers ersten Dramen. 

Solche Naturen wie Schiller finden sich schwerer selbst 
als gradlinige, einfache, naive Naturen, wie auch die natiir- 
liche Entwickelung zeigt, dafi niedere Geschopfe weniger 
lange Vorbereitungsstadien brauchen als hochentwickelte 
Tiere. Grofie Naturen haben das an sich, dafi sie die ver- 
schiedensten Wandlungen durchmachen miissen, weil ihr 
Innerstes aus tiefen Schachten herausgeholt werden mufi. 
In wem viel liegt, wer mit Anwartschaft auf Genie zur 
Welt kommt, wird schwer sich durchfinden, sich durch 
mannigfaltige Anfangsstadien durcharbeiten miissen, wie es 
uns als Analogie die embryonale Entwickelung hoher- 
stehender Tierarten zeigt. 

Was Schiller fehlte, war Welt- und Menschenkenntnis. 
Die ersten Dramen zeigen Schiller mit all seinen daraus ent- 
stehenden Mangeln, aber auch mit all seinen Vorziigen, 
wie sie sich spater kaum so wiederfinden. - Dieses Urteil 
ist projiziert aus einer gewissen Hohe: man mufi wissen, 
was man Schillers Grofte schuldig ist. - Doch es konnte 
nicht lange so bleiben. Schiller mulke iiber diesen kleinen 



Horizont hinauskommen, und nun sehen wir, wie er im 
vierten seiner Dramen, im «Don Carlos» sich hinarbeitet 
zu einem anderen Standpunkt. Wir konnen aus einer dop- 
pelten Perspektive «Don Carlos» betrachten: erstens von 
Carlos, zweitens von Marquis Posa aus. Schiller selbst er- 
zahlt uns, wie erst sein Interesse bei dem jugendlich-feuri- 
gen Carlos gestanden hat und dann ubergegangen ist zum 
kosmopolitischen Posa. Es bedeutet dies eine tiefe Wand- 
lung in Schillers eigener Personlichkeit. 

Schiller war von seinem Freunde Korner nach Dresden 
gerufen worden, um dort ruhig zu arbeiten. Er wurde da 
bekannt mit einer Weltanschauung, die auf seine eigene 
Personlichkeit einen tiefen Einflufi ausiiben sollte, mit dem 
Kantianismus. Schillers Wesenheit war so, dafi ihm diese 
Beschaftigung mit Kant notwendig wurde und wir werden 
dadurch seinen Standpunkt noch tiefer verstehen lernen, 
wenn wir uns mit dem beschaftigen, was damals auf ihn 
einwirkte. 

Wir haben zu jener Zeit zwei ganz bestimmte Stromun- 
gen im deutschen Geistesleben. Die eine Stromung ist dieje- 
nige, die sich am griindlichsten ausdriickt in Herders 
«Ideen zur Geschichte der Philosophic der Menschheit». 
Die zweite ist die Kantsche Philosophic Bei Herder haben 
wir die Sehnsucht, den Menschen hereinzustellen in die 
ganze Natur, und ihn von da heraus zu begreifen. Es ist die- 
ses Einheitsstreben, was uns Herder als modernen Geist er- 
scheinen lafk. Was sich heute aufbaumt gegen den zwar als 
Kathederphilosophie noch viel geltenden Kantianismus mit 
seinem Dualismus, lebt schon bei Herder in seiner Metakri- 
tik. Alles schliefit eine Fiille von grofien Ideen ein; da ist ein 
Streben nach Einheitlichkeit zwischen Natur und Mensch. 
Vom untersten Naturprodukt, bis herauf zu dem Gedan- 
ken des Menschen, lebt ein Gesetz. Was im Menschen als 



Sittengesetz sich darstellt, ist im Kristall sich selbst Gesetz 
der Gestaltung. Eine Grundentwickelung zieht sich durch 
alles Bestehende hindurch, so dafi, was an der Pflanze sich 
zur Bliite gestaltet, in dem Menschen sich zur Humanitat 
entwickelt. Es ist das Weltbild, das auch bei Goethe heraus- 
getreten ist, das er in seinem Faust ausgedruckt hat in den 
Worten: 

Wie alles sich zum ganzen webt! 
Eins in dem andern wirkt und lebt . . . 

und das er in seinem «Hymnus an die Natur» darstellt. 

Goethe ist ganz durchgluht von diesem Einheitsstreben, 
wie es sich in Giordano Bruno, dem Pythagoraer, aus- 
driickt. Er stellt sich vollkommen in diese Stromung hinein: 

Was war' ein Gott, der nur von aufien stiefie, 
Im Kreis das All am Finger laufen liefte, 
Ihm ziemt's, die Welt im Innern zu bewegen, 
Natur in Sich, Sich in Natur zu hegen. 
So dafi, was in Ihm lebt und webt und ist, 
Nie Seine Kraft, nie Seinen Geist vermilk. 

Das ist die monistische Stromung, der Schiller in jener 
Zeit noch fremd gegeniibersteht. Fiir ihn ist noch die Zwei- 
heit da, der Dualismus. 

Kant hat in seiner «Kritik der reinen Vernunft» und in 
seiner «Kritik der praktischen Vernunft» dem menschli- 
chen Erkenntnisvermogen eine entschiedene Grenze ge- 
setzt. So weit der Verstand reicht, geht menschliches Er- 
kenntnisvermogen. Es kann nur aufieres geben, reicht aber 
nicht zu dem Wesen der Dinge. Was das Ding an sich ist, 
verbirgt sich hinter den Erscheinungen; der Mensch darf 
gar nicht dariiber sprechen. Aber es lebt etwas im Men- 



schen, was unmoglich nur Erscheinung sein kann. Das ist 
das Sittengesetz. Auf der einen Seite: die Welt der Erschei- 
nungen; auf der anderen Seite: das Sittengesetz, der katego- 
rische Imperativ, das «Du sollst», an dem nicht zu makeln 
ist, das erhaben ist iiber Erkenntnis und nicht als Erschei- 
nung aufzufassen. So tritt uns in Kants Philosophic nicht 
nur die Zweiheit, die wir friiher sahen, entgegen, sondern 
die ganze Welt menschlichen Geisteslebens trennt sich in 
zwei Halften: das, was erhaben sein soli iiber alle Kritik, 
das Sittengesetz, soil uberhaupt nicht Wissen sein, sondern 
praktischer Glaube, der keine Erkenntnisgesetze hat, son- 
dern lediglich sittliche Postulate. So erscheint der Kantia- 
nismus als die schroffste Darlegung des Dualismus. 

Vor Kant gab es eine Wissenschaft iiber die aufieren Er- 
scheinungen, dann eine Vernunftwissenschaft, die durch 
eingepflanzte Tatigkek bis zu Gott, Seele und Unsterblich- 
keit dringen konnte: so stellt sich die Wolff sche Philosophic 
dar. Kant, der die englischen Sensualisten Hume und Locke 
studierte, kam dadurch zum Zweifel in diesem Punkt. Er 
sagte sich: Wohin will man kommen, wenn man die hoch- 
sten Begriffe, Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, immer 
wieder priifen mufi auf ihre Vernunftigkeit hin? - Er er- 
klart in der Einleitung zu seiner «Kritik der reinen Ver- 
nunft»: Ich mufite also das Wissen aufheben um zum Glau- 
ben Platz zu bekommen. Weil man glauben soli und damit 
man glauben kann, hat er das Wissen vom Throne gesturzt. 
Er wollte von zweifellosen Grundlagen ausgehen und sagt 
daher: das Wissen kann uberhaupt nicht bis zu diesen Din- 
gen vordringen, aber das «Du sollst» spricht so streng, dafi 
der Einklang, den der Mensch zu finden ohnmachtig ist, 
durch Gott mufi bewirkt werden. Das fuhrt dazu, einen 
Gott zu postulieren. Wir sind als physische Wesen zwi- 
schen Schranken eingeschlossen, miissen aber als morali- 



sche Wesen frei sein. Dies gibt einen uniiberbriickbaren 
Dualismus, aber keinen Ausgleich zwischen Mensch und 
Natur. 

Schiller, der seiner Anlage nach damals an dem Gegensatz 
zwischen Natur und Menschen festhielt, schildert im «Don 
Carlos» das Herauswachsen des Menschen iiber alle Natur 
zu den Idealen hinauf. Er stellt nicht die Frage nach dem, 
was moglich ist, sondern nur die Frage nach dem: «Du 
sollst». Im Carlos ist es nicht eine Kritik des Hoflebens, die 
uns Schiller gibt. Diese tritt zuriick hinter praktisch sittli- 
chen Postulaten. «Mensch werde so, daft die Gesetze deines 
Handelns allgemeine Gesetze der Menschheit werden 
konnten», hatte Kant gefordert, - und in dem Marquis 
Posa, dem kosmopolitischen Idealisten, stellt Schiller die 
Forderung nach der Unabhangigkeit des Ideals von allem, 
was aus der Natur herauswachst. 

Als «Don Carlos» fertig war, stand Schiller in grofkmog- 
lichstem Gegensatz zu der Weltanschauung Goethes und 
Herders, und im Anfang seines Lebens in Weimar konnte 
sich deshalb keine Annaherung an diese vollziehen. Nun ist 
aber Schiller zum Reformator des Kantianismus geworden: 
er strebt jetzt zum Monismus, findet aber die Einheitlich- 
keit nur auf asthetischem Gebiete: im Problem der Schon- 
heit. Er zeigt uns, wie der Mensch sich erst da auslebt, wo 
er die Natur heraufadelt zu sich und das Sittliche von oben 
in seine Natur aufnimmt. Der kategorische Imperativ 
zwingt ihn nicht unter ein Joch, sondern freiwillig dient er 
dem, was im «Du sollst» enthalten ist. So stellt sich Schiller 
auf seine Hohe, indem er iiber Kant hinauswachst. Er wen- 
det sich gegen Kant, der den Menschen nicht zum freien 
Wesen, sondern zum Sklaven machen will, gebeugt unter 
das Joch der Pflicht. Es wurde ihm klar, dafi im Menschen 
etwas ganz anderes lebt, als dieses Beugen unter ein «Du 



sollst». In monument alen Satzen kommt zum Ausdruck, 
wie er sich dem nahert, was Goethes und Herders Anschau- 
ung ausmacht: «Gerne dien' ich den Freunden, doch tu' ich 
es leider mit Neigung, und so wurmt es mir oft, daft ich 
nicht tugendhaft bin.» 

Kant hat das herabgewiirdigt, was der Mensch aus Nei- 
gung, was er freiwillig tut, und dagegen was er aus Pflicht 
tut, als das Hohere gepriesen. Kant wendet sich in patheti- 
scher Apostrophe an die strenge Pflicht, die nichts Verlok- 
kendes haben soli. Schiller holt den Menschen aus seiner 
Schwache heraus, indem er das Sittengesetz zum Gesetze 
seiner eigenen Natur werden lafit. Durch das Studium der 
Geschichte, durch aufrichtige Neigung und Hingabe an das 
menschliche Leben, kam er zu dem verlorenen Einklang 
und damit zu dem Verstandnis Goethes. 

Herrlich beschreibt Schiller Goethes Weise in dem denk- 
wiirdigen Brief vom 23. August 1794: «Lange schon habe 
ich, obgleich aus ziemlicher Feme, dem Gang Ihres Geistes 
zugesehen, und den Weg, den Sie sich vorgezeichnet haben, 
mit immer erneuter Bewunderung bemerkt. Sie suchen das 
Notwendige der Natur, aber Sie suchen es auf dem schwer- 
sten Wege, vor welchem jede schwachere Kraft sich wohl 
hiiten wird. Sie nehmen die ganze Natur zusammen, um 
iiber das einzelne Licht zu bekommen; in der Allheit ihrer 
Erscheinungsarten suchen Sie den Erklarungsgrund fur das 
Individuum auf.» 

Damit war Schiller auf der Hohe angekommen, zu der 
er sich entwickeln mufke. War er selbst ausgegangen von 
der Zweiheit, so war er jetzt gekommen zu der Einheit 
zwischen Mensch und Natur. So kam er zu der Art des 
Schaffens, die ihm in der letzten Zeit, seit der Mitte der 
neunziger Jahre eigen war, und zur Freundschaft mit 
Goethe. Es war eine geschichtliche Freundschaft, weil sie 



nicht nur nach Gliick fiir die beiden allein suchte, sondern 
fruchtbringend war fiir die Welt, fiir die Menschheit. In 
dem, was wir an Goethe und Schiller haben, haben wir 
nicht nur Goethe und Schiller, sondern wir haben noch ein 
Drittes: Goethe plus Schiller. - Wer den Gang des Geistes- 
lebens verfolgt, sieht darin ein Wesen, das nur dadurch ent- 
stehen konnte, dafi in der selbstlosen Freundschaft, aus der 
gegenseitigen Hingabe, sich etwas entfaltete, was als neues 
Wesen iiber der Einzelpersonlichkeit stand. Diese Stim- 
mung wird uns den rechten Ubergang zu Goethe und dem, 
was er fur Schiller bedeuten sollte, ergeben. 



Dritter Vortrag, 4. Februar 1905 

Schiller und Goethe 

Wir kommen heute zu einem der wichtigsten Kapkel der 
deutschen Geistesgeschichte, zu dem Verhaltnis zwischen 
Goethe und Schiller. Das Verhalten der beiden ist einzigar- 
tig in der Welt. Von verschiedenen Seiten her waren sie ge- 
kommen. Von Herder und allem, was ankmipfte an die 
Einheitlichkeit des Geistes und der Natur, kam Goethe, 
von der Kantischen Philosophic, vom Dualismus, kam 
Schiller. Aufierdem waren Goethes und Schillers Naturen 
grundverschieden. Nehmen wir Goethes «Faust», wie er 
sucht in die Natur einzudringen, wie er sich unbefriedigt 
fuhlt, etwas Geistiges in Abstraktionen zu begreifen und 
sich bemuht, es unmittelbar aus der Natur zu schopfen. 
Fur Schiller war zunachst die Natur etwas Niedriges, das 
Ideal war ihm etwas besonderes, was dem Geiste entsprun- 
gen war, im Widerspruch mit dem Realen. Beide waren 



aufterordentlich tiefe Naturen, die sich deshalb nur schwer 
finden konnten. So sehen wir, dafi sich diese beiden grofien 
Genien in der ersten Zeit ihres personlichen Begegnens 
durchaus nicht verstehen konnen. 

Als Schiller nach Weimar kam, fiihlte er sich von dem, 
was er von Goethe zu horen bekam, eher abgestoften als 
angezogen, auch ein personliches Zusammentreffen konnte 
daran nichts andern. So konnte Schiller im Jahre 1788 iiber 
«Egmont», diese Frucht reifen Kunststudiums, eine abfalli- 
ge Kritik schreiben. Er kann nicht begreifen, wie Goethe 
Egmont hingestellt habe nicht als heroischen Schwarmer, 
wie es damals in Schillers Sinne gelegen hatte, sondern, 
nach seiner Meinung, als eine Art Schwachling, der sich 
von den gegebenen Verhaltnissen bestimmen lafit. Auch 
«Iphigenie» konnte Schiller damals nicht verstehen. 

In einem Punkte begegneten sich Schiller und Goethe. 
Schiller hatte in einem Aufsatz iiber Burgers Gedichte sich 
dahin ausgesprochen, dafi der Mangel an Idealismus bei 
Burger ihn nicht befriedige. Goethe war mit diesem Auf- 
satz so einverstanden, dafi er sagte, er mochte gern den Auf- 
satz selbst geschrieben haben. Aber es zeigt sich noch, wie 
verschieden der Lauf der beiden Geister ist in dem Aufsatz 
Schillers iiber «Anmut und Wurde». Es tritt uns in diesem 
Aufsatz Schillers ganzes Streben nach Freiheit entgegen. In 
dem Notwendigen kann er nicht Anmut finden, ein Natur- 
werk kann als anmutig nicht erscheinen; erst beim Kunst- 
werk, das ein Symbol, ein Sinnbild der Freiheit ist, konnen 
wir von «Anmut» sprechen. Als «Wurde» kann man nur 
vom hoheren Geistigen sprechen. In allem zeigte sich Schil- 
lers alte Anlage, den Begriff des Idealen als etwas Entgegen- 
gesetztes dem Natiirlichen zu fassen. 

Auch die Professur in Jena, die Goethe fur Schiller er- 
wirkte, ist nicht als ein Freundschaftsdienst aufzufassen. 



Dieses Ereignis war fur Schiller von weitgehender Bedeu- 
tung. An dem Studium geschichtlicher Charaktere konnte 
er einen tiefen Blick in den Entwickelungsgang des Geistes 
tun. Auch war ihm die Moglichkeit gegeben, sich einen 
Hausstand zu griinden und sich mit Charlotte von Lenge- 
feld zu verheiraten. Gerade an der Geschichte konnte Schil- 
ler so heranreifen, wie es sein Antrittsthema: «Was heifit 
und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?» 
bedeutungsvoll ausspricht. So war Schiller immer mehr in 
die Wirklichkeit hineingekommen. 

Vom Jahre 1790 ab, nach einem Besuche bei Kdrner y der 
sich zum Vermittler zwischen den beiden machte, hat wohl 
Goethe eine ganz andere Ansicht liber Schiller bekommen. 
Doch ihre Freundschaft sollte nicht bestimmt werden 
durch die Punkte, in denen sich Sympathien von Alltagsna- 
turen finden. Nicht aus personlichen Interessen sollte dies 
Biindnis hervorgehen. Nie ware auf diese Art bei der Ver- 
schiedenheit ihrer Personlichkeiten ihre Freundschaft so 
weltbedeutend geworden. 

Es war nach einer Versammlung der Gesellschaft fur na- 
turwissenschaftliche Forschung im Jahre 1794 - vermut- 
lich im Juli — , als Goethe und Schiller beim Nachhauseweg 
in ein Gesprach liber den eben gehorten Vortrag kamen. 
Schiller sagte, es sei ihm alles so zerstuckelt vorgekommen, 
wie lauter Einzelheiten, worauf Goethe meinte, er konne 
sich wohl eine andere Art der Naturbetrachtung vorstellen. 
Er entwickelte ihm seine Anschauungen iiber den Zusam- 
menhang aller Lebewesen, wie man das ganze Pflanzen- 
reich, als in fortwahrender Entwickelung zu betrachten 
habe. Mit einigen charakteristischen Strichen zeichnete 
Goethe die Urpflanze, die er gefunden, auf ein Blatt Papier. 
Aber das ist keine Wirklichkeit, das ist eine Idee - , wende- 
te Schiller ein. «Nun, wenn das eine Idee ist», sagte Goethe, 



«so sehe ich meine Ideen mit Augen.» So zeigte sich in die- 
sem Zusammenstofi beider Denken. Goethe sah den Geist 
in der Natur. Das, was der Geist intuitiv erfafit, war fur ihn 
ebenso wirklich, wie das Sinnliche; die Natur umschliefit 
fur ihn den Geist. Die wahre Grofte im Menschen zeigte 
sich nun bei Schiller in der Art, wie er sich bemiihte zu er- 
griinden, worauf Goethes Geist fufke. Er wollte den rech- 
ten Standpunkt finden. In neidloser Anerkennung dessen, 
was ihm so entgegentritt, begnindet Schiller die tiefe 
Freundschaft, die nun die beiden verbinden sollte. Es ist 
eines der schonsten menschlichen Dokumente der Brief 
vom 23. August 1794, den Schiller an Goethe schreibt, 
nachdem er sich in Goethes Schaffen vertieft hat. «Lange 
schon habe ich, obgleich aus ziemlicher Feme, dem Gang 
Ihres Geistes zugesehen, und den Weg, den Sie sich vorge- 
zeichnet haben, mit immer erneuter Bewunderung be- 
merkt. Sie suchen das Notwendige der Natur, aber Sie su- 
chen es auf dem schwersten Wege, vor welchem jede 
schwachere Kraft sich wohl htiten wird. Sie nehmen die 
ganze Natur zusammen, um liber das einzelne Licht zu be- 
kommen: in der Allheit ihrer Erscheinungsarten suchen 
Sie den Erklarungsgrund fur das Individuum auf.» 

Auf diese Weise hat Schiller, nachdem er ihn erkannt hat- 
te, Goethe gewiirdigt. Es gibt keine tiefere psychologische 
Schilderung Goethes. So ist es bis zu dem Tode Schillers ge- 
blieben: unanfechtbar war diese Freundschaft, obwohl 
Neid und Mifigunst die beiden mit den niedrigsten Mitteln 
zu trennen versuchten. Jetzt arbeiteten sie so zusammen, 
dafi der Rat des einen auf den anderen stets befruchtend 
wirkte. Schiller findet in einer Grofie, die heute noch nicht 
ubertroffen ist von andern Asthetikern, indem er sich fragt: 
«Wie vertragt sich dieser oder jener Begriff mit dem Geist e 
Goethes?», eine Darstellung der verschiedenen Arten des 



kunstlerischen Schaffens, die er in seiner Abhandlung Uber 
«Naive und sentimentale Kunst» niederlegt. Naiv schafft 
der Kunstler, der noch im Zusammenhange steht mit der 
Natur, der selbst noch Natur in der Natur ist. So schufen 
die Griechen. Sentimental schafft derjenige, der sich wieder 
zuriicksehnt zur Natur, nachdem er aus ihr herausgerissen 
war. Es ist dies das Wesen der modernen Kunst. 

Es liegt etwas Grofies in der Art, wie die Kunst von den 
Freunden aufgefafk wurde. Eine uralte Lehre, die in der 
orient alischen Weisheit fortlebt, von dem Verganglichen 
aller Erscheinung, von dem Schleier der Maja, spricht sich 
hier aus. Nur derjenige Mensch lebt in der Wirklichkeit, 
der sich liber die Illusion erhebt in die Region des Geistes. 
Die hochste Wirklichkeit ist nichts Aufierliches. Alles 
drangte die beiden auf eine innerliche Wirkung. Zwar 
hatte Goethe seinen Faust sagen lassen: «Im Anfang war die 
Tat.» Doch in Deutschland waren damals die Verhaltnisse 
noch nicht so weit, um, wie in Frankreich, aufiere Wirkun- 
gen zu schaffen; nur die Sehnsucht nach Freiheit gab es. So 
suchten diese Geister ihre Taten im Gebiete des Schonen, 
im Kunstwerk. Hineingestellt sollte werden ein Abglanz 
der hoheren Wirklichkeit, der Natur in der Natur, in das 
Leben, durch den schonen Schein. 

Goethes «Wilhelm Meister» steht in diesem Zeichen. Im 
«Wilhelm Meister» soil hinausgefuhrt werden uber das Illu- 
sionare in der Alltaglichkeit zu der Vollendung der Person- 
lichkeit. So wird «Wilhelm Meister» zum schonsten Erzie- 
hungsroman, dem Schillers Worte als Motto gelten konn- 
ten: «Nur durch das Morgenrot des Schonen dringst du in 
der Erkenntnis Land.» Der Geist, aus dem wir handeln, ist 
das Hochste. Es war nicht moglich, in jener Zeit zu zeigen, 
dafi aus dem Innern heraus die spirituelle Welt des Geistes 
geboren wird. So wurde im «Wilhelm Meister» zunachst 



die Befreiung der Welt durch kiinstlerische Schonheit 
geschildert. 

Die fortdauernde Mitarbeit, die Ratschlage Schillers, hal- 
fen das persdnliche Moment im «Wilhelm Meister» heraus- 
schalen. Wir sehen hier auf der einen Seite dasjenige, was 
man als die tiefere Ursache des Menschen zu betrachten 
hat, was eine neuere Geisteswissenschaft den Ursachenleib 
nennt; auf der anderen Seite die aufferen Einwirkungen. 
Nichts entwickelt sich, was nicht im Keime vorhanden 
ware, aber es wird durch die aufieren Einwirkungen beein- 
flufk. Dieses Zusammenwirken zeigt sich in Schillers 
schopferischer Tatigkeit. Seine Balladen, sein Wallenstein, 
waren nicht moglich gewesen, hatte Goethes Einflufi nicht 
befruchtend gewirkt. Es war eine Art von Bescheidenheit, 
mit der sich die beiden gegeniiberstanden, in der eine unge- 
heure Grofte liegt. Sie wurden eigentlich erst ein Ganzes 
durch die Erganzung ihrer beiden Naturen, durch die aber 
auch ungeheuer Groftes zustande kommen konnte. 

Die tiefe und starke Freundschaft machte es, daft alles 
Philistrose sich gegen sie aufbaumte. Die beiden wurden 
von Neid und Mifigunst verfolgt, denn noch niemals hat 
das Kleine die Grofte verstehen konnen. Heute glaubt man 
kaum mehr, welche Angriffe von der Kleinheit auf diese 
Grofien losgelassen wurden. Die «Annalen fiir Philoso- 
phie» zum Beispiel sprachen wegwerfend von ihnen; ein ge- 
wisser Manso bezeichnete sie als «Sudelk6che von Weimar 
und Jena... » Wehren mufiten sie sich gegen all diese Angrif- 
fe, und es ist ein schones Denkmal ihrer Freundschaft, was 
sie in den «Xenien» im Jahre 1796 gaben. Bei diesen Disti- 
chen, in denen sie an all denen, die sich an ihnen und dem 
guten Geschmack vergingen, ein weltgeschichtliches Straf- 
gericht vollzogen, ist nicht immer zu unterscheiden, wel- 
che von Goethe und welche von Schiller herruhren. Ihre 



Freundschaft sollte sie als eine Person erscheinen lassen. An 
dem Beispiel Schillers und Goethes konnen wir wahrneh- 
men, wie Grofte sich des Alltags zu erwehren weift, und 
wie Freundschaft, die im Geistigen ruht, sich wahrhaft 
tragt und erhebt. 

Und Wahrheit suchten sie beide: Schiller zunachst im 
Herzen des Menschen, Goethe in der ganzen Natur. 



Vierter Vortrag, 11. Februar 1905 

Schillers Weltanschauung und sein Wallenstein 

Von Schillers Weltanschauung kann man mcht in dem Sin- 
ne sprechen wie von der philosophischen Weltanschauung 
anderer Menschen, denn sie ist in einem fortwahrenden 
Flusse, in stetigem Aufsteigen. Kleine menschliche Person- 
lichkeiten haben es leicht, zu einer Weltanschauung zu 
kommen. Grofiere konnen sehr schwer sich durchringen. 
Dies kommt daher, weil eine kleine Personlichkeit nicht 
imstande ist, die grofien Ratsel zu durchschauen. Fur den 
Grofteren stellt sich mit jeder Lebenserfahrung ein neues 
Ratsel ein; es modifiziert auf einer neuen Grundlage die 
Anschauung, die neu gestaltet werden mufi. Diese Sache 
hat Goethe bis zu seinem Lebensende durchgemacht und 
auch Schiller ging es so. Gerade Schiller hat es ausgespro- 
chen, dafi er im Grunde nur einen kleinen Umkreis des 
eigenen Werdens kannte, aber sein Geist arbeitete fort- 
wahrend an einer Vertiefung, einer Harmonisierung dieses 
seines Begriffs- und Lebenserfahrungsvorrats. Geradezu 
charakteristisch ist, wie Schiller Gesprache fiihrte. Darin 



war er ein Gegenpol von Herder, und ein gewisses Licht 
fallt auf Schiller durch diese Gegeniiberstellung. 

Wenn Herder in Gesellschaft von Leuten war, die sich 
dafur interessierten, entwickelte er seine Anschauungen; 
selten wurde ein Einwand gemacht; er stand so fest, so klar, 
dafi er im dialektischen Gesprach nicht hatte eine Frage 
weiter bringen wollen. Ganz anders war es bei Schiller; bei 
ihm wurde jedes Gesprach lebendig: er nahm jeden Ein- 
wand auf, jedes Thema wurde angeschlagen, und dadurch 
brachte er das Gesprach auf alle moglichen Seitenpfade, al- 
les wurde von alien Seiten beleuchtet. Im Gesprach driickt 
sich am schonsten aus - in dem Leben, welches Schiller im 
personlichen Verkehr umflofi - , wie seine Anschauungen 
im ewigen Flusse waren. Wir haben hier dasselbe Streben 
nach Wahrheit, das Lessing in den Worten zum Ausdruck 
brachte: «Wenn Gott vor mir stiinde, in der einen Hand die 
voile Wahrheit, in der andern das Streben nach der Wahr- 
heit, so wiirde ich ihn bitten: Herr, gib mir das Streben 
nach der Wahrheit, denn die voile Wahrheit ist wohl nur 
fur Gott allein da.» 

So sehen wir, wie Schiller durch alle Perioden seines Le- 
bens hindurch in einem fortwahrenden Streben nach hohe- 
rer Weltanschauung begriffen ist; wie er, als er zur Profes- 
sur nach Jena ging, genotigt war, seine Ideen lebendig zu 
machen; wie er rang, die grofien Krafte, die in der Welt 
wirkend sind, zu erfassen und in lebendigem Vortrage 
fruchtbar zu machen. 

Die geschichtsphilosophischen kleineren Aufsatze zeigen 
uns, wie er mit diesen Ideen rang. Aufier dem schon er- 
wahnten Vortrag: «Was heifit und zu welchem Ende stu- 
diert man Universalgeschichte?» - versuchte er die Bedeu- 
tung eines solchen Gesetzgebers wie Moses zu charakteri- 
sieren. Dann behandelt er die Zeit der Kreuzziige; und es 



gibt vielleicht nichts Schoneres und Interessanteres als die 
Art, in der Schiller die Besitz- und Lehnsverhaltnisse des 
Mittelalters schildert. Die grofien Freiheitskampfe der Nie- 
derlande werden so erfalk, dafi man daran lernen kann, wie 
die Geschichtsentwickelung innerlich vor sich geht. Dann 
die Geschichte des Dreifiigjahrigen Kriegs, in der ihn schon 
vor allem die Figur des Wallenstein fesselt, die ihm den 
Menschen mit dem Gesetz des Willens in sich selbst zeigt, 
fest in seiner Person, aber mit kleinlicher Ehrsucht behaf- 
tet, schwankend in seinen Zielen, und, voll von unklaren 
Begriffen, iiber Sterndeutung griibelnd. Spater versucht er 
dichterisch diese Figur zu entratseln. Doch vorher sucht 
Schiller sich noch zu klaren durch philosophische Studien 
in Kants Werken. Nicht unvorbereitet trat Schiller auch als 
Philosoph an den Kantianismus heran. Es war damals et- 
was in ihm, das nur durch die Anlehnung an Kant heraus- 
kommen konnte, 

Man mufi diesen Punkt in Schillers Wesen tief fassen, um 
seine grofie Personlichkeit recht verstehen zu konnen. Es 
gibt eine Reihe von Briefen, «Philosophische Briefe» zwi- 
schen Julius und Rafael: die Philosophic, die er da entwik- 
kelt, ist etwas, was ihm eingeboren ist. Das Weltbild, das er 
sich gebildet hat aus seiner tiefen Personlichkeit heraus, 
stellt der dar, welcher Julius heilk, wahrend wir uns in Ra- 
fael einen Mann charakterisiert denken miissen, wie seinen 
Freund Korner, der zu einer gewissen Abgeschlossenheit 
gekommen ist, wenn auch nicht in so tiefer Weise. Denn 
im Leben erscheint der Geringere oft als der Klugere, Uber- 
geordnete, gegemiber dem Hoherstrebenden, Ringenden. 
Der Ringende, der aber hier noch in Disharmonien unbe- 
friedigt lebt, entwirft in der «Theosophie des Julius» sein 
Weltbild etwa in folgender Weise: «Alles in der Welt ent- 
stammt einem geistigen Urgrunde. Auch der Mensch ist zu- 



nachst hervorgegangen aus diesem Urgrund; er ist ein Zu- 
sammenflufi aller Krafte der Welt. Er wirkt wie ein Aus- 
zug, wie eine Vereinigung alles dessen, was in der Natur 
ausgebreitet ist. Alles Dasein aufier ihm ist nur Hierogly- 
phe einer Kraft, die ihm ahnlich ist. Im Bilde des Schmet- 
terlings, der sich aus der Raupe neu verjiingt in die Luft er- 
hebt, haben wir ein Bild der menschlichen Unsterblichkeit. 
Nur, wenn wir uns erheben konnten zu dem Ideal, das uns 
eingepflanzt ist, konnten wir zur Befriedigung gelangen.» 
Er nennt dieses Weltbild «Theosophie des Julius». Die Welt 
ist ein Gedanke Gottes; alles lebt nur in der unendlichen 
Liebe Gottes; alles in mir und aufter mir ist nur eine Hiero- 
glyphe des hochsten Wesens. Wie Goethe in seinem Prosa- 
hymnus an die Natur es ausgedriickt hatte, dafi der Mensch 
ungefragt und ungewarnt in den Kreislauf des Lebens 
durch die Natur gestellt sei, dafi sie selbst in ihm rede und 
handle, so kommt Schiller in gewisser Weise in dieser 
Theosophie des Julius zu einem ahnlichen Standpunkt. 
Aber er fiihlt sich zunachst unbefriedigt: nur ein Gott 
konnte von einem solchen Standpunkt aus die Welt be- 
trachten, meint er, Kann denn wirklich die Menschenseele, 
die so klein und beschrankt ist, mit einem solchen Bilde 
der Welt leben? 

Aus dem Kantianismus hat Schiller nun zunachst ein 
neues Weltbild gewonnen, das bis zur Mitte der neunziger 
Jahre vorhalt. Das Weltratsel ist ihm zum Menschenratsel 
geworden; das Problem der Freiheit ist es zunachst, das 
ihn beschaftigt. Die Frage tritt vor seinen Geist: Wie kann 
der Mensch seine Vollkommenheit erlangen? 

Am reinsten und schonsten tritt uns hier Schillers Welt- 
anschauung in den «Asthetischen Briefen» entgegen: Auf 
der einen Seite ist der Mensch seiner niederen Natur, seinen 
Trieben unterworfen; die Natur ist hier Notwendigkeit in 



den Sinnendingen, die auf ihn einsturmen. Auf der anderen 
Seite liegt im Denken des Menschen die geistige Notwen- 
digkeit; da ist die Logik, der er sich unterwerfen mufi. Er ist 
Sklave der Naturnotwendigkeit und zugleich Sklave der 
Vernunftnotwendigkeit. Kant antwortet auf diesen Wider- 
spruch mit einer Herabdriickung der Naturnotwendigkeit 
gegeniiber der geistigen Notwendigkeit. Schiller erfaftte in 
ganzer Tiefe die Kluft zwischen Natur- und Vernunftnot- 
wendigkeit. Er sah hier ein Problem, das iiber alle mensch- 
lichen Verhaltnisse sich ausbreitet. Die Gesetze, die die 
Menschen regieren, sind teils hergenommen aus der Natur- 
notwendigkeit, aus den dynamischen Kraften, die in den 
Menschen wirken; teils aus der moralischen Ordnung, 
die sie in sich tragen. Disharmonie, Unterdriickung muB 
daraus folgen. So haben wir den dynamischen Staat und 
den moralischen Staat; beide wirken als eine eiserne Not- 
wendigkeit. 

Derjenige Mensch nur kann sich frei nennen, der sich die 
ehernen Gesetze der Vernunft und Logik so zu eigen ge- 
macht hat, daft er ihnen ohne Zwang folgt, der so weit sein 
sittliches Gefuhl gelautert hat, daft er gar nicht anders 
kann, als das Reine wollen, weil seine Neigungen sich hin- 
auforganisiert haben zum geistigen Leben. Der Mensch, der 
die Vernunftgesetze heruntergeholt hat in die Triebe und 
Neigungen der Seele, und die menschlichen Leidenschaften 
heraufgeholt zur Erkenntnis der moralischen Ordnung, 
der wird die dynamischen Gesetze so beherrschen, daft 
Harmonie entsteht zwischen seinen Trieben und der Ver- 
nunft. Schiller nennt die Stimmung, in der der Mensch sich 
befindet, der seine Triebe so gereinigt hat, die asthetische 
Stimmung, und den Staat, in dem solche Menschen wirken, 
die asthetische Gesellschaft. Der Mensch mufi verwirk- 
lichen, was ihm als seine hochste Wiirde erscheint. 



In der Theosophie des Julius hatte Schiller ein ideales 
Weltbild aufgestellt. Eine Erziehung zu dem Ideal ist es, 
was Schiller vom Menschen und von der menschlichen Ge- 
sellschaft verlangt. Entwickelung ist es, was Schiller den 
Menschen vorhalt. 

Das driickt sich aus in dem Gedichte: «Der Spaziergang». 
Nicht als etwas Erreichtes erscheint ihm die Harmonie der 
Welt, sondern als ein Entwickelungsziel. Schon erscheint 
ihm die ewige Harmonie der Natur, aber als etwas, was 
auch der Mensch in sich erstreben sollte. Es mufi das Ideal 
des Menschen werden, dafi ein Zustand herbeigefuhrt wer- 
de, wo die Menschen in solcher Harmonie dahinleben, wie 
sie in der Natur vorbildlich sich uns zeigt. Was Schiller frii- 
her angestrebt hatte als Inhalt der Erkenntnis, wurde ihm 
jetzt sittlich-asthetisches Ideal. Jetzt, unter dem Einflufi 
Goethes, wurde er wieder zum Dichter: so glaubte er am 
besten zeigen zu konnen, wie der Geist des Menschen in 
Entwickelung begriffen ist, wie die verschiedenen Krafte in 
ihm zusammenwirken, wie er von den Tiefen zu den 
Hohen strebt. 

In einer ganz bedeutsamen Weise hat er im «Wallenstein» 
sein ureigenes Problem dichterisch hingestellt. Schwer ist 
es ihm geworden, die Menschennatur darzustellen, schwe- 
rer wie kleineren Naturen. Nicht aus abstrakten Ideen her- 
aus hat Schiller seine Gestalten geschaffen und dann erst 
gleichsam zu seinem Gedankenskelett das Fleisch gesucht, 
wie man vielfach behauptet hat. So war es nicht bei seinen 
Gestalten, so war es vor allem nicht beim «Wallenstein». 
Schiller ging aus von einer innerlich musikalischen Stim- 
mung, wie er es nannte, nicht von Ideen. Gleichsam in Me- 
lodien ergoft sich in sein Inneres der Strom der im Men- 
schen verwickelten Krafte, die sich losten in Harmonie 
oder untergingen in Disharmonie. Dann suchte er die Ge- 



danken, die Charaktere, die einzelnen Stimmungen. So 
standen ihm vor Augen die kontrastierenden Seelenkrafte 
Wallensteins, die diesen mit Notwendigkeit zu einer gro- 
fien Katastrophe fuhren. - Man kann leider diese Stim- 
mung nicht anders als mit gedanklichen Mitteln wiederge- 
ben. - Es gibt eine auf sich selbst gebaute Personlichkeit, 
die tragisch zugrunde geht. Tragisch in wahrem Sinne aber 
wirkt sie nur, wenn sie an sich selbst scheitert. Was Hebbel 
als notwendige Voraussetzung des Tragischen fordert, «dafi 
es so hat kommen mussen», daft nichts tragisch sein konne, 
was auch in anderer Weise hatte getan werden konnen; 
wie intuit iv ist diese Ansicht von Schiller erfafit worden, 
obgleich er sie nocht nicht ausspricht! 

Aber Schiller steht unter dem Einflusse noch einer an- 
dern tragischen Idee, die sich nicht auflosen lalk, die vor al- 
lem in der Person des Wallenstein selbst zum Ausdruck 
kommt. Es ist das Bewufitsein, dafi in das Menschenleben 
etwas Hoheres hineinspielt, das in diesem Rahmen nicht zu 
losen ist. Erst am Ende der Welt, wenn die Menschen zur 
Vollkommenheit gelangt sein werden, wird der Blick des 
Menschen so sein Schicksal uberschauen konnen. Bis dahin 
werden immer Irrtumer sein mussen, etwas Unlosbares, 
fur das Wallenstein in den Sternen eine Losung sucht, das 
etwas Imponderables im eigenen Herzen ist. Fest vorherbe- 
stimmt glaubt Wallenstein in den Sternen sein Geschick zu 
lesen und mufi nun sehen, wie Octavio ihn, entgegen dem 
Sternenorakel, betriigt. Doch die Freiheit des Menschen 
bleibt das Hochste; eine innere Notwendigkeit lalk ihn in 
den Sternen die Losung suchen: er steht vor einem neuen 
Ratsel, die Sterne haben ihm gelogen. Doch nein, die Sterne 
konnen nicht liigen: Der Mensch, der gegen die heiligsten 
Gesetze des Gefiihls und Herzens verstofk, er bringt die 
Harmonie der Sterne in Unordnung. Es kann keine Ord- 



nung in der Natur geben, die den Gesetzen des menschli- 
chen Geistes widerspricht. Wer in dieser Weise den Cha- 
rakter Wallensteins betrachtet, wird Schillers eigene Person 
in tiefer Bedeutung durch die Person Wallensteins hin- 
durchblicken sehen. 

Ins Auge schauen wollte Schiller dem Widerspruch der 
Welt und zeigen, wie man mit diesem Widerspruch lebt. Es 
mufi eine Wahrheit in der Welt sein, sagt er sich, und diese 
hat er gesucht, wie er es schon in dem Briefe des Julius tut. 
Der Widerspruch liegt in den einzelnen Erscheinungen. 
Schiller kommt hier zu der Erkenntnis dessen, was die 
alten Inder und andere Weise als Illusion erkannten. In 
der Wahrheit wollte er leben, und er betrachtete die Kunst 
als ein Tor, durch welches der Mensch wandeln mufi, um 
ins Morgenrot der Schonheit und Freiheit zu gelangen. In 
dem Gedichte «Die Kiinstler» fordert er es geradezu von 
den Kunstlern, sich hinzustellen auf den Weltenplan und 
mitzuschaffen an der Verwirklichung des Ideals. So ruft 
er ihnen zu: «Der Menschheit Wiirde ist in eure Hand 
gegeben. Bewahret sie!» 



Funfter Vortrag, 18. Februar 1905 

Schiller, das griechische Drama und Nietzsche 

Es ist die Zeit, in der Schiller den «Wallenstein» geschrie- 
ben hat, fur ihn eine Zeit des Ubergangs, eine Zeit der Lau- 
terung gewesen, in der er versuchte aufzusteigen aus seiner 
fruheren Weltanschauung zu der Erfassung dessen, was er 
das rein Kunstlerische nannte. Wir haben gesehen, wie 
Schiller versuchte, im Schonen, Kiinstlerischen etwas zu se- 



hen, was die menschlichen Seelenkrafte zu erheben, in Har- 
monie zu bringen vermag, so daft es das kiinstlerische 
Schaffen ist, was dem Menschen die Freiheit gibt. So war 
ihm, wie er an Goethe gelegentiich des «Wilhelm Meister» 
schrieb, der Kiinstler einzig der ganz wahre Mensch, und 
der Philosoph nur eine Karikatur neben ihm. Es war dies 
eine radikale Wendung, die wiedergab, was Schiller damals 
empfunden hatte. 

In «Fiesco», in «Kabale und Liebe», in «Don Carlos» sind 
die Figuren so aufzufassen, daft ihm einige sympathisch, an- 
dere antipathisch sind. Diese moralische Beurteilung, diese 
moralische Wertung wollte er ablegen auf der Hohe seiner 
Kiinstlerschaft. Jetzt wollte er den Verbrecher mit dersel- 
ben Liebe und Sorgfalt wie den Helden behandeln; nicht 
mehr sollte das Kunstwerk ankniipfen an etwas, was er 
selber als Sympathie oder Antipathie empfand. 

Als man gegen den «Wilhelm Meister» den Vorwurf er- 
hob, daft mehr ere Figuren gegen das moralische Gefuhl 
verstieften, schrieb er an Goethe etwa: «K6nnte (man) 
Ihnen zeigen, daft das nicht Moralische aus Ihnen und nicht 
aus den Figuren stammt, so konnte man Ihnen einen Vor- 
wurf machen.» Ihm ist der Wilhelm Meister eine Schule der 
Asthetik. 

Schiller, der die menschliche Personlichkeit in ihrer 
Autonomic geschaut hatte, versucht sich aufzuschwingen 
zur Sonnenhohe echten Kiinstlertums. Daher ergibt sich 
eine neue Art des Anteils des Kiinstlers an seinen Schopfun- 
gen. Wir sehen sie schon im «Wallenstein». Nicht mehr 
sollte er personlichen Anteil haben, nicht mehr wollte er 
moralisch urteilen und werten, sondern nur als Kiinstler. 

Es erinnert diese Auffassung an ein Gesprach Schillers 
mit Goethe, in dem sie Betrachtungen liber Architektur an- 
gestellt haben. In diesem hat Goethe ein tief bedeutendes 



Wort gesprochen, das zunachst etwas paradox klingen 
konnte. Goethe hat verlangt von einem schonen Gebaude, 
dafi es nicht nur auf das Auge, sondern auch auf den, der 
mit verbundenen Augen hindurchgefiihrt wiirde, einen 
harmonischen Eindruck mache. Wenn alles Sinnliche aus- 
geloscht ist, kann ein Hineinversetzen mit dem Geiste 
moglich sein. 

Nicht Zweckmafiigkeit: Idealitat des Geistes war, was 
hier gefordert wurde. Paradox erscheint diese Forderung 
auf den ersten Augenblick: sie war herausgeschaffen aus der 
hohen Kunstanschauung Goethes und Schillers. Es bildete 
sich um sie ein Kreis von Kiinstlern, die ahnlich urteilten. 
So Wilhelm von Humboldu ein feiner Kenner der Kunst, 
dessen asthetische Abhandhingen bedeutsam sind fiir das 
geistige Milieu. Schiller wurde dadurch gefuhrt zu einer 
Kollision mit seinen frixheren kiinstlerischen Anschauun- 
gen und mit dem Kantianismus, der im Grunde das Uber- 
sinnliche nur dort gelten lassen wollte, wo Moralisches in 
Frage kommt. So aber kann kein Kunstler sehen; beim Zu- 
ruckkehren zum Kiinstlerischen geniigt Schillern Kant 
nicht mehr. Schillers Auffassung des tragischen Konflikts 
war diejenige, die spater Hebbel formulierte, indem er sag- 
te, nur das sei tragisch, was unabanderlich sei. So empfand 
Schiller; so hatte er es im «Wallenstein» auszufuhren ver- 
sucht, so wollte er das Tragische darstellen. In Shakespeares 
«Richard sah er das Schicksal mit solcher Unabander- 
lichkeit hereinbrechen. Doch schon hatte er eine Vorliebe 
fiir das griechische Drama gefafk. Im Shakespeare-Dra- 
ma steht die Person des Helden im Mittelpunkt; aus dem 
Charakter des Helden ergibt sich die Notwendigkeit der 
Entwickelung. 

Ganz anders ist es im griechischen Drama. Dort ist alles 
schon vorherbestimmt, alles fertig. Der Mensch wird hin- 



eingestellt in eine hohere geistige Ordnung, aber zugleich, 
weil er ein Sinnenwesen ist, wird er von ihr zermalmt. 
Nicht der Charakter, die Personlichkeit, sondern das iiber- 
menschliche Schicksal ist das Bestimmende. So sind die 
Erinnyen der griechischen Tragodie urspriinglich nicht Ra- 
chegottinnen, sondern bedeuten eigentlich das Dammern- 
de, das, was sich nicht ganz auflosen lafit, was hineindam- 
mert in des Menschen Schicksal. Bei der Ruckkehr zur 
Kiinstlerschaft kam Schiller zu dieser Auffassung des Tragi- 
schen. Wer das Tragische in solcher Weise empfinden will, 
mufi das Personliche eliminieren, herauslosen aus dem nur 
Menschlichen. Erst so wird man den « Wallenstein* recht 
verstehen. Hinausgewachsen iiber die Personlichkeit, 
schwebt etwas Uberpersonliches iiber Wallenstein. Daft 
der Mensch einer hoheren Ordnung, einer hoheren geisti- 
gen Welt angehort, das ist fur Schiller die Bedeutung der 
Sterne, die des Menschen Schicksal lenken. Dort in den 
Sternen soil Wallenstein sein Schicksal lesen. 

Auf diese Uberpersonlichkeit deutet Carlyle hin, wenn er 
in Wallensteins Lager in dem Charakter der einzelnen Per- 
sonlichkeiten einen Parallelismus findet, der iiber sie hin- 
aus zu den Personlichkeiten der Fiihrer hinspielt: so weist 
der irische Dragoner, der dem Spiel des Kriegsgliicks ver- 
traut, auf seinen Chef Buttler; der erste Kurassier, der die 
edlere Seite des Kriegslebens darstellt, auf Max Piccolomi- 
ni; der Trompeter in seiner unbedingten Ergebenheit auf 
Terczky; wahrend der Wachtmeister, der die Ausspriiche 
seines Feldherrn pedantisch zitiert, als eine Karikatur des 
Wallenstein erscheint. 

So sehen wir hier eine grofie Gesetzmafiigkeit, die iiber 
das bloft Personliche hinausgeht. Die ganze Komposition 
des Gedichtes beweist den Standpunkt, den Schiller er- 
klommen zu haben glaubte. Wir haben erstens das Lager, 



wo Wallenstein gar nicht auftritt, zweitens die Piccolomi- 
ni, wo Wallenstein eigentlich gar nicht eingreift, er erfahrt, 
was geschehen ist, durch Max Piccolomini, und von seiner 
Frau hort er, was am Wiener Hofe vor sich geht. Er lafit es 
geschehen, dafi seine Generale sich verbinden, das beriihm- 
te Dokument unterzeichnen. Um ihm herum spielt die 
Handhing sich ab. So wird auch der Gedanke des Verrats 
nur spielend von ihm gefafit, der sich dann seiner Seele be- 
machtigt. Drittens Wallensteins Tod. Jetzt ist Wallenstein 
in die Ereignisse gedrangt durch die eigenen Gedanken, die 
ein objektives Leben angenommen haben, hineingedrangt 
in ein iiberpersonliches Schicksal. Eine monumentale Spra- 
che kennzeichnet diese Situation. Hineingestellt ist er in 
eine eherne Notwendigkeit; das Personliche, das mit den 
grofien Linien nichts Besonderes zu tun hat, ist in den 
Winkel gedrangt. Wohl findet es auch erschiitternde Tone, 
wie in dem Gesprach mit Max Piccolomini. 

Wallenstein (hat den Blick schweigend auf ihn geheftet und nahert sich 
ihm jetzt): 

Max, bleibe bei mir. - Geh nicht von mir, Max! 

Sieh, als man dich im Prag'schen Winterlager 

Ins Zelt mir brachte, einen zarten Knaben, 

Des deutschen Winters ungewohnt, die Hand 

War dir erstarrt an der gewichtigen Fahne, 

Du wolltest mannlich sie nicht lassen, damals nahm ich 

Dich auf, bedeckte dich mit meinem Mantel, 

Ich selbst war deine Warterin, nicht schamt' ich 

Der kleinen Dienste mich, ich pflegte deiner 

Mit weiblich sorgender Geschaftigkeit, 

Bis du, von mir erwarmt, an meinem Herzen 

Das junge Leben wieder freudig fuhltest. 

Wann hab* ich seitdem meinen Sinn verandert? 



Ich habe viele Tausend reich gemacht, 

Mit Landereien sie beschenkt, belohnt 

Mit Ehrenstellen - dich nab' ich geliebt, 

Mein Herz, mich selber nab' ich dir gegeben. 

Sie alle waren Fremdlinge, du warst 

Das Kind des Hauses - Max, du kannst mich nicht 

verlassen! 

Es kann nicht sein, ich mag's und will's nicht glauben, 
Dafi mich der Max verlassen kann. 

Aber es greift nicht eigentlich in die Handlung ein. Das 
grofie Tragische und das Personliche auseinanderzuhalten, 
wie hier geschieht, darzustellen, wie Wallenstein gar nicht 
anders kann als zur Tat zu schreiten, nachdem er die Ge- 
danken hat frei urn sich her spielen lassen, das ist das Grofie 
in diesem Drama Schillers. Wie aus der Freiheit eine Art 
Sonne der Notwendigkeit wird, zeigt er uns hier. In dieser 
ganzen Gedankenrichtung liegen Gegenwartsbegriffe, die 
nur angefacht zu werden brauchen, um fruchtbar zu 
werden. 

In derselben Art ist auch das nachste Drama «Maria 
Stuart» gedacht. Es ist im Grande anfangs schon alles ge- 
schehen, und nichts vollzieht sich als nur das, was langst 
vorbereitet ist. Nur der Charakter, das innere Leben ent- 
rollt sich vor uns, und dies innere Leben wirkt wieder als 
Notwendigkeit. 

In den spateren Dramen hat Schiller versucht, das Schick- 
salsmafiige immer mehr auszugestalten. So wird in der 
«Jungfrau von Orleans» etwas Uberpersonliches zum Aus- 
druck gebracht, in den Visionen, wo ihr Damonisches ent- 
gegentritt, das sie zu ihrer Sendung beruft und sich ihr ent- 
gegenstellt, als sie dem Gebot untreu geworden ist, bis sie 
es durch Bufie versohnt. 



In der «Braut von Messina» versucht er geradezu der 
griechischen Tragodie wieder Eingang ins moderne Leben 
zu verschaffen. Er driickt hier das Uberpersonliche durch 
Einfiihrung des Chores aus. Was wollte Schiller mit dem 
Chor? Er blickte zuriick auf den Ursprung der Tragodie, 
die entstanden ist aus der Religion. In dem Urdrama wurde 
gezeigt, wie Dionysos, der leidende Gott, in der Mensch- 
heit wieder erlost wird. - Spatere Forschungen haben zu 
dieser Wahrheit gefiihrt. - Als das griechische Mysterien- 
drama verweltlicht wurde, entstanden die ersten Anfange 
der dramatischen Kunst. So tritt uns bei Aschylos noch ein 
Anklang an das entgegen, aus dem die Kunst hervorgegan- 
gen war, an die Mysterienkulte, in denen das Weltendrama 
der Weltenerlosung dargestellt wurde. Edouard Schure hat 
diese Eleusinischen Mysterien in seinen «Sanctuaires 
d'Orient» dargestellt, eine erste Art religios-kunstlerischer 
Losung des Weltenratsels. Die weltumspannenden Hand- 
lungen dieses Urdramas finden in der Sprache nicht das ge- 
eignete Instrument; diese ist der Ausdruck der personlichen 
Beziehungen. Als das Drama zum Wort uberging, behan- 
delte es die mehr personlichen Beziehungen, so bei So- 
phokles, bei Euripides. Vom Typischen war man zur Dar- 
stellung des Personlichen gekommen. Das alte Drama ver- 
wendete daher eine uberpersonliche Sprache, etwas was der 
Musik angeahnelt war. Sie ging von dem Chor aus, der die 
mimisch dargestellte Handlung begleitete. So hat sich aus 
dem musikalischen Drama das spatere Wortdrama entwik- 
kelt. Friedrich Nietzsche hat diesen Gedanken weiter ausge- 
fuhrt in seiner Schrift «Die Geburt der Tragodie aus dem 
Geiste der Musik». Ihm ist das Wortdrama eine Art von 
Dekadenzwerk. Daher seine Verehrung fiir Wagner, der 
eine neue religiose Kunst schaffen wollte, herausgeboren 
aus der mythischen Welt. Richard Wagner begeisterte sich 



nicht fur das Personliche, sondern fiir das Uberpersonliche. 
Er nimmt daher zur Grundlage seiner Dramen nicht histo- 
rische, sondern mythische Handlungen, und da, wo es gilt 
Uberpersonliches darzustellen, verwendet er nicht die ge- 
wohnliche Sprache, sondern die musikalisch gehobene. 

Schiller hat das, was man spater erforschte, vorausge- 
fiihlt, und in diesem Sinne die griechische Tragodie entwik- 
kelt. Er wollte ein lyrisches Element einfuhren, um, wie er 
es in der Vorrede erwahnt, durch die Stimmung die Kunst 
auf eine besondere Hohe zu heben. So ist, was in dem Wag- 
ner- und Nietzschekreis sich in radikaler Form abgespielt 
hat, schon bei Schiller vorhanden; nur wird es dort nicht in 
so abgeklarter Weise behandelt, wie es von ihm geschieht. 

Es lebt schon in Schiller der grofte Gedanke, die Mensch- 
heit wieder zu dem Quell zu fuhren, dem das Geistige ent- 
sprungen ist, die Kunst zuriickzufuhren auf den heimi- 
schen Urgrund, aus dem die Religion, Kunst und Wissen- 
schaft hervorgegangen sind. Es konnte ihm die Schonheit 
das Morgenrot der Wahrhek sein. Auch heute noch wer- 
den wir in Schiller finden, was uns hinweist auf das Beste, 
was wir fur die Gegenwart und Zukunft erhoffen. So kann 
Schiller heute als ein Prophet einer besseren Zukunft uns 
vorangehen. 

Sechster Vortrag, 25. Februar 1905 

Schillers spdtere Dramen 

Wir haben gesehen, wie Schiller bei jedem seiner spateren 
Dramen immer von neuem versucht hat, das Problem des 
Dramatischen zu losen. Es hat etwas Erhebendes, zu sehen, 
wie Schiller nach jedem neuen groften Erfolge - und es 



waren aufierordentliche Erfolge, Anerkennungen der Be- 
sten seiner Zeit, wenn es auch an Anfeindungen nicht fehl- 
te -, es hat etwas besonders Erhebendes, zu sehen, sagte 
ich, wie er versucht, mit jedem neuen Drama eine hohere 
Etappe zu erklimmen. 

Alle seine spateren Dramen, «Tell», die «Braut von Mes- 
sina», die «Jungfrau von Orleans*, «Demetrius», sie sind 
lauter Versuche, dem Problem des Dramatischen und Tra- 
gischen in einer neuen Form beizukommen. Niemals hatte 
er sich zufrieden gegeben in dem Glauben, die Psychologie 
ausgeschopft zu haben. In der «Maria Stuart» haben wir ihn 
das Problem des Schicksals behandeln sehen, eine vollende- 
te Situation schaffend, in der nur die Charaktere sich abrol- 
len. Noch tiefer stieg er in der «Jungfrau von Orleans» hin- 
unter in die Menschenseele. Er wufke einen tiefen Griff zu 
tun in die Menschheitspsychologie, das Problem in der Art 
begriindend, wie Hebbel es dargestellt hat, als er sagte, dafi 
das Tragische auf etwas sich beziehen mufi, das in einer ge- 
wissen Weise irrationell ist. So haben wir in der «Jungfrau» 
das Hineinspielen von dunklen Seelenkraften: sie ist eine 
Art von Somnambule, steht unter dem Einflusse dessen, 
was man damonisch nennen kann, wird dadurch weiterge- 
tragen. Hoch iiber dem Menschlichen soil sie stehen, nur 
dadurch, dafi sie Jungfrau ist, hat sie das Recht, wie ein 
Wiirgeengel durch die Reihen der Feinde zu gehen, im 
Dienste des Vaterlandes. In der «Braut von Messina» ver- 
sucht Schiller das Drama hoher zu fassen dadurch, dafi er 
einen Griff in das Urdrama tut. Auf jenes Urdrama griff er 
zuriick, das noch dem Aschylos voranging, das nicht nur 
Kunst war, sondern ein integrierender Bestandteil der die 
Religion, die Wissenschaft und die Kunst umfassenden 
Wahrheit: auf jenes Dionysosdrama, das den leidenden, 
sterbenden, auferstehenden Gott auf die Biihne brachte, als 



Reprasentanten der ganzen Menschheit. Die Handlung 
trug da nicht den Charakter dessen, was man heute Dich- 
tung nennt. Das Weltendrama sollte vorgefiihrt werden, 
die Wahrheit in schoner, kiinstlerischer Form. Erhebung, 
religiose Erbauung sollte es dem Menschen bringen. So ent- 
hielt fur den Zuschauer das Mysteriendrama zugleich, was 
spater sich getrennt als Religion, Kunst und Philosophie 
entwickelte. 

Dieser Gedankengang, den Friedrich Nietzsche in seiner 
Schrift «Die Geburt der Tragodie aus dem Geiste der Mu- 
sik» entwickelt, in der er das Urdrama als das hohere hin- 
stellt, diese Grundidee lebte schon in Schiller. Schillers 
Idee, das Schone dadurch in hohere Spharen zu heben, daft 
er das musikalische Element wieder einfuhrte, wurde von 
Wagner in groftem Stil wieder aufgenommen und fand in 
dem Musikdrama monumentalen Ausdruck. Wagner griff 
zum Mythos und w'ahlte die Musik, um nicht in der tagli- 
chen, sondern in gehobener Sprache das Bedeutende auszu- 
drucken. Die Richtung, welche die Kunst im Wagnerkreis 
genommen hat, wurde von Schiller intendiert. In seiner 
kurzen Einleitung zur «Braut von Messina» findet er dafiir 
einen so plastischen wie pragnanten Ausdruck. Freiheit des 
Gemiits in dem lebendigen Spiel aller seiner Krafte soil die 
rechte Kunst verschaffen. Daraus erkennen wir, was in 
Schiller lebte. Wir haben gesehen, wie Schillers Geist sich 
an Goethe hinaufrankte. Er selbst nannte Goethes Geist 
den intuitiven, seinen eigenen den symbolisierenden. Es ist 
dies ein bedeutsamer Ausspruch. 

Schiller dachte im Grunde genommen die Menschen im- 
mer als Reprasentanten der Gattung, er dachte sie in einer 
Art Symphonic Wir sehen bei ihm das Drama aus einer 
musikalischen Stimmung herauswachsen: daraus ergibt sich 
diese Symphonie von Menschencharakteren, von handeln- 



den und leidenden Charakteren. Das bewirkte, dafi er notig 
hatte, die einzelnen Ztige zu Symbolen grower Menschener- 
fahrung zu machen. Dadurch ist Schiller der Dichter des 
Idealismus geworden: er hat durch die Erfahrung die Ideale 
heruntergeholt, um sie im Charakter zu gestalten. Im Mit- 
telpunkt stand ihm das Problem des menschlichen Ich, die 
Frage: wie wirkt der Mensch innerhalb seiner Umgebung? 

In der «Braut von Messina» hat er in einer neuen Form 
die griechische Schicksalstragodie geben wollen. Es mufi et- 
was in der Menschenseele sein, welches bewirkt, dafi der 
Mensch nicht in verstandesmafiiger Art seine Entschlusse 
ausfuhrt - er wiirde sonst kliiger handeln - , etwas Dunk- 
les mufi in ihm leben, was dem Damon des Sokrates ahn- 
lich ist. Das mufi aus der geistigen Welt in ihn hineinwir- 
ken. Dieses mit dem Verstande nicht zu Erfassende lafit 
Schiller in die Tragodie hineinspielen. In der Art, wie er das 
tut, zeigt sich Schiller als ganz moderner Charakter. Von 
zwei Traumen geht bei ihm die Handlung aus: Der Fiirst 
von Messina traumt von einer Flamme, die zwei Lorbeer- 
baume verzehrt, Dieser Traum wird ihm von einem arabi- 
schen Sterndeuter dahin ausgelegt, dafi die Tochter, die ihm 
geboren ist, seinen Sohnen Unheil bringen wiirde, und er 
gibt Befehl, sie zu toten. Zugleich aber hat die Fiirstin ge- 
traumt von einem Kinde, dem Adler und Lowe sich fried- 
lich anschmiegen. Auch ihr wird der Traum gedeutet: ein 
christlicher Monch verheifit ihr, dafi die Tochter die beiden 
streitenden Briider in Liebe zu sich vereinen werde. Da 
rettet sie das Kind. 

So ist das Dunkle, Unbestimmte, in den Ausgangspunkt 
der Handlung hineingelegt. Sehr fein erscheint, dafi der er- 
ste Traum von einem Araber, der zweite von einem Chri- 
sten gedeutet wird; Schiller aber entscheidet sich fur kei- 
nen. Hebt man alles, was mystisch, traumhaft ist, hinweg, 



so bleibt nur der Kampf der Briider, und diese rationelle 
Handlung bleibt noch immer dramatisch. Das Geistvolle 
und ganz besonders Kiinstlerische ist, dafi jedes Element et- 
was Ganzes ist; auch ohne das Mystische ist die Handlung 
eine ganze. Es ist von Schiller in dieser Richtung mit Fein- 
heit und Kunst etwas in dieses Drama gelegt, das iiber das 
menschliche Bewufksein hinausgeht. So war er zu noch 
hoherer Beantwortung seiner Frage gekommen. 

An derselben Menschheitspsychologie arbeitet er im 
«Tell». Ich will das Drama nicht analysieren, nur zeigen, 
was Schiller dem 19. Jahrhundert war und was er uns noch 
sein wird. Nicht umsonst stellt Schiller den «Tell» heraus 
aus dem iibrigen Gefiige des Dramas: 

Doch was ihr tut, lafk mich aus euerm Rat. 
Ich mag nicht lange priifen oder wahlen! 
Bediirft ihr meiner zu bestimmter Tat, 
Dann ruft den Tell, es soli an mir nicht fehlen. 

Nicht wie die anderen unter dem Eindruck der Freiheits- 
idee handelt er, sondern aus rein personlichem Gefuhl, 
dem gekrankten Vaterempfinden. Zwei Linien lafit Schiller 
zusammenlaufen, etwas, was Tell allein angeht, und das, 
was das schweizerische Volk empfindet. 

Schiller wollte zeigen, wie beim Menschen nicht alles so 
gradlinig sich abspielt. Wir konnen gleiches bei Hebbels 
«Judith» wiederfinden, wo die Not des Vaterlandes zusam- 
menfallt mit dem gekrankten Weibempfinden; der Dichter 
braucht etwas, was unmittelbar herauswachst aus der 
menschlichen Brust. Nicht das blofi Moralische, nicht das 
blofi Sinnliche will Schiller, sondern das Moralische soli 
herabsteigen und zur personlichen Leidenschaft werden. 
Der Mensch wird nur dadurch frei, dafi er sein Personliches 
in der Art zu verrichten vermag, dafi es mit dem allgemei- 



nen zusammentrifft. So arbeitete Schiller Stuck fur Stuck 
an dem Ausbau seiner Psychologie, so sehen wir seinen 
Idealismus in einer fortwahrenden Klarung. Das ist der 
Zauber, der in Schillers Dramen lebt. Er hat seine tief- 
griindigen, asthetischen Schriften nicht umsonst verfafit, 
in diese Probleme sich nicht umsonst versenkt. 

Alles, was im 19. Jahrhundert iiber Asthetik geschrieben 
worden ist von Vischer 3 Hartmann, Fechner und so weiter, 
so bedeutend und treffend vieles ist, wir sehen bei alien das 
Schone aus dem Menschen herausverlegt. Schiller aber hat 
immer studiert, was in der Seele des Menschen vorgeht, wie 
das Schone auf die Menschenseele wirkt. Darum beriihrt 
uns, was er sagt, so traulich, so heimisch, darum konnen 
immer wieder Schillers Prosaschriften mit Entziicken gele- 
sen werden. Es ware eine wiirdige Schillerfeier, wenn diese 
Schriften weit verbreitet und gelesen wiirden, sie konnten 
weitgehend beitragen zur Vertiefung des menschlichen 
Geistes in kunstlerischer und moralischer Beziehung. Eine 
padagogische Ausbeute miifite aus Schillers asthetischen 
Briefen gezogen werden; es wiirde in unser ganzes Unter- 
richtswesen dadurch ein neuer Zug kommen. 

Wer Schillers Dramen verstehen will, mufi die feine Bil- 
dungsluft aus seinen asthetischen Schriften hervorholen. 
Wie Schiller in immer tiefere Schachte des Menschenher- 
zens hineingraben wollte, wird der sehen, der sich mit dem 
leider nicht vollendeten «Demetrius» beschaftigt. Ein Dra- 
ma hatte der «Demetrius» werden konnen, wie es erschut- 
ternder und gewaltiger kaum hatte ein Shakespearesches 
sein konnen. Viele Versuche sind unternommen worden, 
den «Demetrius» zu vollenden, doch der Grofte der Aufga- 
be war niemand gewachsen. Der durchaus tragische Kon- 
flikt, bei reichster Handlung, beispielsweise der polnische 
Reichstag, ist - und das ist das Bedeutende - ganz in das 



Ich verlegt. Wir konnen nicht sagen, dafi unser Sinnen, 
Empfinden und Fiihlen unser Ich ist. Wir sind, was wir 
sind, weil das Denken und Fiihlen der Umwelt zu uns her- 
eindringt. Dieser Demetrius ist so aufgewachsen, dafi er 
selbst nicht weifl, was sein Ich ist. Es findet sich bei ihm, 
bei einer bedeutungsvollen Tat, fur die er hingerichtet wer- 
den soil, ein Kleinod. Es scheint sich herauszustellen, dafi 
ihm die Anwartschaft auf den Zarenthron gebuhrt. Alles 
trifft zusammen, er kann nicht anders glauben, als dafi er 
der echte russische Thronerbe sei. So wird er hineingetrie- 
ben in eine bestimmte Konfiguration seines Ich. Faden, die 
von auften gesponnen werden, treiben ihn weiter. Die Be- 
wegung ist siegreich; Demetrius aber entwickelt sich zum 
Zarencharakter. Jetzt, wo das Ich zusammenstimmt mit 
der Welt um ihn her, erfahrt er, daft er im Irrtum war: er ist 
nicht der echte Thronerbe. Er ist nicht mehr derjenige, als 
der er sich selbst gefunden hat. Er steht der Mutter gegen- 
iiber: sie verehrt ihn, aber die Stimme der Natur ist so stark 
in ihr, daft sie ihn als Sohn nicht anerkennen kann. Er je- 
doch ist selbst zu dem geworden, was er vorstellte. Er kann 
es nicht mehr von sich werfen, aber die Voraussetzungen 
dieses Ich fallen von ihm ab. Dies ist ein unendlich tragi- 
scher Konflikt, ihn konnen wir glauben. Alles ist auf die 
Spitze der Personlichkeit gestellt, einer Personlichkeit, die 
mit unendlicher Kunst gezeichnet ist, der wir glauben, dafi 
sie «nicht liber Sklaven herrschen wolle». 

Auch das Aufiere war mit all der Kunst gefiigt, zu der nur 
Schiller imstande war. So wird in Sapieha, dem Opponen- 
ten des Demetrius, vorahnend der Charakter des Deme- 
trius angezeigt. Auch hier wird die Symmetrie angestrebt, 
die im Wallenstein erreicht ist. Das Drama wurde nicht 
vollendet; der Tod trat dazwischen. So erhalt der Tod 
Schillers etwas Tragisches; alle die Hoffnungen, die auf 



Schiller gesetzt wurden, sie kamen in den Briefen und Au- 
fierungen seiner Zeitgenossen zum Ausdruck. Tief erschut- 
tert von dem Verlust dessen, von dem man noch so vieles 
erwartete, klingt es uns aus den Briefen der Besten entge- 
gen, wie bei Wilhelm von Humboldt: 

«Er wurde der Welt in der vollendetsten Reife seiner 
geistigen Kraft entrissen, und hatte noch Unendliches 
leisten konnen. Sein Ziel war so gesteckt, dafi er nie an 
einen Endpunkt gelangen konnte, und die immer fort- 
schreitende Tatigkeit seines Geistes hatte keinen Stillstand 
besorgen lassen; noch sehr lange hatte er die Freude, das 
Entziicken, ja, wie er es in einem Briefe bei Gelegenheit des 
Plans zu einer Idylle so unnachahmlich beschreibt, die 
Seligkeit des dichterischen Schaffens geniefien konnen. » 

Das ist der Ton, der den Tod Schillers erst zum Tragi- 
schen erhebt, denn im gewohnlichen Verlauf der Dinge hat 
der Tod nicht jenes Irrationelle. Aus dieser Stimmung her- 
aus fand Goethe fur den toten Freund in dem «Epilog zu 
Schillers Glocke» die Worte: 

Und hinter ihm in wesenlosem Scheine 
Lag, was uns alle bandigt, das Gemeine. 

Diesen grofien idealistischen Zug, den konnen wir fort- 
stromen sehen im 19. Jahrhundert. Man wurde sich be- 
wulk, dafi Schillers Geist erhebend sei, um fortan in alien 
Kampfen seinem Volke Trost und Vorbild zu sein. 

Das Fortwirkende von Schillers Idealismus in der deut- 
schen Geistessubstanz sprach K. Gutzkow in seiner Rede 
zur Schillerfeier in der Harmonie in Dresden am 10. No- 
vember 1859 aus, in den treffenden Worten: 

«Das ist das Geheimnis unserer Liebe zu Schiller: Die Er- 
hebung unserer Herzen! Der Mut zur Tat! Der treue Bei- 
sta.nd, den die Nation in all ihren Lagen bei ihrem Liebling 



findet! Mut unci Freudigkeit weckt, was uns an Schiller 
erinnert. So lieblich, so reich, so tief anheimelnd wie 
Goethe uns anmutet, was in seinen Schopfungen an deut- 
sche Art und Sitte erinnert, es ist wie Efeu, der sich trau- 
ernd traumerisch an das Vergangene schmiegt. Aber bei 
Schiller ist alles Zukunft, Fahnenwinken oder Lorbeer. 
Deshalb, deshalb feiern wir das hundertjahrige Gedachtnis 
seines Namens so klingend und weithinschallend, wie das 
Schlagen an einen ehernen Schild. Hoch der Dichter der 
Tat, ein Hort des deutschen Vaterlandes.» 



Siebenter Vortrag, 4. Marz 1905 

Schillers Wirkungen im 19. Jahrhundert 

Ich mochte heute noch sprechen liber die Art der Wirkung, 
die Schiller auf das 19. Jahrhundert gehabt hat, um dann 
iiberzugehen auf die Bedeutung Schillers fur die Gegen- 
wart, und auf das, was Schiller fur die noch folgende Zu- 
kunft sein kann. Im Schlufivortrage will ich dann ein Ge- 
samtbild Schillers geben. Wer Schillers Verhaltnis zum 19. 
Jahrhundert schildern will, kann sich unmoglich auf Ein- 
zelheiten einlassen, deshalb wollen wir uns nicht mit ein- 
zelnen Begebenheiten besonders aufhalten, wenn sie nicht 
besondere symptomatische Bedeutung haben. Es handelt 
sich darum, zu zeigen, wie es sich mit dem ganzen Kultur- 
leben des 19. Jahrhunderts verhalt, und welche Stellung 
Schiller darin einnimmt. 

Es ist im allgemeinen schwer zu sagen, wie grofi der Ein- 
flufi Schillers auf die einzelnen Perioden ist; die Kanale las- 
sen sich nicht im einzelnen verfolgen. Schillers Einflufi lafk 



sich zum Teil vergleichen mit dem, welchen Herder im An- 
fange des Jahrhunderts ausiibte, von dem Goethe zu Ecker- 
mann sagte: «Wer liest noch Herders philosophische Wer- 
ke? aber iiberall begegnet man Ideen, die er gesat.» Es ist 
dies eine intensivere Wirkung als die mit dem Namen ver- 
kmipfte. Auch mit Schiller ist dies der Fall. Sein Wirken 
lafit sich nicht abtrennen von der Wirkung der grofien klas- 
sischen Zeit. Eines aber lafit sich herausheben: diese Wir- 
kung Schillers, die Anerkennung, von der das Nationalfest 
am 10. November 1859 Kunde gibt, kam keineswegs so 
leicht und widerspruchslos heraus. Schiller hat sich nicht so 
leicht durchgerungen. Es hat viel geschehen mussen, um 
namentlich in die Jugend hinein den Geist Schillers auf 
ganz imponderable Art fHefien zu lassen. So hat das «Lied 
von der Glocke» zunachst in den Kreisen der Romantiker 
den heftigsten Widerspruch hervorgerufen. Caroline von 
Schlegel, die Gattin August Wilhelms von Schlegel, hat es ein 
spieftbiirgerliches philistroses Gedicht genannt. 

Nicht nur in dem, was uns in den Xenien entgegentritt, 
sondern im allgemeinen in den Kreisen derer, die man die 
Romantiker nannte, finden wir lebhaften Widerspruch ge- 
gen Schiller. Die Romantiker sahen in Goethes «Wilhelm 
Meister» ihr Ideal und hatten Goethe, den treuen Freund, 
der Schiller die Worte nachgerufen: 

Weit hinter ihm im wesenlosen Scheine 
Lag, was uns alle bandigt, das Gemeine . . . 

auf den Schild gehoben auf Kosten Schillers. Was Schiller 
verstand, das Moralische, Ethische so hoch zu erheben, war 
ihnen etwas durchaus Unsympathisches. Harte Worte flos- 
sen von seiten der Romantiker gegen Schiller, den spieft- 
biirgerlichen Ethiker. Diejenigen, die heute in Schiller- 



ehrung aufgewachsen sind, werden schwer Worte verste- 
hen konnen, wie sie zum Beispiel Friedrich von Schlegel 
iiber ihn fand in Besprechungen iiber Schiller und Goethe. 
Er nennt seine Einbildungskraft «zerriittet». Da ist nichts 
zu merken von dem, was alle Herzen zu Schiller zog. Un- 
gefahr gegen Ende der zwanziger Jahre erschien der Brief- 
wechsel Goethes und Schillers, jenes Denkmal, das Goethe 
seinem Freunde und der Freundschaft setzte. Man kann 
unendlich viel daraus lernen, und seine Bedeutung fur die 
deutsche Kunstbetrachtung ist gar nicht zu bemessen. 
Auch da verhielten sich die Romantiker durchaus ableh- 
nend. Sie hatten bissigen Spott dafur. Wie schwer es war, 
fur Schillers Ruhm festen Boden zu fassen, zeigt die Grofi- 
mannssucht der Personlichkeiten, die Schiller am heftig- 
sten Opposition machten. A. W. Schlegel, der verdienstvol- 
le Ubersetzer Shakespeares, hat ein Sonett auf sich selbst 
gedichtet, in dem sich ausspricht, wie er sein eigenes Ver- 
haltnis zum deutschen Volke auffafke; er spricht da mit 
einem Selbstgefuhl von seiner dichterischen Bedeutung, das 
uns heute sonderbar anmutet. Es schliefit: 

Wie ihn der Mund der Zukunft nennen werde 
Ist unbekannt, doch dies Geschlecht erkannte 
Ihn bei dem Namen August Wilhelm Schlegel. 

Der Mann stellt nicht blofi eine Einzelerscheinung dar, er 
stellt die romantische Theorie dar; ihn kann man nur ver- 
stehen, wenn man begreift, was die romantische Schule 
wollte. Die Romantiker wollten eine neue Kunst, eine Zu- 
sammenfassung alles Kiinstlerischen. Es war ihre Theorie 
eigentlich herausgewachsen aus dem, was Schiller in seinen 
asthetischen Aufsatzen dargestellt hatte, aber sie war eine 
karikierte Auffassung. Das Wort Schillers: «Der Mensch ist 



nur da ganz Mensch, wo er spielt», wurde ihnen zu einer 
Art Motto. So entstand die romantische Ironie, die alles zu 
einem Spiele des Genies machte. Man hatte eine Auffas- 
sung, als ob es der Willkiir des Menschen unterliege, ein 
Genie zu sein. Wenn Schiller die Kunst ein Spiel nannte, 
war es, weil er dem Spiel den ganzen vollen Ernst geben 
wollte. In der Besiegung des Stoffes durch die Form liegt 
das Kunstgeheimnis des Meisters, sagt Schiller, wahrend die 
Romantiker die Form vernachlassigten und vom Stoffe 
selbst verlangten, daft er kiinstlerisch wirke. Eine solche 
Richtung war es, die ich nicht kritisieren, sondern charak- 
terisieren will, welche Schiller grundsatzlich entgegen- 
stand. Der Briefwechsel Goethes und Schillers wurde da- 
her, wie gesagt, von ihnen aufgenommen als etwas, das sie 
storte. Die darin besprochenen Kunstregeln fanden sie 
hausbacken. A. W. von Schlegel schrieb unter dem Ein- 
druck dieses Briefwechsels boshafte Epigramme. Unterein- 
ander betrachteten sich die Romantiker mit der grofken 
Bewunderung. Dies alles zeigt, wie in den ersten Jahrzehn- 
ten Schillers Lebenswerk den heftigsten Widerspruch her- 
vorrief. Andererseits war die Personlichkeit Schillers so ge- 
waltig, daft auch aus diesen Kreisen ihm Anerkennung und 
Bewunderung gezollt wurde. So schrieb Ludwig Tieck iiber 
Schillers «Wallenstein» in verstandnisvoller und vereh- 
rungsvoller Art. 

Wir sehen, daft Schiller immer mehr seinen Einflufi sich 
nach und nach erringt, dafi er sich einnistet in die Herzen 
der Nation. So ist Theodor Korner zwar die bedeutendste, 
aber nicht einzige Erscheinung, die ganz im Geiste Schillers 
lebt, er, der auch den Heldentod stirbt, ganz erfullt von den 
Idealen, die Schiller ihm eingepflanzt. Er schien dazu ge- 
weiht durch die personliche Freundschaft, die seine Familie 
mit Schiller verband. Eine herzliche Freundschaft war es, 



die Korners Vater und Schiller verknupfte; er war der Pate 
Theodor Korners, von ihm war die «Leier» gekauft, die 
Theodor Korner iiberall begleitete. Schiller hat sich lang- 
sam, aber ganz sicher in die Herzen der Jugend einge- 
schlichen. 

Wer die Entwickelung des Schriftwesens bei den sich 
straubenden Romantikern verfolgt, begegnet dem Einflufi 
Schillers selbst in den Wortformen, die er gepragt. Durch 
Schiller hat sich herausgebildet, was man in der ersten Half- 
te des 19. Jahrhunderts deutsche Bildung nennen kann: sie 
ist ganz wie durch Imponderabilien geformt durch das, was 
sich in das Gemut einpflanzte von Schiller aus. Das, was 
von Herder und den anderen Klassikern ausging, ist durch 
die Bilder und didaktischen Wendungen Schillers in die Na- 
tion geflossen. Mochten auf der Hohe der asthetischen Bil- 
dung sich einige auch strauben, immer mehr hat Schiller 
sich eingeburgert. So wachst sein Einfluft fort und fort. 
Und wie der hundertjahrige Geburtstag Schillers kommt, 
da sind es die Besten, die ihn feiern, die Besten der Nation. 
In einem Buch iiber Schiller sind die Reden gesammelt, die 
damals gehalten wurden. Und es waren bedeutende Man- 
ner, die jene Reden hielten: Jakob Grimm, Th. Vischer der 
grofie Asthetiker, Karl Gutzkow, Ernst Curtius, Moriz 
Carriere und viele andere. Der Same war aufgegangen, den 
Schiller gesaet. 

Und doch mufi man sagen, dafi die Sprache, die damals, 
1859, gesprochen wurde, dem doch recht fremd gegenuber- 
stand, was als etwas Neues in jener Zeit heraufkam. Die Be- 
tonung des Ideals im Jahre 1859 stimmt seltsam zu dem, 
was sonst in diesem Jahre ans Licht kam. Vier bedeutende 
Erscheinungen sind es vor allem, auf die ich hier hinweisen 
will: 1859 erschien Charles Darwins «Abstammung der Ar- 
ten». Dann Fechners «Vorschule der Asthetik». Fechner 



hat einen grofien Einflufi auf eine Stromung der Gegenwart 
gewonnen: er ist ausgegangen von Hegel, der selbst Schiller 
gegen die Romantiker in Schutz genommen hatte. Vischer, 
der aus der Goethe-Schillerzeit stammte, der eine idealisti- 
sche Asthetik vertrat, sieht sich in Widerspruch versetzt zu 
dem, was er selbst bisher bekannt hatte; er sieht diese Rich- 
tung abgelost durch Fechner. Es ist dies eine Asthetik von 
unten, wahrend es friiher eine Asthetik von oben war, die 
man vertrat. Von unten, aus kleinen Symptomen, wollte 
man jetzt das Wesen des Schonen erkennen. Das dritte 
Werk, welches Raumverhaltnisse behandelte, steht in 
einem gewissen Gegensatz zu Schillers Art. Hatte sich doch 
dieser in einem seiner Epigramme an die Astronomen so 
gewendet: 

«Schwatzet mir nicht so viel von Nebelflecken und 

Sonnen. 

Ist die Natur nur groft, weil sie zu zahlen euch gibt? 
Euer Gegenstand ist der erhabendste freilich im Raume, 
Aber, Freunde, im Raum wohnt das Erhabene nicht.» 

Dieses dritte Werk war die von Kirchhoff und Bunsen ge- 
fundene «Spektralanalyse». Durch sie konnte die Sonne in 
ihren Bestandteilen erkannt werden, konnte eine Analyse 
der fernsten Nebelflecken unternommen werden. 

Das vierte Werk war: Karl Marx «Kritik der politischen 
Okonomie». Es war ein sonderbarer Kontrast zwischen 
dem, was man damals bei der Schillerfeier entwickelte und 
dem, was jene Zeit wirklich heraufbrachte. 

Es war ein eigentumlicher Standpunkt, den Schiller, und 
unsere Klassiker iiberhaupt, zur Weltkultur einnahmen. 
Man kann sich Raffael, Michelangelo nicht denken ohne 
den Zusammenhang mit ihrer Zeit, aus der sie geboren wa- 



ren, aus der heraus sie schufen. So ist die homerische Kunst 
im innigen Zusammenhang mit dem, was in alien lebte. 
Homer brauchte nur dem Form zu geben, was als Fiihlen 
und Denken seine Zeitgenossen durchdrang. Ganz anders 
war es bei unseren Klassikern. Homer, von wem dichtete 
er? Von Griechen redete er zu Griechen. So waren noch 
Dante, noch Michelangelo, ja auch noch Shakespeare ganz 
hineingestellt in ihre Zeit. Anders war es bei unseren Klas- 
sikern. Lessing begeisterte sich fur Winckelmann, aus sei- 
nen Darlegungen bildete er sich seine Kunstanschauungen. 
Auch ging Lessing zuriick auf Aristoteles. Schiller und 
Goethe studierten mit Lessing in Glaubigkeit Aristoteles. 
Daher kam ein so abgesondertes Schonheitsideal, eine so 
vom Leben der Zeit abgesonderte Kunst, besonders im spa- 
teren Lebensalter der Dichter. Denn die Jugenddramen 
Schillers, «Die Rauber», «Kabale und Liebe» sind ja noch 
verbunden mit dem eigenen Leben. Goethe hatte sich be- 
sonders in Italien entwickelt. Die Kunst war Selbstzweck 
geworden, abstrakt abgezogen vom wirklichen Leben. 
Gleichgiiltig gegeniiber den Stoffen waren Goethe und 
Schiller geworden. So sehen wir, dafi Schiller jetzt seine 
Stoffe iiberall sucht in der Welt. Er hat sich herausgehoben 
aus der ihn umgebenden Welt, hat sich auf eigene Fiifie ge- 
stellt. Nichts charakterisiert Schillers EinflufS so, als da£ auf 
ihn die Romantik folgt, die alles Fremdlandische assimi- 
liert. Ubersetzungen aus alien Gebieten der Weltlkeratur 
bilden ein Hauptverdienst der romantischen Schule. 

Schillers Stellung zur Kunst bildet etwas, was auf sein 
Verhaltnis zum 19. Jahrhundert entscheidend wirkt. 



Achter Vortrag, 5. Marz 1905 

Was kann die Gegenwart von Schiller lernen? 

Man darf nicht verkennen, dafi das Verhaltnis des Publi- 
kums in der zweiten Halfte des 19. Jahrhunderts zu Schiller 
ein ganz anderes werden mufke als in der ersten; schon 
durch die Erscheinungen war das bedingt, die ich Ihnen an- 
gedeutet habe. Schiller stand zur Wahrheit so, dafi er sagen 
konnte: «Durch das Morgenrot des Schonen trittst du in 
der Erkenntnis Land.» Ihm war die Wahrheit das Schone. 
Das Kunstwerk sollte sein eine Gestaltung der Idee; der 
Idee, von der man sich das Weltall durchflutet dachte. Es 
war eine ideale Weltanschauung, eine feine, subtile, die nur 
erfassen kann, wer sich zu subtilen, geistigen Hohen aufzu- 
schwingen vermag. Die Grundlage fiir Schillers Verstand- 
nis bedingt etwas, was bedeutende Anforderungen stellt. 

Deshalb liegt in der zweiten Halfte des Jahrhunderts in 
der Schiller- Verehrung etwas weniger Intensives; durch die 
heraufkommende Naturwissenschaft war ein kiihleres Ver- 
haltnis bedingt. Man sah nun das Wahre nur in dem, was 
sinnlich ist. Das hat Schiller nie getan. Die Ideale Schillers 
waren immer Wahrheit, aber Wahrheiten auf geistiger 
Grundlage. Was dazumal den Leuten im Gefiihl safi, ist 
heute nicht mehr greifbare Wirklichkeit. Die Grofie und 
Weite des geistigen Horizonts war es, aus der Schiller her- 
ausgewachsen ist: es ist die Welt Goethes, Lessings, Herders 
und Winckelmanns. Als die aufiere Wirklichkeit drangte 
mit ihren derberen Anforderungen, gab es zwischen dem 
Schonen und Wahren keinen rechten Zusammenhang 
mehr. Auf Grundlage der naturwissenschaftlichen Er- 
kenntnisse konnte ein Ludwig Buchner eine rein materiali- 



stische Weltanschauung konstruieren. Schiller aber ist 
nicht fur ein materialistisches Zeitalter; es wird zur Phrase, 
wenn man sich in einem solchen auf seine Anschauungen 
beruft. So kam es, dafi Schiller etwas in den Hintergrund 
trat. Goethe konnte fur die zweite Halfte des 19. Jahrhun- 
derts noch etwas sein, weil sich in ihm das Kiinstlerische 
abtrennen lafit von der Weltanschauung. Selbst bei Her- 
man Grimm tont alles aus in einen Panegyrikus auf 
Goethe, den Kunstler. Zwar fur den, der sich ganz genau 
mit Goethe beschaftigt, ist es fraglos, daft es auch bei ihm 
nicht angangig ist, ihn von seiner Weltanschauung zu tren- 
nen. Immerhin ist bei Goethe eine rein asthetische Betrach- 
tung moglich; bei Schiller ist ein solcher Standpunkt nicht 
moglich. Heute wird die Kunst betrachtet als etwas, was 
sich mit dem Gebiete der Phantasie beschaftigt. Darin liegt 
schon eine Ablehnung der Weltanschauung. 

So hat sich eine Kluft gebildet zwischen dem Geiste der 
Zeit, in der Schiller lebte, und dem der unsrigen, aus der 
heraus es moglich war, daft ein neuer Schiller-Biograph, 
Otto Brahm, der aus der 5c/?erer-Schule hervorgegangen ist, 
sein Buch mit den Worten beginnen konnte: «Ich war in 
meiner Jugend ein Schillerhasser.» Er hat sich erst nach und 
nach durch Gelehrsamkeit, durch Erkenntnis, zu einer 
Verehrung Schillers hindurchgerungen. Schiller hat gelehr- 
te Biographen gefunden, aber das Fiihlen der Zeit ist schon 
fremd geworden den eigentlich Schillerschen Aufgaben. Es 
kann nicht verstehen, wie man das, was man heute Er- 
kenntnis nennt, in Einklang bringen kann mit dem, was 
Schiller vertritt. Wie schon gesagt, die Kunstler einer friihe- 
ren Zeit, ein Raffael, ein Michelangelo, sie sind herausge- 
wachsen aus dem Leben ihrer Epoche. So war es nicht 
mehr nach Goethes Tode. Wir sehen, wie ein Kunstler, wie 
Peter Cornelius, ganz aus dem Gedanken heraus schafft; er 



stand nicht mehr in irgendeinem Zusammenhange mit der 
geistigen Substanz seiner Zeit. Er fuhlte sich besonders in 
Berlin immer fremd; hingezogen zu dem Katholizismus, in 
dem er sein Kunstideal gegriindet glaubte, stand er dem 
Leben seiner Zeit teilnahmslos gegeniiber. 

So wird die Kluft zwischen Leben und Kunst immer gro- 
wer. Wie fremd steht daher Schiller in dem Leben des 19. 
Jahrhunderts. Wohl hat Jakob Minor dicke Bande iiber 
Schillers Jugend geschrieben, aber alles weist darauf hin, 
wie fremd geworden Schillers Anschauungen unserer Zeit 
sind. Was man heute als wahr erkennt, ist aus der naturwis- 
senschaftlichen Weltanschauung herausgewachsen. So ist 
auch die Asthetik aus einer idealistischen in eine realisti- 
sche Richtung hineingekommen. Dieser Umschwung war 
ein so starker, daft sich Vischer nicht zu einer zweiten Auf- 
lage seiner «Asthetik» entschlieften konnte, die in idealisti- 
schem Sinne geschrieben war; jetzt war er irre geworden an 
dem, was er bisher vertreten. So fremd waren fur fixhrende 
Geister die Empfindungen der ersten Halfte des Jahrhun- 
derts geworden, daft ein solcher Mann sich in dieser Weise 
selbst kritisiert. 

Nach dieser Entwickelung werden wir verstehen, wie 
Schiller in unserer Gegenwart steht. So war es moglich, daft 
ein Mann wie E. Du Bois-Reymond, der doch selbst ganz in 
Schillers Diktion wurzelte, in einer Rede iiber Goethes 
«Faust» sagen konnte, «Faust» sei eigentlich ein verfehltes 
Werk, von Rechts wegen miisse Faust Gretchen heiraten, 
bedeutende Erfindungen machen, und so ein niitzliches Da- 
sein fiihren - und so weiter. Alles, was den Faust aus- 
macht, verstand ein bedeutender Mann des 19. Jahrhun- 
derts nicht mehr. 

Diese Richtung war ausschlaggebend geworden. Keiner 
wagt ihr zu widersprechen, niemand wagt das Recht des 



Idealen zu betonen. Selbst die Kunst nennt sich realistisch. 
Eine idealistische Deutung findet wenig Anklang bei dem 
Publikum. Ehrlich sind diejenigen, die gestehen, da£ Schil- 
ler ihnen nicht sympathisch ist. Daft das Schone eine Aus- 
pragung des Wahren sei, gilt nicht mehr. Das Wahre wird 
genannt, was mit Augen gesehen, mit Handen getastet wer- 
den kann. Das Alltagliche wird das Wahre genannt. So war 
es nicht fur Schiller; ihm lag das Wahre in den groften, 
ideellen Gesetzen. Die Kunst war fur ihn die Wiedergabe 
des im Wirklichen verborgenen Geistigen, nicht des Alltag- 
lichen. Das Wahre, das Schiller suchte, wird heute weder 
von der Wissenschaft noch von der Kunst anerkannt; nie- 
mand versteht heute, was Schiller unter dem Wahren ver- 
stand. Deshalb dieser Gegensatz. Man versteht heute unter 
dem Wahren das, was Schiller das Sinnlich-Notdurftige 
nannte. In der Harmonie zwischen dem Geistigen und dem 
Sinnlich-Notwendigen sucht Schiller das Freiheitsideal. 
Was man heute das Kiinstlerische nennt, kann man nim- 
mermehr im Sinne Schillers das Kiinstlerische nennen. 
Noch eine Kluft liegt zwischen den heutigen und Schillers 
Anschauungen. Unsere Zeit hat nicht mehr den tiefen in- 
tensiven Drang nach einem Eindringen in den inneren 
Kern der Welt. Dieser tiefe Ernst, der wie ein Duft iiber 
Schillers Anschauungen liegt, dieser tiefe Ernst ist nirgends 
mehr vorhanden. 

So versucht unsere Zeit, grofte Geister von so grundsatz- 
Hcher Verschiedenheit wie Tolstoi und Nietzsche in ganz 
oberflachlicher Weise nebeneinander zu stellen. Der Mate- 
rialismus ist zur Weltanschauung geworden, er ist ein 
Evangelium geworden, ein integrierender Bestandteil unse- 
rer Zeit. Besonders die grofien Massen stehen auf rein mate- 
rialistischer Grundlage, sie wollen keine andere Weltan- 
schauung gelten lassen. Wahr gilt ihnen nur, was die Natur- 



wissenschaft erlaubt, wirklich zu nennen. Zu welchen Vor- 
kommnissen das fuhrt, dafiir eine kleine Episode. Es war 
zum letztenmal, da eine idealistisch gefarbte, wenn auch 
pessimistische Weltanschauung auf die Welt wirkte: 
Eduard von Hartmanns «Philosophie des Unbewulken». 

Die Schrift erfuhr zahlreiche Angriffe. So erschien auch 
eine scharfe Kritik unter dem Titel: «Das Unbewufke vom 
Standpunkte der Deszendenztheorie und des Darwinis- 
mus.» Das Buch trug keinen Verfassernamen. Von seiten 
der Naturwissenschafter wurde es als beste Widerlegung 
der Schrift E. von Hartmanns bezeichnet. Bei der zweiten 
Auflage nannte sich der Verfasser: er war E. von Hartmann 
selbst. Er hatte zeigen wollen, daft es leicht ist, sich zu dem 
materialistischen Standpunkt herunter zu schrauben, wenn 
man einen hoheren erklommen hat. Die auf einem hoheren 
Standpunkt stehen, konnen einen niedrigeren, die auf nie- 
derem nicht den hoheren verstehen. Es ist durchaus so, dafi 
derjenige, der auf idealistischem Standpunkte stent, ganz 
bereit ist, in gewisser Weise den materialistischen anzuer- 
kennen. Derjenige, der auf dem Standpunkt Schillers steht, 
kann Biichner, kann die moderne Kunst in ihrer materiali- 
stischen Anschauung beurteilen, nicht aber kann umge- 
kehrt der Materialist den Idealisten durchschauen. 

Schiller war ein Glaubiger des Ideals. Ein tiefer Spruch 
von ihm lautet: «Welche Religion ich bekenne? Keine von 
alien, die du mir nennst. - Und warum keine? - Aus Re- 
ligion.* 

Das ist das Grofte an ihm, daft sein asthetisches Bekennt- 
nis zugleich sein religioses, dafi sein kiinstlerisches Schaffen 
sein Kultus war. Da£ so sein Ideal in ihm lebte, das ist ein 
Bestandteil seiner Grofie. Und so fragen wir nicht: «Kann 
uns Schiller heute etwas sein?» Im Gegenteil, er mufi uns 
wieder etwas werden, darum, weil wir verlernt haben, das 



iiber das rein materielle Hinausgehende zu verstehen. 
Man wird dann eine Kunst wieder verstehen, welche die 
Geheimnisse des Daseins enthiillen will. 

Aber auch ein neues Freiheitsideal werden wir durch ihn 
verstehen lernen. Heute hort man viel von Freiheit reden, 
frei von staatlichen, von okonomischen Fesseln wunseht 
man zu sein. Schiller hat die Freiheit anders aufgefafit. Wie 
wird der Mensch in sich selber frei? Wie wird er frei von 
seinen niedrigen Begierden, frei von dem Zwange der 
Logik und Vernunft? Schiller, der iiber den Staat und das 
Leben in der Gesellschaft geschrieben hat, kommt da zu 
einem neuen Ziele, zu einem Hinweis auf Zukunftsideale. 
Wenn man in unserer Zeit mit Recht fordern will, dafi das 
Individuum sich frei entfalten konne, mull man die Har- 
monie im Sinne Schillers auffassen. Messen wir, was man 
heute verlangt, an dem was Schiller gefordert hat. Zwei Er- 
scheinungen wollen wir ins Auge fassen: Max Stirner und 
Schiller. Was kann unahnlicher, entgegengesetzter erschei- 
nen, als Stirners «Der Einzige und sein Eigentum» und 
Schillers «Asthetische Briefe». In der Zeit, als Schillers Ein- 
flufi in den Hintergrund trat, kam Stirners Einfluft herauf. 
Stirner, der unberiicksichtigt geblieben war die ganze Zeit 
hindurch, wurde in den neunziger Jahren neu entdeckt, 
sein Werk bildete die Grundlage dessen, was als Individua- 
lismus herumschwirrt. Diese Empfindung unserer Zeit hat 
etwas Berechtigtes, muft aber, wie sie jetzt erscheint, als et- 
was Ungeziigeltes erscheinen. In Schillers «Asthetischen 
Briefen» wird die Forderung der Befreiung der menschli- 
chen Personlichkeit fast noch radikaler erhoben. Weniger 
spiefiburgerlich als Stirner hat Schiller dieses Ideal aufge- 
stellt. Das Ideal des Zusammenwirkens der Menschen, die 
innerlich frei geworden sind, tritt flir andere Menschen als 
eine Mahnung auf. Gebote, Zwangsvorschriften, gibt es 



nicht, wo Menschen so leben. Heute scheint man zu glau- 
ben, es miisse alles in Unordnung geraten, wenn die Men- 
schen nicht von Polizeimafiregeln eingeengt sind. Und 
doch mufi man sich klar sein: Unzahliges in der Weltge- 
schichte geht ohne Gesetze. Taglich kann man beobachten, 
wie ganz von selbst in den belebtesten Straften die Men- 
schen einander ausweichen, ohne dafi eine Vorschrift dar- 
iiber besteht. Achtundneunzig Prozent unseres Lebens ge- 
hen ohne Gesetze vor sich. Und es wird einst moglich sein, 
ganz ohne Gesetze, ohne Zwang auszukommen. Dazu aber 
mufi der Mensch innerlich frei geworden sein. 

Ein Ideal von unermeftlicher Grofie ist es, das Schiller 
vor uns hinstellt. Die Kunst soil den Menschen zur Freiheit 
fiihren. Die Kunst, herausgewachsen aus der Kultursub- 
stanz, soil zur grofien Welterzieherin werden. Nicht Pho- 
tographien der aufieren Welt sollten die Kiinstler liefern: 
sie sollten Boten sein einer hoheren geistigen Wirklichkeit. 
Dann werden die Kiinstler wieder schaffen wie friiher, aus 
dem Ideal heraus. Durch die Kunst hindurch zu einer 
neuen Erfassung der Wirklichkeit wollte Schiller leiten; 
er meinte es ernst damit. 

Wenn unsere Zeit Schiller recht verstehen will, muU sie 
zusammenfassen, was sie errungen hat an Erkenntnissen, 
zu einem hoheren Idealismus, der sie emporhebt zu der 
geistigen Wirklichkeit. Dann werden auch diejenigen kom- 
men, die wieder aus der Tiefe ihres Herzens aus Schillers 
Geiste heraus sprechen konnen. 

Wenig niitzt es, zu Schillers Ehren die Theater zu offnen, 
wenn die Leute, die darinnen sitzen, kein Verstandnis fur 
Schiller haben. Erst wenn wir uns so zum Verstandnis 
Schillers erheben, werden auch Leute da sein, die, wie Her- 
man Grimm uber Goethe, so aus tiefstem Herzen liber 
Schiller sprechen konnen. 



Neunter Vortrag, 25. Marz 1905 



Schiller und der Idealismus 

(Asthetik und Moral) 

Ich mochte heute in der Schlufistunde eine spezielle Frage 
erledigen, die sich an den Vortrag liber Schillers Wirkung 
auf die Gegenwart anreihen soli. Die Frage der deutschen 
Asthetik kann uns hier interessieren, weil Schiller in enger 
Verbindung steht mit der Begriindung der asthetischen 
Wissenschaft. Asthetik ist Wissenschaft des Schonen. 

Wir haben gesehen, wie Schiller in verschiedenen Perio- 
den seines Lebens sich zum Schonen stellt. Schiller sah in 
dem Schonen etwas, was einen ganz besonderen Kultur- 
wert hat. Inwiefern damit etwas ganz Besonderes getan 
war, zeigt uns die asthetische Wissenschaft, wie wir sie heu- 
te haben, und die erst etwa hundertfiinfzig Jahre alt ist. 
Freilich hat schon Aristoteles iiber Poetik geschrieben, aber 
durch Jahrhunderte blieben die Anschauungen dariiber auf 
demselben Standpunkt stehen. Wir wissen, dafi selbst Les- 
sing haufig noch auf Aristoteles zuriickgriff. Erst im 18. 
Jahrhundert, aus der tt^o^schen Philosophic, ging Baum- 
garten hervor, der ein Buch iiber das Schone, «Asthetica», 
1750 schrieb. Er unterscheidet das Schone vom Wahren da- 
durch, daft, wie er sagt, das Wahre eine klare Vorstellung 
enthalt, wahrend das Schone unklare, verworrene Vorstel- 
lungen verkorpert. Es war noch nicht lange vor Schiller, 
dafi solche Gedanken auftauchen konnten. Nun haben wir 
bei Kant selbst in der «Kritik der Urteilskraft» eine Art 
Asthetik, aber bei ihm war alles nur Theorie; er hat nie 
einen lebendigen Begriff erhalten von dem, was Schonheit 
ist, er ist nicht iiber drei Meilen weit von seinem Geburts- 
ort Konigsberg hinweggekommen, hat kein bedeutendes 



Kunstwerk gesehen; hat also nur vom Standpunkte ab- 
strakter Philosophic geschrieben. Schiller war es, der dies 
Problem zuerst lebensvoll erfafke in seinem Werk «Asthe- 
tische Briefe». 

Wie hat das Problem damals gestanden? Goethe blickte 
mit Wehmut auf Griechenland; so schaute auch Winckel- 
mann sehnsiichtig in die Zeit zuriick, in der der Mensch das 
Gottliche in seinen Kunstwerken nachbildete. Auch Schil- 
ler litt in seiner zweiten Periode an dieser Sehnsucht. In 
den «G6ttern Griechenlands» kommt dies zum Ausdruck. 
Was ist es im Grunde anderes als ein religioser Zug, der der 
griechischen Dramatik zugrunde lag? Ihr liegt das Myste- 
rium zugrunde, das Geheimnis des Gottes, der Mensch 
wird, der als Mensch leidet, stirbt und aufersteht. Man faft- 
te als eine Lauterung des Menschen auf, was dabei durch die 
Seele zog. Selbst durch Aristoteles' Poetik zieht noch ein 
Hauch davon. Das Tragische sollte darin bestehen, wie Les- 
sing sich ausdriickte, durch Vorfuhrung von Handlungen, 
die Furcht und Mitleid erregen, die Reinigung von diesen 
Leidenschaften zu erstreben. Es war schwer zu verstehen, 
was damit gemeint sein sollte. Lessing selbst hat viel dar- 
iiber nachgedacht. Im 19. Jahrhundert ist eine reiche Litera- 
tur dariiber entstanden. Uber das Wort Katharsis sind gan- 
ze Bibliotheken geschrieben worden. Es wurde deshalb 
nicht verstanden, weil man nicht wufke, woraus es hervor- 
gegangen ist. 

In dem Drama des Aschylos erkennt man noch etwas von 
dem Drama des Gottes. In der Mitte der Handlung steht 
Dionysos als die grofie dramatische Figur; der ihn umge- 
bende Chor begleitet die Handlung. So hat Edouard Schure 
das Mysteriendrama neu erstehen lassen. Die dramatische 
Kulthandlung hatte die ganz bestimmte Aufgabe, den 
Menschen auf eine hohere Stufe des Daseins zu fuhren. 



Man sagte, der Mensch ist mit Leidenschaften behaftet; 
durch das niedere Leben gehort er ihnen an; er kann aber 
dariiber hinauskommen, wenn das hohere, das in ihm lebt, 
gelautert wird; er kann sich herausheben durch die An- 
schauung des gottlichen Vorbildes. Diese Art der Darstel- 
lung sollte die Menschen leichter dazu bringen, sich zu ver- 
edeln, als dies durch Lehren erreicht wird. Denn wie Scho- 
penhauer sagt: Moral laftt sich leicht predigen, aber es ist 
schwer, Moral zu begriinden. - Es war eine spat ere Epo- 
che der Menschheit, als die Anschauung des Sokmtes auf- 
trat, dafi die Tugend lehrbar sei. Sie ist aber etwas, was im 
Menschen lebt, was ihm natiirlich ist wie das Essen und 
Trinken; er kann dazu gefiihrt werden, wenn das Gottliche 
in ihm erweckt wird durch das Vorbild des leidenden Got- 
tes. Diese Reinigung durch das gottliche Vorbild nennt 
man die «Katharsis». So sollte Furcht und Mitleid hervor- 
gerufen werden. Das gewohnliche Mitleid, das am Person- 
lichen hangt, soil zum grofSen unpersonlichen Mitleid er- 
hoben werden, wenn man den Gott leiden sieht fur die 
Menschheit. 

Dann wurde die dramatische Handlung vermenschlicht, 
und im Mittelalter sehen wir, wie die Moral sich emanzi- 
piert und selbstandig auftritt. So wird spater im Christen- 
tum einseitig ausgebildet, was im Mysterium leibhaftig leb- 
te. Der Grieche sah mit eigenen Augen den Gott, der auf- 
stieg aus der Erniedrigung. Es wurde in den Mysterien die 
Tugend nicht blofi gepredigt, sondern dem Menschen zur 
Anschauung gebracht. 

Dies den Menschen wieder zum Verstandnis zu bringen, 
diese beiden Dinge miteinander wieder zu vereinen, war et- 
was, was in Schiller ganz intensiv lebte. Der Nerv seiner 
Dichtungen war die Sehnsucht, diese beiden zu versohnen: 
Sinnlichkeit und Sittlichkeit. Die strenge Sittlichkeit ist 



durch Kant so aufgefafk worden, daft die Pflicht hinwegge- 
fuhrt hatte von allem, was als Neigung erschien. Schiller 
forderte dagegen, dafi die Pflicht zur Neigung werde. So ge- 
reinigt wissen wollte Schiller die Leidenschaft, daft sie selbst 
als Pflicht erscheine. Deshalb verehrte er auch Goethe so, 
indem er bei ihm eine vollkommene Vereinigung von Sinn- 
lichkeit und SittHchkeit sah. Im Schonen suchte er diese 
Vereinigung von Sinnlichem und Sittlichem. Denn weil 
Schiller in besonderem Mafie eine deutsche Eigenschaft hat- 
te, das asthetische Gewissen, wollte er, dafi die Kunst dazu 
da sein sollte, um den Menschen zu hoherem Dasein zu er- 
heben. In unserer klassischen Zeit lebte ein starkes Gefiihl 
dafiir, dafi das Schone nicht zur Ausfullung mii&ger Stun- 
den da sei, sondern dafi es die Briicke sei zwischen dem 
Gottlichen und Sinnlichen. Und Schiller rang sich durch 
dazu, daft er die Freiheit hier fand. Die Neigung wird nicht 
mehr unterdriickt; er sagt, daft der Mensch noch niedrig 
stehe, der gegen seine Neigungen tugendhaft sein miisse. 
Nein, seine Neigungen miissen so ausgebildet sein, daft er 
von selbst tugendhaft handle. Friiher, in der Schrift «Die 

* * 

Schaubiihne als moralische Anstalt» hat er noch etwas Ahn- 
liches wie die herbe kantische Moral gepredigt. 

In der Besiegung des Stoffes durch die Form liegt das Ge- 
heimnis des Meisters. Was ist der Stoff der Dichtung iiber- 
haupt? In welcher Auffassung liegt der rechte Standpunkt 
zur Betrachtung des Schonen? - Solange ich mich interes- 
siere fur ein einzelnes besonderes Gesicht, habe ich nicht 
die wahre kiinstlerische Anschauung erworben; es ist noch 
ein Am-Stoffe-Hangen da. - «Das <Was> bedenke, mehr be- 
denke <wie>!» - Solange der Dichter noch zeigt, dafi er den 
Bosewicht hafit, in der Art des personlichen Interesses, 
hangt er noch am Stoff e, nicht an der Form, er ist noch 
nicht zu der asthetischen Anschauung gekommen. Erst 



dann ist er zu dieser Anschauung fortgeschritten, wenn der 
Bosewicht so hingestellt ist, dafi die Naturordnung das 
Strafgericht vollzieht, nicht der Dichter selbst. Dann voll- 
zieht sich das Weltenkarma, dann wird die Weltgeschichte 
zum Weltgericht. Der Dichter schaltet sich aus und be- 
trachtet objektiv die Weltgeschichte. Damit vollzieht sich, 
was schon Aristoteles ausspricht, dafi die Dichter wahrer 
sind als die Geschichte. In der Geschichte kann man nicht 
immer das ganze Geschehen iiberblicken; es ist ein Aus- 
schnitt, der vor uns liegt, so dafi wir oft den Eindruck des 
Ungerechten empfangen. Insofern ist daher das Kunstwerk 
wahrer als die Geschichte. 

Damit war geschaffen eine reine edle Auffassung der 
Kunst; die Reinigung, Katharsis selbst, ist liber Sympathie 
und Antipathie stehend. Mit reinem, beinah gottlichem 
Gefuhl soli der Beschauer vor dem Kunstwerk stehen und 
so vor sich sehen ein objektives Abbild der Welt, sich einen 
Mikrokosmos schaffen. Der Dramatiker zeigt uns im en- 
gen Rahmen, wie sich Schuld und Siihne verketten, stellt 
im einzelnen dar, was Wahrheit ist, aber gibt dieser Wahr- 
heit ein allgemein gultiges Geprage. Goethe gibt dem Aus- 
druck, indem er das Schone eine Manifestation der Natur- 
gesetze nennt, die ohne das Schone nie zum Ausdruck 
gelangten. 

Goethe und Schiller wollten einen Realismus finden, 
aber einen idealistischen Realismus. Heute glaubt man, 
durch genaue Abbildung der Natur den Realismus zu fin- 
den. Schiller und Goethe wiirden gesagt haben: Das ist 
nicht die ganze Wahrheit; die sinnliche Natur stellt nur 
einen Teil dessen dar, was wahrnehmbar ist; es fehle das 
Geistige darinnen; nur dann konne man sie als Wahrheit 
gelten lassen, wenn man das ganze Naturtableau auf einmal 
in ein Werk hineinbrachte; die sinnliche Natur sei aber 



doch immer nur ein Ausschnitt des Wirklichen. - Weil sie 
nach Wahrheit strebten, haben sie die unmittelbare Natur- 
wahrheit nicht gelten lassen. 

So bemtihen sich Schiller und Goethe, in ihrer Zeit den 
Idealismus zu erwecken. Friiher war dieser Idealismus vor- 
handen; in Dante finden wir dargestellt nicht die aufiere 
Wirklichkeit, wie sie uns umgibt, sondern das, was sich in 
der menschlichen Seele vollzieht. Spater wollte man das 
Geistige veraufierlicht vor sich sehen. Goethe hat im 
«Grofikophta» dargestellt, wie der, welcher den Geist ver- 
materialisiert, Verirrungen ausgesetzt ist. Auch Schiller hat 
sich mit der Materialisation des Spirituellen beschaftigt. In 
der damaligen Zeit wurde nach dieser Richtung auch vieles 
gesucht. Vieles von dem, was heute als Spiritismus auftritt, 
beschaftigte damals weite Kreise. So entstand der tiefe 
«Geisterseher», eine Auseinandersetzung mit diesen Stro- 
mungen. Vor der Zeit, als er durch den Kantianismus und 
das Kunstlerische sich zu hoheren Anschauungen durchge- 
rungen hatte, schilderte Schiller die Gefahren, denen derje- 
nige, der das Geistige in der aufieren Welt sucht, statt in 
sich selbst, ausgesetzt ist. So entsteht der «Geisterseher». 

Ein Fiirst, der seinem Glauben entfremdet ist und nicht 
die Kraft besitzt, in seiner eigenen Seele das Geistige zu er- 
wecken, wird durch eine seltsame Prophezeiung, die ihm 
ein geheimnisvoller Fremder verkundet, und die bald dar- 
auf in Erfiillung geht, in eine heftige Aufregung versetzt. Er 
fallt in dieser Stimmung Gauklern in die Hande, die durch 
geschkkte Ausnutzung gewisser Umstande ihn in die See- 
lenverfassung versetzen, die fiir eine Geistererscheinung 
empfanglich macht. Die Beschworung geht vor sich, aber 
plotzlich tritt ein Fremder dazwischen, entlarvt den Be- 
schworer, lafit aber selbst nun eine Erscheinung an die Stel- 
le jener des Betriigers treten, die eine wichtige Mitteilung 



an den Prinzen macht. Der Prinz wird von Zweifeln hin 
und her geworfen, der Fremde ist derselbe, der ihm die 
Prophezeiung machte; aber bald vermutet der Zweifler, 
daft die beiden unter einer Decke steckten, da der erste Be- 
schworer zwar verhaftet wird, aber bald verschwindet. 
Neue, unerklarliche Vorfalle bringen ihn zu einem Streben 
nach der Losung all des Geheimnisvollen; er gerat dabei 
vollstandig in Abhangigkeit von einer geheimen Gesell- 
schaft; er verliert aber alien sittlichen Halt. Der Roman ist 
nicht vollendet worden, aber in erschiitternder Weise er- 
scheint hier das Ringen eines Geistersuchers dargestellt; wir 
sehen, wie die Sehnsucht nach dem Geistigen den Men- 
schen herunterfiihrt, wenn er es im Aufieren sucht. Nicht 
derjenige, der an dem Sinnlichen hangt, auch nicht in der 
Weise, daft er verlangt, das Geistige als Sinnliches erschei- 
nen zu sehen, kann zum Geistigen vordringen. Das Gei- 
stige soil sich in der Seele des Menschen enthiillen. 

Das ist das wahre Geheimnis des Geistigen. Darum sieht 
es der Kiinstler zuerst als Schonheit. Das Schone dann, be- 
siegt und durchdrungen vom Geiste, wird wirklich im 
Kunstwerk. So ist das Schone das wiirdige Material des 
Geistigen. Zunachst war fur Schiller das Schone das einzi- 
ge, wodurch sich das Geistige offenbaren kann. Mit Weh- 
mut blickte er zuriick auf die Griechenzeit, wo die Mog- 
lichkeit zu einer anderen Erweckung des Geistigen vorhan- 
den war. Der Mensch hatte sich zu dem Gott erhoben, in- 
dem er ihn herabholte, ihn Mensch werden und sich durch 
ihn erheben lielL Jetzt sollte der Mensch sich wieder zum 
Gottlichen erheben durch Besiegung des Stofflichen. So hat 
Schiller in seinen Dramen zu immer Hoherem gestrebt, bis 
das Physische immer mehr von ihm abfiel, bis das: «Weit 
hinter ihm in wesenlosem Scheine / lag, was uns alle ban- 
digt, das Gemeine», das ihm Goethe nachrief, voile Wahr- 



heit bei ihm geworden war. Nicht in verachtlichem, niede- 
rem Sinn hat hier Goethe dieses Wort «gemein» gebraucht; 
das allgemein Menschliche, die gewohnliche Art des Men- 
schen ist hier gemeint, uber die sich Schiller erhoben hatte. 
So hat Schiller als ein echter Geisterseher sich emporgeho- 
ben zur Anschauung des Geistigen. 

Er soil als ein Vorbild vor uns stehen. Nur das sollte der 
Zweck dieser Vortrage sein, soweit dies in so wenigen Stun- 
den moglich war, diese ringende Seele Schillers zu verfol- 
gen, wie sie sich emporhebt zu immer erhohter geistiger 
Anschauung, das Geistige zu erfassen suchend, um es einzu- 
pragen in das Sinnliche. In diesem Ringen erkennt man 
Schiller, indem sich bei ihm personlich wahrhaft Goethes 
Wort erfullt: 

Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, 
Der taglich sie erobern mufi. 

So hat sich Schiller emporgerungen zum Meister der 
asthetischen, geisterfullten Form. 



Ill 



ANHANG 



Diskussionen und Vortrage Rudolf Steiners 
im «Giordano Bruno-Bund fur einheitliche 
Weltanschauung» im Jahre 1902 



Referate von Mitgliedern des Giordano Bruno-Bundes 
in der Zeitschrift «Der Freidenker» 



«...Eine zweite Begriindung war der Giordano Bruno-Bund. Es 
sollten sich in demselben solche Personlichkeiten zusammenfin- 
den, die einer geistig-monistischen Weltanschauung sympathisch 
gegeniiberstanden. Es kam dabei auf die Betonung dessen an, daft 
es nicht zwei Weltprinzipien, Stoff und Geist, gebe, sondern dafi 
der Geist als Einheitsprinzip alles Sein bilde.» 

Rudolf Steiner, «Mein Lebensgang» 



DIE EINHEIT DER WELT 



Berlin, im Marz 1902 

Diskussion im «Giordano Bruno-Bund fur einheitliche 
Weltanschauung» mit Votum Rudolf Steiners 

Der Bruno-Bund hat den Zweck, einheitliche Weltanschauung zu 
fordern. Diese gilt ihm nicht als eine endgiiltig vollbrachte 
Leistung, sondern als eine Aufgabe, an deren Losung er forschend 
und belehrend, organisierend und anregend mitzuwirken sucht. 
Dabei kommt es ihm besonders darauf an, die verschiedenen 
Standpunkte zur Verstandigung und womoglich zu einigem Aus- 
gleich zu bringen. Auch insofern bemiiht er sich urn Einigung, als 
er Naturwissenschaft, Philosophic, Kunst und Andacht harmo- 
nisch zusammenschliefien mochte. Als eines der Mittel zu diesem 
Zwecke betrachtet der Bund neben grofieren offentlichen Vortra- 
gen auch die Diskussion iiber Fragen der Weltanschauung im en- 
geren Kreis sowie die Veroffentlichung solcher Bundesverhand- 
lungen durch den Druck. 

Der erste Versuch, planmafiig iiber einheitliche Weltanschau- 
ung zu verhandeln, fand im Marz 1902 statt. Zur Diskussion 
stand das Thema: «Was bedeutet einheitliche Weltanschauung ih- 
rem Begriffe und Werte nach?» Das einleitende Referat hatte der 
neue Schriftfuhrer des Bundes, Herr Dr. Hermann Friedmann, 
Ubernommen, wegen Erkrankung jedoch einstweilen nicht hal- 
ten konnen. Fiir ihn war freundlichst Herr Wolfgang Kirchbach 
eingesprungen, um seine eigenen Anschauungen improvisiert dar- 
zulegen. Nachdem der Bundesvorsitzende Dr. Bruno Wille auf 
den Zweck der Diskussionsabende hingewiesen hatte, sprach 
Fraulein Maria Holgers das ergreifende Gedicht von Holderlin 
«An die Natur». Alsdann nahm Wolfgang Kirchbach das Wort: 

«Der Herr Vorsitzende hat soeben betont, es sei eine ebenso 
schwierige als reizvolle und bedeutende Aufgabe, monistische 
Weltanschauung zu begriinden und ihr nachzustreben. Deshalb 
werde ich gleich heute bei unserer ersten Diskussion versuchen, 
Ihnen die ganze Schwierigkeit des Problems darzustellen, vor 



dem wir stehen. Dieser Hinweis auf die Schwierigkeit unserer 
Aufgabe soil aber nur ein rein akademischer sein. 

Formuliert ist der Satz, iiber den ich zu sprechen habe: Was be- 
deutet uns, oder vielmehr mir, <einheitliche Weltanschauung> ih- 
rem Begriffe und Werte nach? Ich will Ihnen in Kiirze das Pro- 
blem, wie es mich beriihrt, vorfuhren. Fur diejenigen, denen es 
noch unbekannt sein sollte, betone ich, dafi das Wort <einheitli- 
che Weltanschauung> hier nur eine Ubersetzung des Wortes <mo- 
nistisch> ist, welches die Verarbeitung aller Begriffs- und sonstigen 
Erkenntnis zu einer Weltanschauung vom Einheits-Wesen, vom 
Dasein der Welt in einer Einheit ausdriickt. Das Wort Einheits- 
Weltanschauung wiirde den Sinn wohl treffender bezeichnen. 

Wir konnen aber, wenn wir eine Einheits- Weltanschauung be- 
griinden, uns auch die Frage nicht versagen nach dem Wert einer 
solchen, nach den Gebieten, in denen sie von Wert sei und in die 
sie zerfalle. 

Auf dem Gebiete des <Kosmos>, wie man popularerweise die 
Natur in ihrer Gesetzmafiigkeit nennt, die Einheit aller Erschei- 
nungen zu suchen, wiirde die eine Seite eines einheitlichen For- 
schens und Denkens sein. Die Naturwissenschaft, wie sie augen- 
blicklich liegt, gibt aber demjenigen, der tiefer in sie eingedrungen 
ist, zur Zeit noch kein Recht, objektiv von einer Einheit im Kos- 
mos zu reden. Wir sind popularerweise gewohnt, dieses Weltgan- 
ze, quantitativ dargestellt, als Materie und in Verbindung damit 
den Begriff Kraft zu denken. Der Dualismus, der dieser Begriffs- 
verbindung anhangt, hat zu Versuchen gefuhrt, ihn in eine Ein- 
heit aufzulosen. Man sagte, Kraft ist eine Funktion, eine Aufie- 
rung der Materie und hatte so eine gewisse Einheit gewonnen, in- 
dem man sich die Materie als etwas Wesenhaft-Eines vorstellte. 
Auf eine ganz andere Weise hat die tatsachliche Naturwissen- 
schaft den Begriff Materie ausgebildet. Mit Hilfe ihrer analyti- 
schen Methoden hat sie immer mehr Elemente aus dem umgeben- 
den Kosmos herausgelost und hat so durch empirische Arbeit an 
Stelle einer monistischen Materie etwa siebzig verschiedene Ele- 
mente, das heifit Materien gefunden. So hat der Begriff <Materie> 
nur noch den Wert einer sprachlichen Abstraktion wie der Be- 
griff <Tier>. Es entspricht ihm kein reales Einzelwesen, sondern 
die Einheit dieser siebzig Elemente ist vorderhand nur eine 
Hypothese. 

Dasselbe finden wir in betreff des Begriffs Kraft seit Robert 



Mayers Entdeckung von der Einheit der Kraft und der Umwand- 
lungsfahigkeit der Energie. Sie stehen vor dem ungeheuren Rat- 
sel, daft die mechanische Kraft und vielleicht dieselbe Kraft, die 
den Erdball und die Sonne in dauernde Beziehung setzt und die 
Umdrehung der Gestirne bewirkt, daft vielleicht dieselbe Kraft, 
umgesetzt und verwandelt, jene Erscheinungen darstellt, welche 
uns zum Beispiel ein Gewitter vorfiihrt. Aber die Tatsache bleibt 
bestehen, daft diese Erscheinung der Elektrizitat doch anders sich 
auftert als etwa die Kraft, die einen Stein nach dem Mittelpunkt 
der Erde treibt. So hat denn die Wissenschaft noch nicht darge- 
legt, daft man eine Einheit der Natur in dem Sinne annehmen 
musse, als seien die verschiedenen Energieformen eins. Die unter- 
schiedlichen Phanomene sind eben noch nicht iiberbnickt; wir 
stehen auch hier erst vor Hypothesen. 

Dasselbe gilt von einer ganzen Reihe anderer Erscheinungen. 
So weifi man zum Beispiel nicht, wo man den hoheren Lebensbe- 
griff des Organischen von dem Begriff des Unorganischen abgren- 
zen soil. Die gesamte Naturerklarung ist dariiber in einem lebhaf- 
ten Streit begriffen. 

Da wir bei dieser Seite der Weltanschauung ankniipfen miissen 
an das Material, das uns die Naturwissenschaft liefert, miissen wir 
somit wohl zugeben: Objektiv ist die Einheit des Universums 
noch nicht als Tatsache nachgewiesen. 

Wie aber steht es mit der anderen Frage, die bei unserer Ge- 
samtfrage nach einer einheitlichen Weltanschauung zu behandeln 
ist? Es ist die Frage: Wie verhalt sich unser eigenes, auf Einheit 
ausgehendes Denken zu seinem Objekt, der Welt? Hier stehen 
wir vor einem scheinbaren Dualismus. Wir sehen: da ist etwas 
auften, und hier ist etwas, was dieses Auften in sich aufnimmt. Da 
haben wir zunachst eine Zweiheit. Wir fragen nun aber: Wie weit 
konnen und diirfen wir annehmen, daft die Funktionen unseres 
Gehirns, die Aussageformen, Kategorien unseres Geistes eine 
Einheit bilden mit der Welt? Die Tatsache, daft Sie alle Funktio- 
nen Ihres Geistes auf eine Einheit beziehen, konnte allenfalls dar- 
aus abgeleitet werden, daft Sie sie gemeinsam in Ihrem Korper lo- 
kalisieren. Zunachst ist die Tatigkeit, die Sie vollbringen, wenn 
Sie nach der Ursache forschen, die einen Stein dazu bringt, nach 
der Erde zu fallen, eine ganz andere, als wenn Sie fragen: Ist es un- 
ter den jetzt gegebenen Bedingungen moglich, daft dieser Fall ein- 
tritt? Es konnte ja sein, daft die von den verschiedenen Geistes- 



tatigkeken gelieferten Vorstellungen miteinander in Widerstreit 
treten und somit schon in Ihrem Inneren keine Einheit bestande. 
Eine weitere Frage ware, wie das einheklkhe Bild der Welt, das 
Sie in sich tragen, iibereinstimmt mk der objektiven Wirklich- 
keit. Wie weit wirken die Gesetze, die in meinem Geiste walten, 
auch in der aufieren Welt? Wir werden dabei zunachst dualistisch 
denken miissen. Diesen Dualismus in einen Monismus aufzulo- 
sen, ist allerdings ein hochster Trieb im Denken selbst; aber die 
Erkenntnistheorie stent hier vor einem grofien Problem. Die Be- 
schaftigung mit ihm ist seit Kant Pflicht fur jeden, der sich mit 
Fragen der Weltanschauung beschaftigt, 

Wir haben also beim Aufbau einer einheitlichen Weltanschau- 
ung zwei Operationen zu vollziehen, einmal auf empirischem 
Wege die unendliche Vielheit der Welt bis in ihre kleinsten Diffe- 
renzierungen zu verfolgen, und anderseits dabei immer unser 
Denken in erkenntnistheoretischem Sinne zu einem Monismus, 
zur Zusammenfassung jener Vielheit zur Einheit zu bilden. 

Bei der Bearbeitung des Materials in dieser Richtung wiirden 
uns bald nicht mindergewichtige Schwierigkeiten aufstofien auf 
ethischem Gebiet. Es wiirde bald die Frage vor uns entstehen, 
wieweit konnen wir das sittliche Leben im Menschen selbst und 
die Vorgange im Kosmos unter dem Gesichtspunkte einheitlicher 
sittlicher Gesetze beurteilen. Denn wir konnen keinen Vorgang 
dieser Welt auf uns wirken lassen, ohne ihn zugleich ethisch zu 
verarbeiten. Die Freude am Kosmos, die Betrachtung der Harmo- 
nie in der unendlichen Vielheit ist zugleich eine sittliche Ausein- 
andersetzung. Es wiirde sich also fragen: Konnen wir zu einem 
Monismus im ethischen Denken selbst kommen und ihn mit der 
ubrigen monistischen Betrachtung verbinden? - Damit tritt zu- 
gleich die Frage an uns: Konnte unser sittliches Gefuhl nicht auch 
durch eine anderweitige Betrachtung Befriedigung finderi? Wes- 
halb halt zum Beispiel der kirchlich denkende Christ seine Lehre, 
die nur einen Gott kennt, fur so etwas unendlich Hoheres gegen- 
iiber dem Heidentum, das mehrere Gottheiten hat? Und wie ist 
der Christ gleichwohl zu einem Dualismus, ja zur Annahme einer 
noch grofieren Vielheit in der iibernatiirlichen Welt gekommen? 

Ergaben die wissenschaftlichen Betrachtungen den Beweis fur 
einen Dualismus, so miilken wir uns damit befriedigt erklaren. 
Einen Monismus zu etablieren, nur um monistisch zu sein, ware 
wertlos. Aber wir haben im Geiste ein Monon, ein Wesen der 



Dinge selbst, nach dem wir den Wert aller unserer Anschauungen 
messen konnen: das Wahre, die Wahrheit. Es gibt fiir jede einzel- 
ne Wissenschaft, fiir jedes Erkennen nur die eine dauernde Bewer- 
tung, dafi ihre Aussagen wahr sind, das heifit, mit den objektiven 
Vorgangen iibereinstimmen. Auch fiir eine Weltanschauung 
kann nur diese Wertung zutreffend sein. Nur wenn eine monisti- 
sche Erklarungsweise in alien objektiven Verhaltnissen wie in un- 
serem subjektiven Wirken, in alien Manifestationen der Verschie- 
denartigkeit des Lebens sich als wahr bewahrte, ware sie wertvoll; 
nichts anderes konnte ich als Kriterium des Wertes dieser Weltan- 
schauung ansehen. Dieses Monon der Wahrheit, die nie unwahr 
werden kann, ist bis jetzt die einzig erkennbare ewige Einheit, zu 
der die objektiven Erscheinungen in ihrer Vielheit und Vergang- 
lichkeit mit dem Geiste zusammen wirken. » 

Nach diesen Worten Kirchbachs erhob sich Herr Dr. 
Rudolf Steiner zu folgenden Ausfiihrungen: 

«Ich mochte mich streng an die Frage halten: Was bedeu- 
tet einheitliche Weltanschauung ihrem Begriffe und Werte 
nach? Ich stehe dabei in geradem Gegensatz zu meinem 
Herrn Vorredner. Wenn ich mir die Frage vorlege: Sind 
wir vom Standpunkt unserer modernen Natur- und Geistes- 
wissenschaft berechtigt, die Welt fur eine Einheit zu hal- 
ten, so mufi ich sagen, wir sind es, wir sind jedenfalls in die 
Notwendigkeit versetzt, danach zu suchen. Gegenuber der 
Mannigfaltigkeit, in die uns ohne Zweifel die Spezialisie- 
rung der Wissenschaften gefiihrt hat, frage ich: Worin ha- 
ben wir die Einheit zu suchen? Von vornherein zu sagen, 
dieses oder jenes musse als Einheit vorerst nachgewiesen 
werden, erscheint mir als iibertriebene Forderung einer ex- 
tremen Erkenntnistheorie. Fiir mich ist das Streben nach 
einheitlicher Weltanschauung schon darin berechtigt, dafi 
es einfach ein unausloschliches Bedurfnis des menschlichen 
Geistes ist, das zu alien Zeiten vorhanden war, deutlicher 
vielleicht in den vorchristlichen Zeiten, als es noch nicht 
zuriickgedrangt war von den Dogmen und Anschauungen 



der Kirche, gegen die anzukampfen vor allem die Pflicht 
eines Bundes ist, der an Giordano Bruno ankmipfen will. 

Indessen finde ich, dafi auch die Ergebnisse der Naturwis- 
senschaften diesem Bedurfnisse entgegenkommen. Zwar 
hat die Chemie siebzig Elemente gefunden und wird diese 
Mannigfaltigkeit vielleicht noch vermehren; zugleich aber 
etwas ganz Besonderes dazu: Zwischen diesen Elementen 
hat sie zum Beispiel hinsichtlich des Atomgewichtes be- 
stimmte Verhaltnisse gefunden, nach denen sich eine Skala 
der Elemente aufbauen lalk, die zugleich eine Gliederung 
dieser Elemente nach ihren akustischen, optischen und an- 
deren physischen Eigenschaften ist. Man hat aus einem 
Zwischenraum in dieser Skala auf fehlende Elemente ge- 
schlossen, ihre Eigenschaften zum Teil vorhergesagt und 
sie hinterher tatsachlich entdeckt. So stellen die phenome- 
nal allerdings verschiedenen Elemente dennoch eine grofte 
Einheit dar, die wir mit der Rechnung verfolgen konnen. 

Allerdings ist der Chemiker gezwungen, die Einheit an- 
derswo zu suchen als in dem brutalen Begriff einer wesens- 
einheitlichen Materie, namlich in einem System gesetzma- 
ftiger Beziehungen. Professor Ostwald hat sich auf einem 
Naturforscherkongrefi in dieser Richtung ausgesprochen. 
Auch ist neuerdings eine Zeitschrift gegriindet worden zur 
Weiterbildung des veralteten Materialismus in diesem 
neuen naturphilosophischen Sinne. So stehen wir denn vor 
einem neuen Weltbild, das wir zwar noch nicht abschlie- 
fkn konnen, zu dem uns aber eine Perspektive eroffnet ist, 
und zwar eine Perspektive zur Einhek. 

So steht es auch mit der Einheitlichkeit der Kraft. Dem 
Phanomene nach werden wir Elektrizitat wohl niemals zu- 
riickfuhren konnen auf reine Gravitation, aber in der ma- 
thematischen Formel, nach der wir sie berechnen und um- 
rechnen, haben wir etwas Reales, Grundlegendes; und so- 



mit ist uns auch zur Einheit der Kraft eine Perspektive 
eroffnet. 

Ohne mich genau auf den Standpunkt von Goethes Me- 
tamorphosenlehre stellen zu wollen, der auf organischem 
Gebiete zum ersten Male ein Einheitsprinzip suchte, meine 
ich doch, dafi auch sie einen bedeutenden Schritt zur ein- 
heitlichen Weltanschauung darstellt. Hinzu kommt das 
biogenetische Grundgesetz, wonach jedes Wesen bei sei- 
nem embryonalen Bildungsgange die Formen der Wesens- 
arten noch einmal durchlauft, von denen es abstammt. 
Seitdem es vollends gelungen ist, organische Stoffe im 
Laboratorium herzustellen, ist uns auch hier eine freie 
Aussicht auf Einheit geboten. 

Wenn man nicht die Einheit geradezu im Phanomenalen 
verlangen will, so zeigt uns diese Perspektive, wo wir das 
Monon zu suchen haben. Und immer deutlicher enthiillt 
sich, was fur alle grofien Philosophen keinen Zweifel hatte: 
Dafi das, was wir in der Aufienwelt erleben, sich als gleich- 
bedeutend darstellt mit dem, was wir im Geiste erfahren. 
Wenn wir von der aufieren zur inneren Erfahrung fort- 
schreiten, werden wir ein einheitliches Weltbild zustande 
bringen. Fur einen nach Einheit Suchenden sind die letzten 
Jahrzehnte der Wissenschaft recht trostreich, denn aus 
alien Gebieten stromen ihm Elemente zu, die ihm einheit- 
liche Weltanschauung eroffnen. 

Ihr Wert besteht darin, dafi sie einem geistigen Bediirfnis- 
se geniigt, das ebenso notwendig wie Luft und Licht zum 
Gliick eines Geistes gehort, der dieses Bediirfnis in sich aus- 
bildet.» 

Herr Kirchbach replizierte in folgendem Sinne: «Zu der Frage: 
Wie kommen wir zu einheitlicher Weltanschauung und wie stel- 
len wir sie uns vor? - hat Herr Dr. Steiner viele Anregungen ge- 
geben, mit denen ich durchaus einverstanden bin. Doch kann 



man in einzelnen Punkten streiten. So ist die vom Herrn Vorred- 
ner erwahnte Lehre Goethes von der Metamorphose der Pflanzen 
ein Beispiel dafur, wie selbst ein so grofier Geist glauben konnte, 
eine Einheitssache gefunden zu haben in einem Punkt, der sich 
spater als fraglich darstellte. Goethe glaubte, im Chlorophyllblatt 
walte dasselbe morphologische Prinzip wie im Stengel, und er sah 
das Prinzip der Blatter in der Gestalt der Blumenblatter und in 
dem Pistille wiederkehren, so daft ihm alle Teile der Pflanze nur 
Modifikationen eines und desselben morphologischen Gestal- 
tungsprinzips waren. Dagegen ist es Tatsache, dafi bei der Rose 
das Stengelblatt nur einen mittleren Kanal hat, wahrend das Blu- 
tenblatt deren drei besitzt, also besteht doch ein fundamentaler 
Unterschied im morphologischen Aufbau der Rose, ebenso wie 
ein chemischer zugrunde liegt. 

Die neuere Zellentheorie sucht ja auch die Einheit auf einem 
ganz anderen Gebiete als in dieser Scheinmorphologie. Hier ist 
die Zelle das Bildungsprinzip und bringt den Gesamtaufbau 
durch die Summe aller Faktoren hervor, denen sie unterworfen 
ist. Vielleicht wird es ahnlich gehen mit manchen Begriffen des 
Darwinismus. 

Ich habe das Beispiel herangezogen, um zu zeigen, wie schwie- 
rig das Suchen einer Einheit selbst auf natiirlichem Gebiet ist, 
weil wir erst die Phanomene richtig der blofien Anschauung nach 
gruppieren lernen miissen, ehe wir auf ihre Wesens-Einheit durch 
mathematische oder sonstige logische Vermittlung schliefien 
d\irfen.» 

Dr. Bruno Wille: «Sie haben soeben zwei Vertreter von Weltan- 
schauungen gehort, die, wie ich meine, abgesehen von einzelnen 
Differenzpunkten, in den Grundziigen doch iibereinstimmen. Es 
ist zunachst auf gewisse Schwierigkeiten hingewiesen worden, die 
der Ausbildung einer einheitlichen Weltanschauung scheinbar im 
Wege stehen. Allerdings erleben wir die Natur zunachst als eine 
Vielheit, als eine ungeheure Menge von verschiedenen Empfin- 
dungen. Erst wenn wir diese Mannigfaltigkeit im Einhek suchen- 
den Geiste vergleichen und die Unterschiede teils uberbriicken, 
teils auflosen, konnen wir einer einheitlichen Weltanschauung 
naherkommen. 

Solche Einheit zu suchen ist in der Tat, wie Dr. Steiner sagt, ein 
allgemein menschliches Bedurfnis; zunachst ein logisches Bediirf- 
nis. Unser Erkenntnisapparat, der die Welt begreifen mochte, hat 



die Tendenz, alles Vielfache zur Einheit zusammenzudenken. So 
sehen wir an den Baumen unserer markischen Walder trotz aller 
Verschiedenheit eine gewisse Gemeinsamkeit und schliefien sie 
zum Beispiel in dem Begriffe <Kiefer> zu einer Einheit zusammen. 
Die Kiefern wiederum ordnen wir mit den Birken, Eichen und 
Espen, mit den Heidelbeeren, Farnen und Moosen zu einer noch 
hoheren Einheit, zum Begriffe <Pflanze> zusammen. Vergleichen 
wir eine Pflanze mit uns selbst, so ist hier wieder eine Einheit vor- 
handen; wir haben es mit organischen Lebewesen zu tun. So ist 
unser Denken bestandig auf der Suche nach ubergeordneten Zu- 
sammenschliissen und Zusammenhangen. Hier entsteht nun frei- 
lich die bedeutsame Frage der Erkenntnistheorie: Entspricht un- 
serem Denken die von uns unabhangige Welt? Ist die Einheit der 
Natur mehr als ein blofi subjektives, intellektuales Erlebnis? Die 
Antwort ist hochst verwickelt. Heute begniige ich mich mit 
einem einfachen <Ja>, indem ich noch bemerke: Ich suche den Mo- 
nismus auch darin, dafi ich, anders wie Kant, Subjekt und Objekt, 
Geist und Natur als eine untrennbare Einheit auffasse und wie die 
mittelalterlichen <Realisten> im Begriffe eine wirkliche, nicht blofi 
namentliche Identitat sehe. 

Auch fur unser sittliches Streben kann der Zweifel iiber das sitt- 
lich Wahre, das Rechte und Heilsame nur beseitigt werden, wenn 
wir aus einer hochsten Einheit heraus die einzelnen sittlichen 
Ideen ableiten konnen. Gabe es zwei oder mehrere Weltprinzi- 
pien, die in absolutem Gegensatz standen, so wiirden sich auch 
widerspruchsvolle Grundsatze fur unser sittliches Leben daraus 
ableiten lassen; und iiberhaupt auf alien Gebieten unseres Lebens 
gerieten wir in heillose Widersprikhe. Also unser ganzer Idealis- 
mus weist uns auf den Monismus hin, auf das Suchen nach dem 
ewig Einen. 

Worin wir das Eine in der mannigfaltig erscheinenden Welt zu 
suchen haben, dariiber gibt die Naturwissenschaft freilich noch 
nicht klipp und klar Antwort; aber die grofiartig entfaltete Natur- 
wissenschaft des vorigen Jahrhunderts war, wie Dr. Steiner sehr 
richtig betonte, so fruchtbar auch fur die Sache der einheitlichen 
Weltanschauung, dafi der monistische Philosoph nicht unterlas- 
sen darf, den vollen Nutzen aus diesen Fruchten zu ziehen. Aller- 
dings sollte ebensowenig der Naturforscher verachtlich auf die 
jahrtausendalte Arbeit der Philosophic blicken, vielmehr die von 
philosophischer Seite erhobenen Zweifel ernst nehmen und zu 



beantworten suchen. Es freut mich, dafi Herr Dr. Steiner aner- 
kannt hat, der alte Materialismus sei unhaltbar geworden. Diese 
Einsicht ist eine Frucht der philosophischen Kritik. Und so geho- 
ren Philosophic und Naturwissenschaft zusammen als Betrach- 
tungsweisen, die einander erganzen. 

Zur Erganzung der naturwissenschaftlichen Tatsachen, in de- 
nen Herr Dr. Steiner mit Recht wichtige Momente des Monismus 
erblickt, mochte ich noch auf folgende Seiten meiner einheitli- 
chen Weltanschauung hinweisen. Ich mochte vor allem betonen, 
dafi wir ein umfassendes Naturgesetz in samtlichen Weltvorgan- 
gen und Erscheinungen vorfinden, fur das wir noch niemals eine 
Ausnahme haben feststellen konnen: das Gesetz der Kausalitat. 
Es ist eine Tatsache, dafi jeder Vorgang denknotwendig aus einem 
anderen folgt, den wir die Ursache des folgenden nennen konnen. 
Ich meine nun, Ursache und Wirkung bedeutet in dieser Verbin- 
dung nichts als das, was wir Entwicklung nennen. Das Hervorge- 
hen der Wirkung aus dem System ihrer Bedingungen konnen wir 
namlich als die Fortentwicklung der Ursache auffassen. Das Ge- 
setz der Kausalitat also durchzieht samtliche Weltvorgange, fur 
die wir wiederum besondere Regeln, die speziellen Naturgesetze 
feststellen konnen. Nach solchen <ewigen, ehernen, grofien Ge- 
setzen> schliefit sich fur uns die Welt zur Einheit zusammen, im 
Gegensatz zu der dualistischen Weltanschauung, die Wunder, 
also Ausnahmen von den Naturgesetzen zugesteht, die sie ohne 
<hohern Ratschlufi>, das heifit ohne Gestandnis der menschlichen 
Unwissenheit, nicht plausibel machen kann. 

Eine weitere Einheit der Welt finde ich in der Tatsache, dafi al- 
les, was ich vom Universum kenne, ein Erlebnis ist, entweder ein 
Erlebnis fur mich oder ein Erlebnis fur andere Wesen, sowie ein 
Selbsterlebnis. Wenn man darunter nicht nur das Ideenerlebnis 
versteht, womit man sich der idealistischen Anschauung nahern 
wiirde, die eben nur die Idee als das Reale der Welt betrachtet, so 
meine ich, konnen wir uns alle auf diesen Satz einigen; denn nie- 
mand wiirde wohl nachweisen konnen, es gebe ein Dasein, das 
nicht Erlebnis ware. In diesem Grundsatze meiner Weltanschau- 
ung habe ich den Ausgleich bedeutender Gegensatze gewonnen, 
die jedem einseitig materialistischen oder mechanistischen Monis- 
mus bedenklich werden. So habe ich den Gegensatz von Materie 
und Geist iiberwunden, die ich einige, indem ich alles Physische 
als Erlebnis auffasse, freilich nicht etwa als blofies Phanomen fur 



unsere Sinne, sondern als eine Art, in der sich das ewig Eine 
erlebt. - Uberhaupt leugnet mein Monismus alle absoluten Ge- 
gensatze. Der Tod bedeutet fur mich eine andere Seite des Lebens. 
Das Entstehen des Organischen aus dem Unorganischen kann kh 
mir nur vorstellen, wenn kein absoluter Gegensatz zwischen bei- 
den Naturreichen besteht. Im sittlichen Leben betrachte ich das 
Bose nur als eine unreife Form, eine niedere Stufe des Guten; also 
kein absolut, nur ein relativ Boses lasse ich gelten. So ist auch der 
Irrtum nur eine unreife Wahrheit, eine bestimmte Entwicklungs- 
stufe auf dem Wege zur Erkenntnis. 

Ich suche einheitliche Weltanschauung, wie Sie sehen, auch in 
der Weise, dafi ich eine subjektive Einheit, eine Einheit zwischen 
meinen verschiedenen geistigen Bestrebungen, meinen mannigfal- 
tigen Erlebnissen und Personlichkeitskraften erstrebe. Uberwun- 
den ist fur mich der Gegensatz zwischen Kopf und Herz, Gemiit 
und Verstand, zwischen wahrer Religiositat und wissenschaft- 
licher Erkenntnis, wie auch die Meinung, dafi die Kunst nur eine 
Illusion, eine holde Tauschung sei, die der kiihlen Einsicht im 
Wege stehe. So habe ich denn schon bei der Griindung unseres 
Bundes betont, man solle bei der Pflege einheitlicher Weltan- 
schauung den Menschen anleken, in seinem Innenleben die zer- 
reifienden Feindseligkeiten zur Harmonie zu gestalten - zu einer 
Versohnung; nicht freilich zu einer Versohnungsduselei, sondern 
zur klaren Einheit seiner hochsten Geistesbetatigungen.» 

Wolfgang Kirchbach: «Zum Beschlufi dieser Diskussion mochte 
ich Sie bitten, die Unterhaltung, die zwischen den drei Herren ge- 
fiihrt worden ist, zu betrachten als die Vorrede zu den Diskussio- 
nen, die weiter folgen. Bei den bevorstehenden Unterredungen 
werden wir vielleicht davon absehen, sie in dieser allgemeinen 
Weise weiterzufiihren. Es sind Linien beschrieben worden, an de- 
nen ein innerer Konsensus verfolgt werden kann. Wir wollen in 
den nachsten Diskussionen konkrete Fragen herausnehmen. Alle 
Redner sind ja darin einig, eine einheitliche Weltanschauung sei 
ein unabweisbares Bediirfnis. So hatten wir denn hauptsachlich 
nur die Aufgabe, festzustellen, wie weit diese Bestrebungen ge- 
kommen sind, und hatten die Frage auf bestimmte Punkte zu be- 
schranken. Ich mochte dariiber noch keine naheren Angaben 
machen und so den Roman mit einem <Fortsetzung folgt> fur heu- 
te beschliefien, damit Sie begierig sind: <Wie wird das weiter- 
gehen?»> 



WAHRHEIT UND WISSENSCHAFT 



Berlin, 7. Mai 1902 

Einleitendes Referat Rudolf Steiners: 
«Vor welchem Forum kann uber <einheitliche Weltanschauung) 
entschieden werden? - Versuch einer Antwort auf die Frage 
nach <Wahrheit und Wissenschaft»>; anschliefiend Diskussion. 



Dr. Rudolf Steiner, als Referent: Angeregt worden bin ich 
zu unserer Fragestellung «Vor welchem Forum mufi ein- 
heitliche Weltanschauung entschieden werden» einmal 
durch die friiheren Diskussionen unseres Bundes, der ja 
monistische Weltanschauung pflegen will, und auch durch 
meine personliche Beteiligung an dem Streit um Haeckels 
«Weltratsel». Hier im Bunde wurden oft die Fragen erwo- 
gen: Was ist das Wesen einer einheitlichen Weltanschau- 
ung, worin besteht ihr Wert, haben wir eigentlich das 
Recht, von einer speziell monistischen zu sprechen? Es 
wurde einmal betont, dafi wir nach dem heutigen Stand- 
punkt der Wissenschaft kein Recht haben, von einer Ein- 
heit in stofflicher Beziehung zu sprechen, und ein andermal 
von Dr. Penzig ausgefuhrt, dafi beim Streben nach einem 
einheitlichen, die ganze Natur und Geisteswelt umfassen- 
den Weltbilde man gar nicht anders konne, als das objektiv 
von der Einzelwissenschaft gegebene Bild falschend abzu- 
runden, also den Tatsachen Gewalt anzutun. Ich habe 
schon damals bemerkt, dafi von solchen vermeintlichen 
Falschungen oft die grolken Fortschritte ausgegangen sind. 
So war das Kopernikanische Weltsystem fur seine Zeit eine 
«Falschung» der vorliegenden Tatsachen, wie die Lamarck- 
Darwinsche Entwickelungstherorie nichts weiter ist. Wie 



Tycbo de Brahe das fur seine Zeit einzig mogliche Weltbild 
gab, so ist es dem Tatsachenfanatiker, der mit seinem Den- 
ken nicht uber die objektiv gebotenen Tatsachen hinausge- 
hen will, leicht, die «Falschungen» nachzuweisen, die die 
Lamarck-Haeckelsche Entwickelungstheorie nach dem 
heutigen Stande der Wissenschaft enthalt. Trotzdem glaube 
ich, wird wie Kopernikus Haeckel Recht behalten. Ich bin 
seinerzeit mit aller Entschiedenheit fur die viel umstritte- 
nen «Weltratsel» eingetreten, weil ich die Konsequenz und 
aufierste Kiihnheit bewunderte, mit der ein Geist von 
einem einseitigen Standpunkte aus ein Weltbild entwirft 
und «falscht». Obwohl meine philosophischen Grundan- 
schauungen ihm nur entgegengesetzt sind in dem, was er 
darin bekampft und ihm beistimmen in dem, was er Positi- 
ves gibt. Zugleich wurde ich aber unter Heranziehung frii- 
herer Schriften als ein Hauptgegner Haeckels bezekhnet, 
eine Erfahrung, die mir symptomatisch scheint fur unsere 
Zeit, insofern im Kopf eines anderen die Vorstellungswelt 
des Autors ein ganz anderes Bild annimmt. Wir fuhren 
eben mit unseren Begriffen, nach ihrer sonstigen Stellung 
im Geistesleben, Vorstellungen ins Feld, die etwas anderes 
besagen, als wir ausdriicken wollen. 

Bei diesen Auseinandersetzungen uber Haeckel und in 
den Diskussionen des Bundes ist mir eine Frage wieder le- 
bendig geworden, die ich mir schon oft vorlegte: Wie ver- 
halt sich Wahrheit zur Wissenschaft? Enthalt die Wissen- 
schaft Wahrheit, enthalt sie irgendwelche Momente, die 
zum Aufbau einer einheitlichen Weltanschauung fuhren 
konnten? Haben wir das Recht, aus der Wissenschaft her- 
aus eine einheitliche Weltanschauung oder iiberhaupt eine 
Weltanschauung aufbauen zu wollen? 

Bei dieser Frage, die schon Jahrhunderte beschaftigt hat, 
die ihrer Losung naher waren als die Neuzeit, die sich den 



Weg der Losung durch die sogenannte Erkenntnistheorie 
verbaut hat, mufi man sich klar werden, vor welchem Fo- 
rum tiberhaupt etwas ausgemacht werden kann in bezug 
auf Wahrheit und Wissenschaft, in bezug auf Wahrheits- 
gehalt der Wissenschaft. 

Heutzutage haben wir nach der ganzen Entwickelung des 
19. Jahrhunderts von der Wahrheit etwa die Vorstellung, 
dafi sie mit der objektiv vorliegenden Wirklichkeit iiberein- 
stimmen miisse. Wir befinden uns in einem intensiven Tat- 
sachenfanatismus, der uns nicht gestattet, irgendeinen 
Schritt uber die Registrierung hinauszugehen. Wenn Wahr- 
heit nur eine begriffliche Wiederholung dessen ist, was 
aufier uns vorhanden ist, so ist nach Empfindung derjeni- 
gen, die heute nach Weltanschauung streben, diese auch 
nichts anderes, als ein Gegenbild aufier uns vorhandener 
Tatsachen, der aulkr uns in der Welt fertigen Wirklichkeit. 
Wenn es gelange, von irgendeiner Ecke in moglichst gunsti- 
ger Perspektive eine Photographie der Welt zu machen, so 
ware das Ideal eines Weltbildes erreicht. Eine solche Welt- 
anschauung aufzubauen ware aber tatsachlich uberfliissig, 
ein blofter Luxus des Menschengeistes, wenn sie, wie die 
Wissenschaft, nichts anderes sein soil als eine blofte Wieder- 
holung, eine Art photographisches Gegenbild dessen, was 
in der Welt vorgeht, was abgeschlossen vorliegt. Dafi der 
Einzelne sich noch ein individuelles Gegenbild neben der 
Wissenschaft bildet, ware vollkommen entbehrlich, fur den 
ganzen Weltzusammenhang unendlich gleichgultig. Wenn 
die Natur alles bis auf den Schlufipunkt fur uns besorgt und 
ausgebildet hat, so gehort das nicht zur Wirklichkeit, was 
der Menschengeist traumt und schafft. Fur diesen Stand- 
punkt, der in grotesker Weise in der heutigen Wissenschaft 
auch in Haeckels «Weltratsel» hervortritt, ist der Mensch 
nichts anderes als ein blofies Staubkorn im Kosmos, das 



sich blofi quantitativ unterscheidet von dem Wurm. Macht 
er sich ein Weltbild, so lebt er ein Luxusleben, tut etwas, 
was nicht das Geringste hinzubringt zur Weltentwicke- 
lung. Vielmehr wird gefordert, daft er niemals etwas aus 
dem eigenen Geiste Genommenes, was in der ubrigen Na- 
tur nicht gefunden wird, zubringen diirfe, sondern nur re- 
gistrieren, vergleichen, logisch verkniipfen. 

Wir fragen: Stimmt dies Verfahren, bloft logisch der ob- 
jektiven Natur gegeniiberzutreten, niemals etwas iiber den 
derzeitigen Stand der Verhaltnisse Hinausgehendes hinzu- 
zufugen, iiberein mit dem Gange der Wesenheiten der Na- 
tur; liegt nicht vielleicht in der Entwickelungsrichtung der 
Natur etwas, das uns zwingt, irgend etwas der Wirklichkeit 
hinzuzufugen? Die Ant wort gibt die Natur uns selbst. Be- 
sonders solle sie sie dem Entwickelungstheoretiker geben. 

Gestatten Sie mir, um Ihnen dies in pragnanter Weise 
darzulegen, die Annahme, die Natur befande sich in dem 
Stadium ihrer Entwickelung, daft es nur Affen und keine 
Menschen gegeben hatte, die Affen hatten nachgeforscht 
iiber die Erscheinungen der Welt, sie hatten gefunden, was 
unter ihnen liegt, und noch Affen dazu. Hatten sie sich auf 
den empirischen Standpunkt gestellt, so hatten sie sich bei 
der Erkenntnis beruhigt: die Welt schlieftt mit den Affen 
ab. Sie hatten vielleicht eine Affenethik gegriindet auf 
Grund der allgemeinen Affenempfindung, so daft hier zu 
der Welt nichts Neues hinzugetan worden und sie auf ih- 
rem Standpunkt stehen geblieben ware. Doch von unserem 
Standpunkte der Erkenntnis wissen wir, daft im Entwicke- 
lungsprinzip allerdings etwas vorhanden war, was iiber die 
Affengattung hinausgeleitet hat, das, weil es ein produkti- 
ves Prinzip war, weil es iiber dasjenige, was als abgeschlos- 
sene Wirklichkeit vorlag, hinauswies, zur Menschenbil- 
dung gefiihrt hat, etwas, das sich nicht auf das Tatsachliche 



beschrankte, was, gleichsam als reale Phantasie, reale Intui- 
tion in der Natur vorhanden, diese iiber ihre einzelnen Sta- 
dien hinwegfuhrt und iiber die unmittelbare Gegenwart 
hinaushebt. 

Auch der Mensch als Produkt der Entwickelung, als We- 
sen in der Natur, ist da, um der Entwickelung zu leben, 
nicht blofl, um zuriickschauend sich ein Bild der Entwicke- 
lung zu machen und sich als den Schlufipunkt der Reihe zu 
betrachten. Eine Weltanschauung, die den Inhalt seines 
ganzen Denkens und Tuns zusammenfassen will, wird des- 
halb nicht blofS theoretisch-betrachtend, sondern auch 
praktisch-postulierend sein mussen. Der Mensch soil also 
nicht nur in irgendeiner Weise die Natur wiederholen, son- 
dern sehen, ob nicht in ihm Krafte liegen, die iiber das un- 
mittelbar Gegebene hinausfuhren. Er soli die Entwicke- 
lung geistig, ideell lebendig in sich machen, soil die Krafte 
suchen, die die Gattung weitertreiben, den Fortschritt her- 
vorbringen, nicht blofi seine Geisteskrafte danach untersu- 
chen, ob sie mit der Wirklichkeit ubereinstimmen. Die 
Frage «K6nnen wir zum Ding an sich dringen, in das We- 
sen der Welt hineinsehen» ist ein Unheil, ein Hemmnis fiir 
den Menschen. Aber wenn er sich in die Entwickelung 
stellt, eingreifend in die Natur, urn sie ein Stuck weiter- 
zufuhren, kommt er zu einem Gefuhl seiner erhabenen 
Aufgabe, seiner Stellung innerhalb der Welt. 

Es sind tatsachlich Ansatze zur Bildung dieses iiberwis- 
senschaftlichen Standpunktes vorhanden, der die Wissen- 
schaft durchaus gelten laftt, aber sich iiber das erhebt, was 
die Wissenschaft ihm als Gesetzmafiigkeit des logischen 
Gedankens bietet. Maeterlinck ist zum Beispiel mit ahnli- 
chen Anschauungen hervorgetreten in einem seiner neue- 
ren Biicher, in dem er die Hochzeit der Bienen schildert. 
Man fragt: Konnen wir von Wahrheit im Sinne wissen- 



schaftlicher Wahrheit, von Ubereinstimmung mit der vor- 
liegenden Wirklichkeit, die sich immer im materiellen 
Kleinkram befindet, reden, wenn sie Inhalt einer Weltan- 
schauung sein soli, oder fiihrt sie als Weltanschauungs- 
wahrheit in ahnlicher Weise iiber die rein objektive Wahr- 
heit hinaus, wie die dichterische Wahrheit nach Anschau- 
ung derjenigen, die sie im Goetheschen Sinne auffassen, 
iiber die unmittelbare naturalistische Wahrheit hinaus- 
fuhrt? 

Solche Ansatze sind in heutiger Zeit mehrfach zu finden 
zum Entzucken derer, die die Wahrheit im lebendigen Le- 
ben sehen, zum Greuel der Tatsachenfanatiker wie Tycho 
de Brahe oder der Gegner Haeckels. Doch gehort sie nicht 
vor deren Forum. Die Wahrheit, die befruchten will, wird 
immer ein Suchen sein, wird immer das Bild der Tatsachen- 
fanatiker «falschen» miissen; aber sie steht unendlich iiber 
dieser, indem sie etwas Intuitives, Geistiges im Menschen 
ausbildet, etwas Neues der Natur hinzufiigt, was nicht 
ware ohne den Menschengeist. Dadurch erhalt das, was der 
Mensch in seinen Traumen hegt, in seinem Geiste schafft, 
mehr als die Bedeutung eines blofien Luxus, erhalt kosmi- 
sche Wahrheit im Leben, als etwas, das der Mensch neu er- 
zeugt hat. So steigt er auf dem Unterbau der Wissenschaft 
empor zu produktiver Arbeit, die frei aus seiner Seele her- 
vorquillt als Originalintuition. Anschliefiend an die hoch- 
ste Stufe der Entwickelung hat er eine Aufgabe, die kein an- 
deres Wesen der Welt hat, fiigt er etwas hinzu, was ohne 
ihn ewig nicht vorhanden ware. 

Mogen diese Anschauungen dem reinen Naturforscher 
ein Greuel sein, ich hake es fur eine richtige Erkenntnis, 
dafi der Mensch ein Recht hat, produktiv in seiner Weltan- 
schauung zu sein, ein Gefuhl, das zu verschiedenen Zeiten 
lebendig war, als uns noch nicht Tatsachenfanatismus und 



Erkenntnistheorie Scheuklappen angelegt hatten, Zeiten, 
die von vornherein von dem kosmischen Charakter dieser 
Hinzufiigung iiberzeugt waren. 

Lassen Sie mich schliefien mit den Worten des Angelus 
Silesius, die die Erkenntnis der einzigartigen Bedeutung des 
Menschengeistes in der Welt ausdriicken: 

Ohn' mich konnt' Gott kein einzig Wurmlein schaffen; 
Wiird' ich zu nichts, miifit' es im Nichts zerkrachen. 

Schdfer, friiher Sprecher der freireligiosen und der humanisti- 
schen Gemeinde zu Berlin, beanstandet den Ausdruck «Fal- 
schung» fiir den Irrtum des Kopernikus. Wenn er anstatt einer 
Ellipsen- eine Kreisbewegung annahm, so sei das eine mangelhafte 
Anschauung, die wie viele ahnliche durch den fortschreitenden 
Menschengeist geklart worden, wie es denn immer das Los des 
Menschen sein werde, vor Unvollkommenheiten seiner Anschau- 
ungen stehenbleiben zu miissen, die erst spater gelost werden. 

Redner hatte das Thema heber gefafk gesehen: «Von welchem 
Forum, welchem Gerichtshof kann geurteilt werden iiber eine 
Weltanschauung, iiber Wahrheit und Unwahrheit, und damit 
iiber ihr Recht und Unrecht?» 

Dieses Forum kann nur die Personlichkeit, ihre Souveranitat 
sein. Aus dieser Stellung fliefit dann das Gefiihl der Verantwort- 
Hchkeit. 

Dr. Stern: «Eine Grundlage, die von Wichtigkeit ist fiir unsere 
Diskussion, lautet: Ist eine Weltanschauung, das heifit, eine allge- 
meine philosophische Anschauung vom wahren Wesen der Welt 
und alles Seienden iiberhaupt moglich? Diese Frage ist sehr ver- 
schieden beantwortet worden. Wahrend es einerseits fiir unbe- 
denklich gehalten wird, nach den gemachten Erfahrungen sich 
ein dogmatisches Weltbild zu verschaffen, so ist eine andere Mei- 
nung, zu der ich mich bekenne, der kritische Positivismus, der 
von wissenschaftlicher Erkenntnis ausgehend zwar nicht bei der 
einzelnen Tatsache stehenbleibt, es aber doch nicht fiir moglich 
halt, ein Bild des letzten Sachverhaltes, ein wahres Bild des Kos- 
mos zu gewinnen. 



Um die dogmatische Methode zu rechtfertigen, wird auf den 
metaphysischen Trieb hingewiesen, der unzweifelhaft im Men- 
schen existiert, schon im Kinde, das das Spielzeug zerbricht, um 
hinter den Kern der Sache zu kommen. 

Bei der Bildung metaphysischer Systeme zur Befriedigung die- 
ses Triebes haben sich aber zwei psychologische Fehler einge- 
schJichen: die griechische Philosophic griff einseitig einen der ver- 
schiedenen Teile des Weltalls heraus und machte ihn zum Sub- 
jekt, dem wahren Wesen der Natur. So Thales das Wasser. In 
neuerer Zeit ist man darauf verfallen, verschiedene psychologi- 
sche Fahigkeiten der Menschennatur einzeln ins Auge zu fassen 
und, phantastisch vergrofiert, der Natur als Wesenheit unterzu- 
schieben. So macht Hegel die Vernunft zum Weltprinzip, 
Schopenhauer den blinden Willen. Lotze nimmt ein umfassendes 
Bewufttsein an, das alle Wechselwirkung vermittelt. So ist die 
Philosophic gliicklich wieder da angelangt, wo sie ausging, im 
Hylozoismus. 

Ich hake es iiberhaupt fiir unmoglich, eine allgemeine, wahre 
und richtige Weltanschauung zu finden, einmal wegen der sub- 
jektiven Beschaffenheit des menschlichen Geistes, der alles und 
jedes durch eine subjektive Brille sieht und nach Kant das Ding 
an sich nie erkennen kann, anderseits aus dem objektiven Grun- 
de, daft alle unsere Forschung nur einen so kleinen Teil des Welt- 
alls umfaftt und es iiberhaupt unmoglich ist, daft jemals ein so 
grofier Teil des Geschehens in den Kreis unserer Erfahrung tritt, 
daft wir allgemein giiltige Schliisse auf die Gesamtwelt daraus 
ziehen konnen.» 

Benedikt Lachmann: «Dr. Steiner scheint mir einen Gegensatz 
zwischen Mensch und Natur aufzustellen. Das Wesen des Men- 
schen wie jeder anderen Existenzform laftt sich auflosen in ein 
Spiel von Kraften, von Bewegung und Widerstand, die zwecklos 
miteinander kampfen. Es kann sich fiir den Menschen nicht dar- 
ura handeln, sich iiber diese Krafte zu erheben, sondern er mufi 
suchen, so gut wie moglich mit ihnen sich auseinanderzusetzen.» 

Wolfgang Kirchbach: «Dr. Steiner hat gesagt, es sei eine Gefahr, 
ja eine Notwendigkeit des menschlichen Geistes, zu einer Fal- 
schung zu gelangen, wenn er sich nicht begniigen will, ein einfa- 
ches Abbild, einen Abklatsch der Wirklichkeit zu geben. Im Ge- 
gensatz dazu glaubte Baco von Verulam, ein richtiges Weltbild 



aufbauen zu konnen allein auf den perceptionibus sensuum, und 
das Kopernikanische System verwarf er, weil es seiner Vorstel- 
lung von den perceptiones widersprach. 

Es kommt doch bei der Feststellung der Wahrheit auf die 
Kenntnis an, die der Mensch iiberhaupt von seinen Kraften und 
Vermogen hat, die ihm zur Beurteilung der Wirklichkeit gegeben 
sind. Darunter gehort zum Beispiel auch die mathematische Beur- 
teilung, die die Wahrnehmungen korrigiert. Von einer Falschung 
kann man wohl nur in dem Sinne reden, dafi der Mensch einseitig 
auf die eine oder andere Fahigkeit verzichtet. Es hat doch auch 
Kopfe gegeben, die im Vollbesitz aller ihrer geistigen Fahigkeiten 
in einer gewissen Reife, die wir Vernunft nennen, dachten. Wenn 
Herr Schafer sagt, das Forum einer Weltanschauung sei die, Sou- 
veranitat meiner Personlichkeit, so meinte er sicherlich, dafi die- 
ses Forum der Gesamtbesitz der geistigen Krafte meiner Person- 
lichkeit sei, und wir konnen uns auf den Namen Vernunft einigen. 

Der Vernunftbegriff der Wahrheit fordert Ubereinstimmung 
des Urteils mit der Wirklichkeit fur jedes Denken, in Wissen- 
schaft wie Weltanschauung, verlangt nach Beobachtung, Wahr- 
nehmung, Korrektur der Wahrnehmung, den Begriff, den Aus- 
druck zu finden, der die grofite Summe der bekannten Tatsachen 
nach dem jeweiligen Stande der Erkenntnis ausdruckt, die grofite 
Zusammenstimmung unserer Urteile mit der Wirklichkeit aus- 
druckt. 

Dieser Weg allein macht Forschung und Phantasie produktiv, 
schiitzt sich vor Irrtum, der von der Wirklichkeit widerlegt, in- 
haltslos und unproduktiv ist. So allein ist es moglich, der Natur 
etwas produktiv hinzuzufugen. Auch wenn der Dichter uns ein 
Weltbild gibt, halten wir es fur besser, dafi er realistische Gestal- 
ten schafft, in seinem Werke ein gesellschaftliches oder sonstiges 
allgemeines Gesetz zu beobachten gibt. Sein Werk ist auch nur 
das Abbild der Wirklichkeit, aber allein das Auffinden des wirkli- 
chen innern Symbols ist eine eminent produktive Tatigkeit, wie 
in der Wissenschaft das Auffinden des zusammenfassenden, in sei- 
ner Anwendung fruchtbaren Oberbegriffs aus der Summe der 
entgegenstehenden und einschrankenden Data. 

Es bedarf allerdings einer produktiven Einbildungskraft, aber 
diese ebenso eines Regulators der Vernunft, eine Einschrankung 
der Phantasie durch die Wirklichkeit. 

Diese Methode hat durch Schaffung neuer Organe etwas zur 



Welt hinzugefiigt. Durch methodisch-verniinftige Betrachtung 
hat Kant auf sittlichem Gebiet dem, was wir hier gemeinhin Na- 
tur nennen, der Welt der Empfindung und Lustgefiihle, ein ganz 
neues Moment hinzugesellt, das weit iiber die empirische Natur 
hinausragt, den kategorischen Imperativ.» 

Dr. Sterner: «Ich mufi gestehen, dafi die Angriffe das, was 
ich heute gesprochen habe, gar nicht getroffen haben. Ich 
habe nicht von einem Gegensatz zwischen Mensch und Na- 
tur gesprochen. Ich habe mich vielmehr auf den konse- 
quentesten Standpunkt der Entwickelungstheorie gestellt, 
dafi ich alle Stufen der Natiirlichkeit, von den tiefsten bis 
hinauf zu den hdchsten Regungen des Geistes, als einheit- 
liche betrachte, die nur in verschiedenen Formen zum Vor- 
schein kommen. Aber eine Amobe ist schliefilich kein 
Mensch, und es handelt sich nicht darum, alle Unterschiede 
zu verwischen. Wenn ich aber sage, in der Natur ist alles 
nur Kraft, Widerstand, Bewegung, so erinnert das zu sehr 
an den Satz: In der Nacht sind alle Katzen grau. Es ist nicht 
so im Handumdrehen mit der Welt fertig zu werden. Erst 
wenn ich die Dinge unterschieden habe, kann ich nach 
einem einheitlichen, verbindenden Prinzip suchen. Im Sin- 
ne des verbindenden Entwickelungsprinzips habe ich von 
der Aufgabe des Menschen gesprochen als einer innerhalb 
der Natur liegenden, durch die Entwickelungstatsachen 
gegebenen. 

Daft wir uns an die Wirklichkeit halten miissen, wenn 
wir produktiv sein wollen, und an ihr unsere Phantasie 
korrigieren, darin stimme ich vollkommen bei. Ich fiihrte 
nur aus, daft die Bemuhungen, ein Weltbild zu geben, das 
nur ein Abklatsch der Wirklichkeit ist, wie Buchner will, 
diesen Anforderungen bisher nicht geniigten, und zum Bei- 
spiel auch dieser gezwungen ist, den Tatsachen Gewalt an- 
zutun. Man mufi hier nicht auf den Willen sehen, sondern 



auf das Resultat. Man benimmt sich so, als wenn man ein 
Bild des real Vorliegenden geben wolle, kann es aber nicht. 
Mein Prinzip ist daher nicht ein theoretisches, sondern ein 
praktisches Hinausgehen iiber die Wirklichkeit im Sinne, 
wie ich sie im Entwickelungsprinzip sehe, wo Geschopfe 
iiber ihre eigene Gattung hinausgehen. Diese Stellung des 
Problems ist in der Diskussion gar nicht beriihrt worden. 

Das Wort Falschung habe ich nicht im Sinne der Unvoll- 
kommenheit einer Vorstelhmg gebraucht, die erst spater 
geklart wird, sondern meinte, daft die Forscher immer um 
des Systems willen zu bewufk falscher Darstellung gezwun- 
gen werden, wenn sie eine umfassende Einheit suchen, und 
habe deshalb gefragt, ob iiberhaupt das, was wir im hoch- 
sten Sinne Wirklichkeit zu nennen berechtigt sind, sich mit 
dem deckt, was der Naturforscher sich unter Wirklichkeit 
denkt. Wenn Haeckel drei Stufen des embryonalen Entwik- 
kelungsstandes mit demselben Klischee abdruckt, so ist er, 
um den Beweis nach naturwissenschaftlicher Methode lie- 
fern zu konnen, zu einer Falschung gezwungen. Ich meine 
mit Ironie, dafi solche Falscher trotzdem Recht behalten, 
wie Haeckel gegeniiber seinen Gegnern, die am rein Tat- 
sachlichen der naturwissenschaftlichen Methode hangen, 
denn sie sehen in intuitiver Weise hinaus iiber die Einzeltat- 
sachen, nicht in phantastischer. 

Wenn aber Herr Dr. Stern die Moglichkeit eines Weltbil- 
des, einer Gesamtanschauung im Prinzip verwirft und da- 
bei die Verschiedenheit der philosophischen Systeme zur 
Unterstiitzung seiner Ansicht heranzieht, so ist das eine Fa- 
ble convenue, die auf unvollstandigen Vorstellungen von 
den einzelnen Systemen beruht. Die bedeutendsten Wahr- 
heitsversuche, die gemacht worden sind, von der Vedanta- 
philosophie durch die griechische bis zur deutschen, sind 
Annaherungen an die Wahrheit in verschiedenen Graden. 



Das Forum, vor dem die Berechtigung der einen oder der 
anderen Anschauungsweise entschieden wird, kann allein 
das Forum des Menschen, seine souverane Personlichkeit 
sein, wie ich mit Dr. Schafer iibereinstimmend meine. Die- 
ser Satz scheint mir ein wahrhaft reaier, der geflossen ist - 
nicht aus theoretischen Spintisierereien, sondern aus der 
Erfahrung von Mannern, die praktisch gewirkt haben. 
Aber so wahr es ist, daiS die Personlichkeit das letzte Fo- 
rum ist, so sicher ist es wahr, dafi dann die Personlichkeit 
immerdar die Verantwortlichkeit dieser Stellung fiihlen 
mufi und die Pflicht, sich stetig zu entwickeln, die Tiefen 
der Personlichkeit auszubilden. Das Kind kann nicht eben- 
so Forum sein wie der, der auf der Hohe der Erkenntnis 
steht. Es entsteht daher die Frage; Wo liegt in uns Men- 
schen das zu Entwickelnde, das Produktive? Was ent- 
spricht in uns dem, das die Natur vorwartstreibt, die Affen 
aus ihrer Gattung hinausgehen liefi und zum Menschen 
machte? 

Betrachte ich den Menschen als Entwickelungsprodukt, 
so kann ich ihn allerdings als das hochste vorhandene Fo- 
rum ansehen. Aber ich habe auch die Verpflichtung, das 
hochste Menschliche in mir immer zum Dasein zu rufen 
und habe in keinem Momente meines Lebens das Recht, 
mich als Forum in voller und letzter Instanz anzuerken- 
nen, wohl aber kann ich mich, als in der Entwickelung ste- 
hend, der Erwartung hingeben, da£ mir in jedem Augen- 
blick meines Daseins ein hoherer Punkt der Erkenntnis, als 
ich jetzt habe, aufgehen kann. Die Fortentwickelung der 
Personlichkeit hat sich auf der Wissenschaft aufzubauen, 
aber auch daruber hinauszugehen, wie Kunst und Poesie es 
tut, und so wenig Kunst und Poesie in blinde Phantasmen 
hineinkommen, wird, wenn die Menschen am Entwicke- 
lungsprinzip ihre Personlichkeit kontrollieren, wenn sie 



auch noch so weit hinausgehen iiber die objektive Natur, 
in den verschiedensten Menschen Ubereinstimmung ent- 
stehen, wie die Ubereinstimmung philosophischer Systeme 
aller Zeiten das zeigt. 

In dieser souveranen Bedeutung der menschlichen Per- 
sonlichkeit liegt die Losung der Frage: Inwiefern enthalt 
die Wissenschaft Wahrheit? Kann sie allein zur Wahrheit 
fuhren? 

Die Welt, besonders fur die Wissenschaft, ist in mancher 
Beziehung dualistisch gebaut. Die Entwickelung ist nur 
moglich, indem die Natur zwiespaltig das Kunftige in ihr 
vorbereitet hat. Als ein scheinbarer, fiir die Wissenschaft 
zunachst nicht auflosbarer Gegensatz tritt die Natur dem 
Menschen entgegen, als Kraft, Materie und so weiter. 

Hier tritt nun die Bedeutung der menschlichen Person- 
lichkeit ein. Vereinigend, monistisch, kann allein die Le- 
benstatigkeit des Menschen sein. Sie besteht im Auflosen 
dieser scheinbaren Gegensatze in eine hohere, produktiv 
aus dem Menschen erzeugte Anschauung, im Leben der 
Entwickelung, im Vereinen der Gegensatze, im lebendigen 
Tun. 

Deshalb ist die Frage nach Giiltigkeit der Weltanschau- 
ung vor dem Forum des Lebens, nicht vor dem Forum der 
Erkenntnis zu entscheiden.» 



MONISMUS UND THEOSOPHIE 



Berlin, 8. Oktober 1902 
Vortrag Rudolf Steiners im Giordano Bruno-Bund 

Herr Dr. Steiner betont zunachst, dafi ein im gewohnli- 
chen Sinne lebenskluger Mann bei dem gegenwartigen 
deutschen Geistesleben offentlich nicht iiber ein solches 
Thema sprechen werde, weil kaum ein anderes geeigneter 
sei, sich stark zu kompromittieren, und fahrt dann fort: 
«Theosophie ist ein Name, der oft von Leuten in Anspruch 
genommen wird, die in spiritistischen Zirkeln ihr Schicksal 
erkunden wollen. Und trotzdem sogar der Geruch des 
Schwindelhaften daran haftet, spreche ich iiber das Thema 
in seiner Verbindung mit dem deutschen Geistesleben mit 
vollem Bewufksein. Viel lieber war ich in meinem chemi- 
schen Laboratorium als in irgendeinem spiritistischen Zir- 
kel, und ich weifi, dafi man sich in solchen geradezu die 
Hande beschmutzen kann, aber ich habe mir auch die Han- 
de gewaschen und hoffe, daft es mir gelingen wird, das 
Wort Theosophie fur eine ernste Weltanschauung Ihnen 
nahezubringen. Klar mull es ausgesprochen werden, dafi 
nur auf Grund der modernen Naturwissenschaft eine ern- 
ste Weltanschauung gesucht werden kann, ich werde nie- 
mals von dem Gedanken abweichen, daft nur in ihr ein 
Heil gegeben ist. Die Naturwissenschaft erfullt die Kopfe 
und Herzen aber noch immer auch mit ihrer rnaterialisti- 
schen Weltanschauung, und wenn auch einzelne Schwar- 
mer behaupten, wir seien langst iiber das Zeitalter der 
Biichner und so weiter hinaus, wenn wir keine ideale Welt- 
anschauung auf Grund der Naturwissenschaft konstruieren 



konnen, so wird sich der Materialismus der fiinfziger Jahre 
noch weiter die Welt erobern. So gut wie alle Naturfor- 
scher der Gegenwart sind Materialisten, auch da, wo sie es 
ablehnen. 

Die Naturwissenschaft hat uns gezeigt, wie allmahlich die 
Wesen entstanden und sich vervollkommneten, bis der 
Mensch auftrat. Aber hier, nach Haeckel im 22. Gliede sei- 
ner organischen Ahnenreihe, machte sie halt. David Fried- 
rich Straufe hat es gepriesen, dafi die Naturwissenschaft uns 
vom Wunder erlost hat, vom Wunder in dem Sinne, in 
dem noch Linne im 18. Jahrhundert sagte: <So viel Arten 
der Tiere und Pflanzen vom Schopfer nebeneinander ur- 
sprunglich geschaffen sind, soviel Wunder gibt es.> Die Na- 
turwissenschaft hat durch das Zauberwort <Entwicklung> 
diese Wunder aufgelost, dieses Zauberwort hat das raum- 
liche Nebeneinander in ein ubersichtlich gewordenes zeit- 
liches Nacheinander verwandelt, aber das Wunder, das der 
Mensch sich selbst ist, hat sie bisher nicht auflosen konnen. 
Wir mussen versuchen, die Methode der Naturwissenschaft 
auch auf das Nebeneinander anwenden zu konnen, das wir 
im Hottentotten und im Genie vor uns sehen; wir mussen 
gewissermafien die geistige Urzelle entdecken, welche beide 
verbindet. Aber die hierzu erforderliche Methode der Na- 
turwissenschaft wird wieder eine andere sein, wie die Na- 
turwissenschaft stets ihre Methoden nach ihren Zwecken 
modeln mufite. Der Geologe durfte nicht nur Mineralien 
sammeln, um die Geschichte der Erde verstehen zu lernen, 
Haeckel hatte sein biogenetisches Grundgesetz nicht gefun- 
den, wenn er seine Tierleiber im Laboratorium mit chemi- 
schen Reagenzien behandelt hatte, ebensowenig wird die 
chemische Untersuchung des Gehirns dem Seelenforscher 
Aufschlusse iiber das Seelenleben geben. Aber trotz der un- 
geheuren Fortschritte der Naturwissenschaft war sie bisher 



nicht imstande, diese Methode zu entdecken, und dadurch 
ist eine so tiefe Kluft zwischen Naturwissenschaft und reli- 
giosem Gefiihl entstanden, wie sie niemals grofier war. An- 
ders in den alten Kulturen und deren Theologien. Da gibt 
es diesen Zwiespalt nicht, Theologie ist nichts anderes als 
der Ausdruck des jeweiligen wissenschaftlichen Denkens. 
Was man als Weltanschauung darbot, das war so hehr und 
grofi und gottlich, dafi es in Empfindung umgesetzte Reli- 
gion war. Heute stehen wir aber vor der Tatsache, dafi 
Theologie und Wissenschaft zwei vollig getrennte Dinge 
sind, und in diesem Sinne sagt Adolf Harnack, man fiihle 
sich wie erlost in dem Gedanken, dafi die Wissenschaft 
niemals imstande sein werde, die religiosen Bediirfnisse zu 
erfiillen. Und auf der anderen Seite sagt fiir die Naturwis- 
senschaft zum Beispiel der Englander Ingersoll: <Wir sind 
soweit, dafi fiir uns die Aufierungen des Geistes nur eine 
naturwissenschaftliche Tatsache sind, unsere Gedanken 
sind nichts anderes als eine Umsetzung der Nahrung, die 
wir in unserem Organismus aufnehmen, die Schopfung des 
Hamlet ist nichts anderes als der umgewandelte Nahrungs- 
stoff, den Shakespeare zu sich nahm.> 

Wie konnen wir da wieder den Einklang herstellen, der 
fiir die alten Religionen, ja selbst noch fiir das friihe Mittel- 
alter bestand? Mit dem heiligen Augustinus trat dieser 
Zwiespalt allmahlich ein, der in dem Gegensatz von Schola- 
stik und Galilei und so weiter zu den beiden grofien duali- 
stischen Stromungen fiihrte. Die Wissenschaft war wie ein 
Sohn, der aus der Fremde heimkehrt und vom Yater nicht 
mehr verstanden werden kann, und der Protestantismus ist 
nichts anderes als die Erklarung des Vaters, dafi er den 
Sohn enterben will, und der Kantianismus ist der Ab- 
schlufi, die letzte Phase dieses Prozesses! 

Den ersten grofien Versuch, diesen Zwiespalt zu iiber- 



winden, machten die deutschen idealistischen Philosophen 
Fichte, Schelling und Hegel. Drei Jahre nach dem Tode He- 
gels erschien von dem Sonne Fichtes ein Buch von der 
menschlichen Selbsterkenntnis. Es handelt von dieser als 
einer Aufgabe, die die Naturwissenschaft selbst gestellt hat. 
L H. Fichte sagt etwa: Betrachten wir die Naturwesen, so se- 
hen wir ihre ewigen Gesetze. Wenn wir aber die menschli- 
che Seele selbst als einen Naturprozefi ansehen, so stehen 
wir vor einem Erkenntnisumschwung. Die Gesetze der 
Natur liegen aufterhalb unserer Personlichkeit in der Na- 
turgrundlage, aus der wir hervorgegangen sind, aber in un- 
serer Seele sehen wir nicht fertige Natur gesetze, sondern 
wir sind selbst Naturgesetz. Da wird die Natur unsere eige- 
ne Tat, da sind wir Entwicklung. Da erkennen wir nicht 
blofi, da leben wir. Wir haben jetzt die Aufgabe, ewige 
eherne Gesetze zu schaffen, nicht mehr, sie blofi zu erken- 
nen. I. H. Fichte deutet dann an: in diesem Punkte lebt der 
Mensch nicht nur in seiner Naturerkenntnis, in diesem 
Punkte verwirklicht er und lebt er das Gottliche, das 
Schopferische, an diesem Punkte geht die Philosophie in die 
Theosophie uherl 

Hier tritt uns der Begriff Theosophie im deutschen Gei- 
stesleben entgegen. Wir sehen jetzt vielleicht schon eher, 
dafi Theosophie nichts anderes ist als letzte Anforderung eines 
wahren Monismus zwischen Naturerkenntnis und Selbster- 
kenntnis. Das gibt uns eine Perspektive, die Gegensatze 
zwischen Religion und Wissenschaft auszugleichen. Wir 
wissen jetzt: es gibt keine andere gottliche Kraft, welche 
den Wurm zum Menschen hinaufbefordert, wir wissen, 
dafi wir selbst diese <gottliche Kraft> sind. 

Man wird fragen: Was hat aber denn eine solche Erkennt- 
nis iiberhaupt fur einen Zweck? Nun, so entgegne ich, was 
hat das, was man gewohnlich Erkenntnis nennt, das einfa- 



che Registrieren der Tatsachen fiir eine Bedeutung? Mit ihr 
begniigen sich die, die ich kosmische Eckensteher nennen 
mochte. 

Wer in dieser Weise den Begriff Theosophie fafk, der 
wird auch Feuerbach verstehen, der da sagt, der Mensch hat 
Gott nach seinem Bilde geschaffen. Wir wollen es durchaus 
zugeben, dafi der Gottesbegriff aus dem Menschenherzen 
geboren ist, und Gott als Symbol eines inneren Ideals den 
Menschen iiber den Menschen hinaus entwickeln kann. 

So werden wir wiederum eine Gottesweishek gewinnen, 
welche die Gottlichkeit der Natur aussprechen wird. Wir 
leben heute wiederum in einer Zeit, die ein wichtiger Kno- 
tenpunkt in der geistigen Entwickemng Europas werden 
kann, wie es der war, in dem Kopemikus, Giordano Bruno 
und Galilei lebten und die moderne Naturwissenschaft be- 
griindeten. Aber diese hat es nicht verstanden, ihre Versoh- 
nung zu feiern mit der Religion. Vor dieser Aufgabe stehen 
wir, wir mussen sie erfiillen. Mogen diese Versuche noch so 
mangelhaft sein, aber wir haben Stromungen im modernen 
Geistesleben, welche darauf hinausgehen. Religionen wer- 
den als solche zwar nicht gegriindet, religiose Genies in 
dem Sinne, wie es wissenschaftliche und kunstlerische Ge- 
nies gibt, gibt es daher nicht, wohl aber solche Personlich- 
keiten, welche den Erkenntnisinhalt ihrer Zeit als religioses 
Empfinden aussprechen. Ich kenne die grofien Mangel und 
Fehler der theosophischen Bewegung durchaus. Duboc hat 
die Theosophie eine weibliche Philosophic genannt. Das 
konnen wir andern, indem wir sie im kritischen Deutsch- 
land zu einer mannlichen machen. 

Ich weifi, daft es kein Heil aufierhalb der Naturwissen- 
schaft geben kann, aber wir mussen neue Methoden der 
Seelenforschung auf naturwissenschaftlicher Grundlage fin- 
den, um das zu konnen, was alle alten religiosen Anschau- 



ungen vermochten: eine grofie Einheit zwischen religiosem 
Bediirfnis und Wissenschaft herzustellen. Theosophie in 
dem von mir gekennzeichneten Sinne hat an sich nichts zu 
tun mit den oft damit zusammengeworfenen Berichten 
iiber Tatsachen des Hypnotismus und Somnambulismus; 
ja, man konnte diese ablehnen und doch ein Theosoph 
sein, aber diese Erscheinungen des abnormen Seelenlebens 
sind durchaus nicht abzulehnen, und in der besonders von 
franzosischen und englischen Gelehrten unternommenen 
naturwissenschaftlichen Auslegung dieser Tatsachen sehe 
ich die ersten tastenden Versuche einer wirklichen Seelen- 
forschung.» 

Herr Dr. Steiner schlofi seinen programmatischen Vor- 
trag mit dem Hinweis auf ein Bild des Belgiers Wiertz «Der 
Mensch der Zukunft». Es stellt einen Riesen dar, der Kano- 
nen und die sonstigen Attribute der Kultur unserer Zeit in 
der Hand halt und sie lachelnd seinem Weibe und seinen 
Kindern zeigt; sie sind vor seiner Grofte pygmaenhaft 
zusammengeschrumpft. Es wird unsere Aufgabe sein, dafi 
wir vor dem Zukunftsmenschen nicht so pygmaenhaft er- 
scheinen. 

Berlin, 15. Oktober 1902 
Diskussion mit Voten Rudolf Steiners 

Zuerst erstattete O. Lehmann-Rufibuldt zur Orientierung ein 
Referat iiber den Vortrag Dr. R. Steiners und fiigte hinzu, es ware 
sein personlicher Wunsch gewesen, dafi nicht blofi die 250 bis 300 
Horer des Vortrags zugegen gewesen waren, sondern die 2000 bis 
3000 Personen, die das geistig-offentliche Leben in Deutschland 
ausmachen. Dr. Steiners Aufforderung, die Theosophie, wenn sie 
nach Duboc eine weibliche Philosophic sei, im kritischen 
Deutschland zu einer mannlichen zu machen, miifite dick unter- 



strichen werden, so dafi es im Druck allein eine Seite einnehmen 
wiirde, denn es lage in der theosophischen Bewegung sicher auch 
keine geringe Gefahr. Der Referent erkannte es an, dafi unsere 
geistige Kultur trotz Elektrizitat und Feinmechanik roh zu nen- 
nen sei gegeniiber der Harmonie, die in den grofien Kulturen des 
Altertums zwischen Wissenschaft und religioser Welt bestand, 
aber, so fiigte er nachdriicklich hinzu, wir wollen deshalb an uns 
nicht verzweifeln. Die orfenbare Uberlegenheit unserer Intelli- 
genz, wie sie sich eben im Maschinenzeitalter aufiere, konnte uns 
eine Biirgschaft dessen sein, dafi wir vertiefen und ausbauen wer- 
den, was die Kultur des Altertums erst in der Ahnung, wenn auch 
in grofiartigster Weise besafi. Hierzu zitierte der Referent aus 
dem Rassenwerk des Grafen Gobineau einen Passus uber die 
geistige Veranlagung des Ariers, der sich durchaus auch auf die 
Volker der atlantischen Welt, also auf Westeuropa und Nordame- 
rika, anwenden lasse: 

«Der Arier ist also den iibrigen Menschen hauptsachlich in dem 
Mafie seiner Intelligenz und seiner Energie iiberlegen, und dank 
diesen beiden Anlagen ist es ihm, wenn es ihm gelingt, seine Lei- 
denschaften und seine materiellen Bediirfnisse zu besiegen, eben- 
falls vergonnt, zu einer unendlich viel hoheren Moralitat zu ge- 
langen, wiewohl man im gewohnlichen Lauf der Dinge bei ihm 
ebenso viele tadelnswerte Handlungen riigen kann, als bei den In- 
dividuen minderer Rassen.» Der Referent schlofi mit der Bemer- 
kung, dafi nach seiner Voraussicht sich aus dem verlasterten Hyp- 
notismus und Somnambulismus die Wissenschaft einer erweiter- 
ten und verfeinerten Psychologie entwickeln werde, die uns fur 
die Seelenerkenntnis soviel bedeuten wiirde, wie es die Astrono- 
mie und Chemie fur die Naturerkenntnis bedeuten, trotzdem 
sich diese Wissenschaften aus Astrologie und Alchimie entwickelt 
hatten. 

In der Diskussion bemangelt zunachst Nicolai, daft nicht ausge- 
fiihrt sei, was denn die Theosophie eigentlich wolle und konne. 

Dr. Steiner entgegnete, sein Vortrag habe nur den Zu- 
sammenhang zwischen dem Monismus und der Weltan- 
schauung hervorheben wollen, die schon in den Tagen der 
Vedantaphilosophie Indiens sich in modernen Gleisen be- 
wegte. Darin bestande der seit dem 4. Jahrhundert im Chri- 



stentum einsetzende Dualismus, dafi er wohl fiir die Er- 
kenntnis der Erscheinungswelt das Auge und die Sinne gel- 
ten lasse, aber fiir die Erkenntnis iiber unser Woher und 
Wohin nicht ebenfalls die Mittel unserer Erkenntnis zulas- 
se, sondern uns auf den Glauben, auf die Offenbarungen 
alter Biicher und Propheten verweise. Der Monismus ver- 
heifk aber eine Erkenntnisentwickelung, ebenso wie er fiir 
die Lebewesen eine Artentwickelung habe feststellen kon- 
nen. In den Schriften der Vedantaphilosophie existiere ein 
Gesprach, worin ein Jiinger den Lehrer fragt: Was ge- 
schieht, wenn ich sterbe?... Der Lehrer erwidert: Das 
Feste und Fliissige deines Leibes wird wieder zum Festen 
und Fliissigen, denn der Mensch ist wie ein Stein und Tier, 
auch die Aufierungen deines Denkens und Handelns losen 
sich auf in deiner Umgebung, aber es bleibt iibrig die «Ent- 
wicklung», der Grund dessen, was deine Personlichkeit 
gebildet hat. - So monistisch im Keime denke schon die 
Vedantaphilosophie. Was im Tier nur im Unbewufken 
lebe, namlich der Drang zur Entfaltung seiner Personlich- 
keit, miisse im Menschen ins vollste Bewufitsein treten und 
im Bewufksem als Ideal aufgehen. 

Fritz Sanger poiemisierte gegen Dr. Steiner. Die Theosophen 
gaben stets vor, die Ergebnisse der modernen Naturwissenschaft 
schon voraus besessen zu haben und noch zu besitzen, aber Pro- 
ben solcher Uberlegenheit hatten sie noch nie gegeben. Er be- 
fiirchte, dafi eine solche Bewegung nur zu sehr geeignet sei, die 
Resultate der modernen Naturwissenschaft wieder zu untergra- 
ben; trotz ruhigster Beobachtung habe er im Spiritismus nur den 
Ausdruck des Blodsinnes finden konnen, die Tatsache des Hyp- 
notismus miisse er jedoch anerkennen. 

Nachdem noch Kohn in warmen eindringlichen Worten fiir 
Herrn Dr. Steiner eingetreten war, bemerkte O. Lehmann-Rufl- 
buldt, dafi die Ausfiihrungen Herrn Sangers typisch waren fiir die 
Vertreter der sogenannten Naturwissenschaft aller Zeiten. Vor 
funfzehn Jahren hatte mit ihr Sanger noch die von Krafft-Ebing 



unter anderem demonstrierte Tatsache fiir Unsinn erklart, dafi 
ein einem Hypnotisierten aufgelegtes Lindenblatt wie ein gliihen- 
des Stuck Eisen eine Brandwunde zieht, wenn der Hypnotisierte 
es fiir ein solches ansehen soli; ebenso wie vor hundert Jahren die 
franzosischen Materialisten es fur Humbug erklarten, dafi Me- 
teorsteine aus dem Weltenraum auf die Erde fallen konnen. 

Dr. Steiner wandte sich sodann noch einmal energisch ge- 
gen die Verwechslung von Theosophie und Spiritismus. 
Wenn Herr Sanger solchen Theosophen begegnet sei, die 
dazu Veranlassung geben, so moge er sich an diese halten, 
er, Dr. Steiner, lehne das entschieden ab. Er halte es fiir un- 
moralisch im philosophischen Geiste, wenn man durch die 
Manifestationen sogenannter Geister Belehrungen iiber 
Schicksal und Menschennatur erlangen wolle, das ware gro- 
ber Materialismus. Er lege auch keinen besonderen Wert 
auf den Namen Theosophie. Vor allem sei ihm bedeutsam 
die hohe Ethik der Theosophie in seinem Sinne, die zum 
Beispiel in der Padagogik zu den ernstesten Konsequenzen 
fiihre. Welche Perspektive fur das Gemiit des Erziehers, 
wenn er sich bewufit sei, dafi er im Kinde einen Keim der 
Gottlichkeit zu entfalten habe! * 

. *Unser Berichterstatter, Herr Otto Lehmann-Rufibuldt, der 
zweite Vorsitzende des Bruno-Bundes, hat das Bedurfnis, dem Be- 
richte hier beizufiigen, dafi er auch diesen Vortrag neben so vielen 
anderen bedeutsamen Erscheinungen im Geistesleben als eine 
Keimzelle neuer Edelkultur ansehe. «Zeiten grofier Umwalzung 
kommen ja nicht wie ein mystisches Etwas iiber uns; wenn wir sie 
schaffen, so sind sie da. Die <theosophische> Bewegung ware mir 
mit einem Programm, wie es Dr. Steiner formuliert, willkom- 
men. Hoffen wir, dafi frisch einsetzende Lebenskrafte der Verjiin- 
gung vor allem lebendigere, dichterisch ziindende Worte schaffen 
konnen; was sollen uns alle <ismen>! Jedenfalls ist der goldene 
Weizen einer echten Theosophie leider verschiittet worden unter 
soviel Spreu der Nachplapperei indischer Vokabeln, dafi der 
philosophische Held hochwillkommen sein soli, der ihn in eine 
neue Scheuer, das heifit unter neuem Namen, sammeln kann.» 



HINWEISE 



Im Jahr 1897 ubersiedelte Rudolf Steiner von Weimar nach Berlin und 
iibernahm dort die Herausgabe und Redaktion des «Magazins fur Litera- 
tur» und der «Dramaturgischen Blatter», Organ des deutschen Biihnen- 
vereins. (Die Aufsatze aus dieser Zeit sind enthalten in den Banden 
«Gesammelte Aufsatze» der GA Bibl.-Nr. 29, 30, 31, 32.) Neben dieser 
Tatigkeit hielt er in den folgenden Jahren zahllose Vortrage in verschie- 
densten Zusammenhangen, wovon jedoch so gut wie keine Nachschrif- 
ten vorhanden sind. Nur von Rudolf Steiners Vortragstatigkeit innerhalb 
der «Arbeiterbildungsschule» und der «Freien Hochschule» in Berlin 
liegen einige wenige Nachschriften vor, die in diesem Band 51 der GA 
zusammengefafit sind. 

Turn ersten Teil 

In den Jahren 1899 bis 1904 unterrichtete Rudolf Steiner an der Arbei- 
terbildungsschule in Berlin, einer Griindung des Sozialdemokraten Wil- 
helm Liebknecht. Im 28. Kapitel von «Mein Lebensgang», GA Bibl.-Nr. 
28, hat Rudolf Steiner iiber diese Epoche seines Lebens berichtet. Siehe 
auch das Biichlein «Erinnerungen an Rudolf Steiner und seine Wirksam- 
keit an der Arbeiterbildungsschule» von Johanna Mtkke und A. A. Ru- 
dolph, Neuauflage Basel 1979, das ein lebendiges Bild von Rudolf Steiners 
Tatigkeit in diesen Zusammenhangen gibt. 

Textunterlagen zu den Vortragen an der Arbeiterbildungsschule 

Welt- und Lebensanschauungen von den dltesten Zeiten bis zur Gegen- 
wart: Die kurze Zusammenfassung des Inhaltes von zehn Vortragen ist 
von Rudolf Steiner selbst verfafk. 

William Shakespeare: Notizen von Johanna Miicke. Johanna Miicke, 
1864-1949, gehorte der sozialistischen gewerkschaftlichen Bewegung 
und dem Vorstand der Arbeiterbildungsschule in Berlin an. Sie wurde 
1903 Mitglied der Theosophischen Gesellschaft und war von 1908 bis 
1935 Geschaftsfuhrerin des von Marie Steiner-von Sivers begriindeten 
Philosophisch-Anthroposophischen Verlages in Berlin, spater Dornach. 
Die Nachschrift von Johanna Miicke ist nach handschriftlichen Notizen 
von ihr ausgearbeitet, da sie nicht stenographieren konnte. 

Uber romiscbe Geschichte: Dieser Vortrag ist der einzige des vorliegen- 
den Bandes, der mitstenographiert wurde, und zwar von Franz Seiler, 



1868 - 1959, Mitglied der Theosophischen Gesellschaft, dem ersten Steno- 
graphen von Rudolf Steiners friihen Mitgliedervortragen. In Franz Sellers 
Stenogrammheft ist das Vortragsdatum des 19. Juli 1904 angegeben. Ver- 
mutlich handelt es sich um einen der letzten Vortrage des Kurses 
«Geschichte der Urvolker und des Altertums bis zum Untergang der R6- 
merherrschaft», die nach dem «Vortragswerk Rudolf Steiners» von Hans 
Schmidt vom 5. April bis 14. Juni 1904 datiert sind. Eine Uberein- 
stimmung mit einem dieser Daten liefi sich nicht feststellen. Aus Notizen 
von Marie Steiner-von Sivers ist zu entnehmen, dafi am 26. Juli 1904 ein 
weiterer Vortrag in der Arbeiterbildungsschule stattfand mit dem Thema 
«Das Verhaltnis der germanischen Volker zum Christentum». Von den 
iibrigen Vortragen dieses Kurses gibt es keinerlei Nachschrift. 

Geschichte des Mittelalters his zu den grofien Erftndungen und Entdeckun- 
gen (10 Vortrage): Die im Jahre 1936 erschienene 1. Auflage enthielt nur 
acht Vortrage vom 18. Oktober bis 20. Dezember 1904. Die in dieser frii- 
heren Veroffentlichung fehlenden zwei Vortrage werden von Hans 
Schmidt im «Vortragswerk Rudolf Steiners» auf den 4. und 11. Oktober 
1904 angesetzt. Abweichend hiervon sind diese beiden Vortrage im vor- 
liegenden Bande als neunter und zehnter Vortrag abgedruckt mit den 
Daten 28. und 29. Dezember 1904. Die Richtigkeit dieser Anordnung er- 
gibt sich aus dem thematischen Zusammenhang. 

Zum zweiten Teil 

Im Herbst 1902 hatte Rudolf Steiner an der von Wilhelm Bolsche und 
Bruno Wille gegriindeten Freien Hochschule in Berlin den Unterricht in 
Geschichte ubernommen und hielt bis zum Dezember 1905 doit jeweils 
wahrend des Wintersemesters Vortragskurse, unter anderem iiber folgen- 
de Themen: «Deutsche Geschichte von der Volkerwanderung bis ins 12. 
Jahrhundert», «Deutsche Geschichte von der Griindung der freien Stadte 
bis zu den grofien Erfindungen und Entdeckungen im Beginne der Neu- 
zeit», «Geschichte der Mathematik und Physik», «Vom Germanentum 
zum Staatsbiirgertum» und «Deutsche Mystik und ihre Voraussetzun- 
gen». Nur von einem Teil des zuletzt genannten Kurses liegen Nach- 
schriften vor. 

Textunterlagen zu den Vortragen an der Freien Hochschule 

Platonische Mystik und Docta ignorantia: Notizen von Mathilde Scholl. 
Mathilde Scholl, 1868-1941, war seit 1903 Mitglied des Vorstandes der 
Deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft und von 1905 bis 



1914 Herausgeberin des Gesellschaftsorgans «Mitteilungen fur die Mit- 
glieder der Deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft». Sie lei- 
tete bis 1914 die anthroposophische Arbeit in Koln und lebte spater in 
Dornach. 

Schiller und unser Zeitalter (Neun Vortrage): Aufzeichnungen von Marie 
Steiner-von Sivers und Johanna Mucke. 

Zum dritten Teil 

Der ^Giordano Bruno-Bund fur einheitliche Weltanscbauung» wurde im 
Jahre 1900 von Dr. Bruno Wille, 1860-1928, und anderen Literaten des 
Friedrichshagener Kreises begriindet. Wille war auch Leiter der Zeit- 
schrift «Der Freidenker», in der die hier abgedruckten Referate erschie- 
nen. Zur Tatigkeit Rudolf Steiners innerhalb des Giordano Bruno-Bun- 
des siehe die ausfuhrliche Darstellung in der Schriftenreihe «Beitrage zur 
Rudolf Steiner-Gesamtausgabe», Heft 79, Ostern 1983. 

Als Einzelausgaben sind erschienen: 

Welt- und Lebensanschauungen. Von den altesten Zeiten bis zur Ge- 
genwart, Berlin 1901 

Geschichte des Mittelalters bis zu den grofien Erfindungen und Ent- 
deckungen. Acht Vortrage, vom 18. Oktober bis 20. Dezember 1904, 
Dornach 1936 

Schiller und unser Zeitalter. Zehn Vortrage, Januar bis Marz 1905, 
1. Auflage Berlin 1905 

Schiller und unser Zeitalter. Neun Vortrage, 21. Januar bis 25. Marz 
1905, Dornach 1932 

Folgende Vortrage wurden in Zeitschriften veroffentlicht: 

Welt- und Lebensanschauungen von den altesten Zeiten bis zur Gegen- 
wart. Zehn Vortrage 7. Januar bis 11. Marz 1901; «Gegenwart» 1958, 
Hefte 10-12 

William Shakespeare, 6. Mai 1902; Nachrichtenblatt 1945, Nr. 4 

Geschichte des Mittelalters bis zu den grofien Erfindungen und Entdek- 
kungen. Acht Vortrage 18. Oktober bis 20. Dezember 1904; Nachrich- 
tenblatt 1934 Nrn. 47-50, 52, 1935 Nrn. 1,29, 30, 31, 32 

Platonische Mystik und Docta ignorantia. 29. Oktober, 5. und 12. No- 
vember 1904; Nachrichtenblatt 1947, Nrn. 32-35 

Werke Rudolf Steiners innerhalb der Gesamtausgabe (GA) werden in 
den Hinweisen mit der Bibliographie-Nummer angegeben. Siehe auch die 
Ubersicht am Schlufi des Bandes. 



Zu Seite 

17 Aristoteles, 384 - 322 v. Chr., «Alle Menschen verlangen von Natur 
nach dem Wissen» in «Metaphysik», einleitende Satze zu Buch I. 

Dante Alighieri, 1265-1321, in «La Divina Commedia». 

Hegel (1770— 1831) «Das Denken macht die Seele...»: In «Enzyklo- 
padie der philosophischen Wissenschaften* Vorrede S. XIX, 
2. Aufl. Heidelberg 1827. 

18 Angelus Silesius (1624 - 1677) . . . dafi die Rose einfach bluht, weil sie 
bluht: in «Cherubinischer Wandersmann», wortlich: «Die Ros ist 
ohn Warumb; sie bliihet, weil sie bliihet, Sie acht nicht ihrer 
selbst, fragt nicht, ob man sie siehet.» 

19 Tholes, 624-545 v. Chr. 
Anaximander, 61 1 - 550 v. Chr. 

20 Kant (1724-1804): «Was kann ich wissen?...»: Siehe «Kritik der 
reinen Vernunft». 

Goethe: «Kenne ich mein Verhdltnis 7.u mir selbst. . .»; Maximen und 
Reflexionen 198. 

21 A naximenes, 588 - 524 v. Chr. 
Heraklit, 535-475 v. Chr. 

22 Empedokles, 483 - 424 v. Chr. 

Aristoteles erzdhlt uns von Empedokles: In «Metaphysik», Buch I. 

23 Darwin stellt sich auch vor...: Charles Darwin (1809-1882) in 
seinem Werk «Uber die Entstehung der Arten», 1859. 

Anaxagoras, 500 - 430 v. Chr. 

Perikles, um 500-429 v. Chr., Staatsmann in Athen. 

Euripides, um 480-406 v. Chr., griechischer Tragodiendichter. 

Themistokles, um 527-459 v. Chr., Athen. Staatsmann. 

Demokrit, 460 - 370 v. Chr. 

24 Parmenides, etwa 540 v. Chr. geboren. 

26 Aristoteles erzdhlt von den Pythagordern: In «Metaphysik» Buch I 
(frei wiedergegebenes Zitat). 



28 Protagoras, 480 - 4 10 v. Chr. 

Aristophanes, um 445 -um 385 v. Chr. 
Gorgias, um 480-370 v. Chr., Sophist. 
Prodicus von Keos, Sophist zur Zeit von Sokrates. 
Sokrates, 469 - 399 v. Chr. 

3 1 Cicero hat von Sokrates gesagt: Tusculanen 1 . Buch, 4. Kapitel. 

Kyniker: Griechische Philosophen; Pflege der Tugend, Bedurfms- 
losigkeit, Selbstbeherrschung. 

Diogenes von Sinope, um 412-um 323 v. Chr. 

32 Kyrenaiker: Griechische Philosophen, lehrten die Lebensfreude. 

Megariker: Griechische Philosophen, lehrten die Tugend, iibten 
das Denken. 

Euklides von Megara, um 450 - 3 80 v. Chr. 

33 Plato, 427-347 v. Chr. 

34 Nach der Hinrichtung seines Lehrers (Sokrates): Im Jahre 399 
v. Chr. 

40 «Lieber ein Tageldhner im Lichte der Sonne... »: Homer, Achilleus 
in «Odyssee» 11. Gesang, Vers 489-491. 

41 Aristoteles. . . «Wer fur sich allein lehen will...»: Zitiert nach Vin- 
cenz Knauer, Hauptprobleme der Philosophic, 32. Vorlesung, 
Wien/Leipzigl892. 

42 Thomas von Aquino, 1227 - 1274. 

44 Epikur, 34 1 - 270 v. Chr. 

T. Lucretius Cams, 96 - 55 v. Chr. 
Pyrrho, 360-270 v. Chr. 

45 Philo, 25 v. Chr. - 50 n. Chr. 
Plotin, 205-270 n.Chr. 

46 Augustinus (354-430): «Ich wurde dem Evangelium nicht glau- 
ben...»: Contr. epist. Manich. 5, zitiert nach Willmann «Geschich- 
te des Idealismus», Band 2, Abschnitt DC, Braunschweig 1896. 

Im Christentum. . Vgl. zu diesem Abschnitt Rudolf Steiner 
«Mein Lebensgang», Bibl.-Nr. 28, Kapitel 26: «In Widerspruch 
mit den Darstellungen, die ich spater vom Christentum gegeben 
habe, scheinen einzelne Behauptungen zu stehen, die ich damals 



niedergeschrieben und in Vortragen ausgesprochen habe. Dabei 
kommt das Folgende in Betracht. Ich hatte, wenn ich in dieser 
Zeit das Wort «Christentum» schrieb, die Jenseitslehre im Sinne, 
die in den christlichen Bekenntnissen wirkte. Aller Inhalt des reli- 
giosen Erlebens verwies auf eine Geistwelt, die fiir den Menschen 
in der Entfaltung seiner Geisteskrafte nicht zu erreichen sein soil. 
Was Religion zu sagen habe, was sie als sittliche Gebote zu geben 
habe, stammt aus Offenbarungen, die von aufien zum Menschen 
kommen. Dagegen wendete sich meine Geistanschauung, die die 
Geistwelt genau wie die sinnenfallige im Wahrnehmbaren am 
Menschen und in der Natur erleben wollte. Dagegen wendete sich 
auch mein ethischer Individualismus, der das sittliche Leben nicht 
von auften durch Gebote gehalten, sondern aus der Entfaltung des 
seelisch-geistigen Menschenwesens, in dem das Gottliche lebt, her- 
vorgehen lassen wollte. 

Was damals im Anschauen des Christentums in meiner Seele 
vorging, war eine starke Priifung fiir mich. Die Zeit von meinem 
Abschiede von der Weimarer Arbeit bis zu der Ausarbeitung mei- 
nes Buches: <Das Christentum als mystische Tatsacho ist von die- 
ser Priifung ausgefullt. Solche Priifungen sind die vom Schicksal 
(Karma) gegebenen Widerstande, die die geistige Entwickelung zu 
iiberwinden hat.» 

48 Thomas von Aquino (1227-1274): «Wenn wir auch zweifeln. . 
«De trinitate», Buch X, Kapitel 14, zitiert nach Willmann a.a.O. 

49 Meister Eckhart, um 1260-1327. 
Johannes Tauler, 1300-1361. 
Heinrich Suso, 1295-1365. 
Jakob Bohme, 1575-1624. 

Paracelsus (1493-1541): «Der Arzt mufi durch der Natur Examen 
gehen»: Opus Paramirum: «Nun ist der Artzt aufi der Artzney 
und nit aufi sich selbst, darumb so mufi er durch der Natur 
Examen gehn, welche Natur die Welt ist und all ihr Einfang.» 

50/51 Martin Luther (1483-1546): «Dieser gottverfluchte Aristoteles»: 
An Eck 1519; «Die Vernunft ist des Teufels Erzhure und Braut»: 
Polem. dtsche. Schriften 1524/25, nach Ferd. Bahlow «Luthers 
Stellung zur Philosophie», Berlin 1891. 

51 Adolf von Harnack (1851-1930): «Die Wissenschaft vermag 
nicht... «: In «Das Wesen des Christentums» 16. Vorlesung, 4. 



Aufl. Leipzig 1901, S. 188, wortlich: «Die Religion, namlich die 
Gottes- und Nachstenliebe, ist es, die dem Leben einen Sinn gibt, 
die Wissenschaft vermag das nicht.» 

A.a.O. S. 5: «Die christliche Religion ist etwas Hohes, Einfaches 
und auf einen Punkt Bezogenes: Ewiges Leben mitten in der Zeit, 
in der Kraft und und vor den Augen Gottes,» 

51 Nikolaus Kopernikus, 1473 - 1543. 
Johannes Kepler, 1571 - 1630. 

Galilei (1564-1642): «Ibr habt es immer mit eurem Aristoteles...»: 
Zitiert nach Laurenz Milliner «Die Bedeutung Galileis fur die 
Philosophie», Inaugurationsrede gehalten am 8. November 1894, 
Wien 1894. 

52 Giordano Bruno, 1548 - 1600. 

Rene Descartes (Cartesius), 1596-1650. 

53 Gottfried Wilhelm von Leibniz, 1646 - 1716. 
Christian von Wolff, 1679-1754. 

54 John Locke, 1632 - 1704. 
David Hume, 1711-1776. 

57 EmilDu Bois-Reymond, 1818-1896, deutscher Naturforscher, in 
seiner Rede «Uber die Grenzen des Naturerkennens» 1872. 

58 Baruch de Spinoza, 1632 - 1677, niederlandischer Philosoph. 

59 Johann Gottlieb Ficbte, 1762 - 18 14. 

60 Friedrich Wilhelm Schelling, 1775 - 1854. 

61 Deshalb hat Marx die Gesetze der okonomischen Entwickelung ge- 
sucht da, wo sie allein zu finden sind: Diese Bemerkung bedeutet 
nicht etwa ein Bekenntnis R. Steiners zum Marxismus. Vgl. 
«Geisteswissenschaft und soziale Frage», drei Aufsatze aus den 
Jahren 1905/1906, «Die Kernpunkte der sozialen Frage in den 
Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft», GA 
Bibl.-Nr. 23; sowie besonders in bezug auf Hegel und Marx «Die 
soziale Frage als Bewufitseinsfrage» (Acht Vortrage, Dornach 
1919),GABibl.-Nr. 189. 

Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831), iiber Gesetze: In 
«Grundlinien der Philosophic des Rechts». 

Charles Darwin, 1 809 - 1 882. 



61 Ernst Haeckel, 1834- 1919. 

62 Carl Vogt, 18 17 - 1895, Naturforscher. 

Jacob Moleschott, 1822-1893, materialistischer Philosoph. 
Ludwig Buchner, 1824 - 1899, Physiologe. 

Ludwig Feuerbach (1804-1872): «Gott ist das offenbare Innere...»: 
Zitat aus «Das Wesen des Christentums», Leipzig 1841. 

63 Max Stimer, 1 806 - 1 856. 
Arthur Schopenhauer, 1788 - 1860. 
Eduard von Hartmann, 1842 - 1906. 

64 hat schon Schiller ausgesprochen...: Brief Schillers an Goethe vom 
23. August 1794, Jena, in «Briefwechsel zwischen Schiller und 
Goethe in den Jahren 1794- 1805»; Stuttgart 1828. 

in meinem Buche «Welt- und Lebensanschauungen im 19. Jahrhun- 
dert»: In der Gesamtausgabe «Die Ratsel der Philosophic in ihrer 
Geschichte als Umrifi dargestellt», GA Bibl.-Nr. 18. 

66 Georg Brandes, 1 842 - 1927, danischer Schriftsteller . 

August Wilhelm Schlegel, 1767-1845, und Ludwig Tieck, 
1773 - 1853, Shakespeare-Ubersetzer. 

Lord Francis Bacon von Verulam, 1561-1626, englischer Staats- 
mann und Philosoph. 

67 Eugen Reichel, 1853-1916, Schriftsteller, «Shakespeare-Littera- 
tur», Stuttgart 1887. Eine Anzahl von Aufsatzen Reichels sind 
erschienen in dem von Rudolf Steiner herausgegebenen «Magazin 
fur Litteratur». 

70 Christopher Marlowe, 1564—1593. 

73 Kaiser Augustus, 65 v.Chr. bis 14 n.Chr. 

74 derjenige Furst, der am meisten genannt wird: Kaiser Karl der 
Grofie, 742-814, regierte seit 768 als Frankenkonig. Gekront 
800 von Papst Leo III. 

76 Wir haben die Ausbreitung Roms uber den Erdkreis beschrieben: In 
den vorangehenden Vortragen in der Arbeiterbildungsschule, von 
denen keine Nachschriften erhalten sind. 

77 Prdtor: Hochster Richter im alten Rom. 



77 Konsul: Hochster Beamter. 
Qudstor: Finanzbeamter. 

78 Tribun: Urspriinglich Vorsteher eines Wahlbezirks. Volkstribun: 
Vertreter des Volkes mit Vetorecht gegen den Senat. 

. . . Unterscbied. . . zwischen dem Begrijf «Eigentum» und dem Begriff 
«Besitz»: «Besitz» als die tatsachliche Verfugungsgewalt im Gegen- 
satz zum «Eigentum» als biirgerlich-rechtliche Macht tiber eine 
Sache. 

79 Marius, 156-86 v. Chr., romischer Feldherr und Staatsmann. 

Gracchus: Name einer beruhmten Familie im alten Rom. Tiberius 
Sempronius (Vater) sowie die Sohne Tiberius Sempronius und 
Gajus Sempronius, lebten im 2. vorchristlichen Jahrhundert. 

80 Octavius-Augustus, spater Kaiser Augustus. 

8 1 Hadriariy Publius Aelius, 76 - 138 n. Chr., romischer Kaiser. 

Caracalhty Marcus Aurelius Antoninus, 176-217 n.Chr., romi- 
scher Kaiser ab 211. 

84 Caligula, Gajus Julius Caesar Germanicus, 12-41 n. Chr., romi- 
scher Kaiser ab 37. 

Lucian, um 120-180 n.Chr., griechischer Satiriker. 

85 Apollonius, romischer Philosoph, zum Christentum bekehrt, 
184/85 als Martyrer enthauptet. 

86 Lucretia: Tugendhafte Gattin des Lucius Tarquinius Collatinus. 
Von Sextus Tarquinius entehrt, totete sie sich selbst, dies soli den 
Sturz des Konigtums veranlafit haben. 

87 Klemens von Alexandrien, um 150-215, christlicher Religions- 
philosoph, Leiter der theologischen Schule in Alexandria. 

Origenes, 185-254, griechischer Kirchenschriftsteller, bedeutend- 
ster Lehrer der Gnosis. 

88 Tertullian, um 160 bis nach 220, lateinischer Kirchenschriftsteller, 
Hauptwerk «Apologetikum oder Verteidigung der christlichen 
Religion und ihrer Anhanger». 

«Die Menge aber der Gldubigen. . .»: Apostelgeschichte, Kap. 4, 
32-37. 



90 ...nach des Konstantin Vorgehen: Konstantin I., genannt «der 
Grofie», um 285-337, romischer Kaiser, anerkannte das Christen- 
tum als Staatsreligion durch das Edikt von Mailand im Jahre 313. 

Konstantiner: Nachfolger des Konstantin I. ist sein Sohn Konstan- 
tin II., Kaiser im westHchen romischen Reich von 337-340. 

das nicdische Konzil: Durch das Konzil von Nicaa in Nordwest- 
Anatolien (Tiirkei), von Konstantin I. einberufen im Jahre 325, 
wurde die Glaubensformel der Wesenseinheit des Sohnes mit dem 
Vater angenommen. 

Arius in Alexandrien, lebte im 4. Jahrhundert, gest. 336. Lehrte, 
daft Christus nicht selbst Gott ist, Sohn nicht gleich Vater. 

Athanasius, um 295-373, Bischof von Alexandrien. Lehrte We- 
sensgleichheit von Christus mit Gottvater. Schrift: «Orationes 
contra Arianos». 

Er tritt zum Christentum tiber, aher nicht zum athanasischen, son- 
dern zum arianischen: Siehe zu dieser Frage: Jakob Burckhardt 
«Die Zeit Konstantins des Grofien» im Kapitel «Konstantin und 
die Kirche». 

93 «Das Alte sturzt, es dndert sich die 2eit...»: Friedrich Schiller in 
seinem Drama «Wilhelm Tell» 4. Aufzug, 2. Szene. 

96 Goethe hat gesagt...: Spriiche in Prosa, Nr. 779. Wortlich: «Das 
Beste, was wir von der Geschichte haben, ist der Enthusiasmus, 
den sie erregt.» 

97 KonigAsoka: Auch Aschoka, 259 -226 v.Chr., indischer Maurja- 
Konig. 

Tacitus, um 55 - 120, romischer Geschichtsschreiber, u.a. «Germa- 
nia». 

99 Roland, Tristan, Parzival: Von Chrestien de Troyes, Gottfried 
von Strafiburg, Wolfram von Eschenbach. 

101 Kompafi: Soli von Marco Polo aus China nach Europa gebracht 
worden sein, um 1300. 

Schieflpuher: Bereits vor Chr. in China bekannt. In Europa er- 
funden von Berthold Schwarz, Franziskaner, um 1300: Schwarz- 
pulver. 

Erfindung der Buchdruckerkunst: Durch Joh. Gutenberg, um 
1400-1468. 



102 Franz Palacky, 1798-1876, tschechischer Historiker und Politi- 
ker, Panslawist. 

hussitische Bewegung: Geht zuriick auf Joh. Hus (urn 1369-1415), 
tschechischer Reformator, verbrannt 1415. 

Marko Kraljevic = Marko der Konigssohn, Hauptheld der serbi- 
schen und bulgarischen Volkspoesie. 

103 John Wiclif, urn 1326-1386, englischer Reformator. 

Kaiser Heinrich II. y 973 - 1024. 1146 heiliggesprochen. 

Johann Militsch, tschech. Milec, Domherr und Archidiakon in 
Prag. Vorlaufer des Joh. Hus. Ging 1374 zum Papst nach Avi- 
gnon, um sich vom Verdacht der Ketzerei zu reinigen. Starb dort 
im gleichen Jahr. Seine Schriften wurden verbrannt. 

den Gedanken der Humanitdt, wie ihn Herder ausgesprochen hat: 
Johann Gottfried Herder, 1744-1803, Theologe, Dichter und 
Philosoph. Siehe seine Schrift «Briefe zur Beforderung der Hu- 
manitat», 1793. 

105 das Wort Hegels: Wortlich: «Die Weltgeschichte ist der Fortschritt 
der Menschheit im Bewufitsein der Freiheit:» Siehe «Vorlesungen 
iiber die Philosophic der Geschichte», 3. Aufl. Berlin 1848, Einlei- 
tung S. 24. 

107 Wie wir aus den Scholien zur Ilias erfahren: Die Angabe konnte 
nicht nachgewiesen werden. 

110 Ulfilas (Wulfila), um 310-383, Bischof der Westgoten, Arianer, 
ubersetzte die Bibel ins Gotische. 

111 Chlodwig, Name frank. Konige. Chlodwig L, 466-511, wurde 
496 Christ. 

120 Johannes Scotus Erigena, 810-877, bedeutender Denker des Friih- 
mittelalters, lebte am Hofe Karls des Kahlen. Hauptwerk «Uber 
die Einteilung der Natur». 

121 Aquitanien: Alter Name fur Sudwest-Gallien, etwa heutige Pro- 
vinz Guyenne im Siidwesten Frankreichs. 

Attila, Konig der Hunnen von 434-453. 

122 Schlacht auf den katalaunischen Feldern: Bei Troyes in der Cham- 
pagne im Jahre 451. 

Leo der Grofie, Papst von 440-461. 



125 Nikolaus Kopernikus, 1473 - 1543. 

Odoaker (433-493) germanischer Heerfuhrer, sturzte 476 das 
westromische Reich und den letzten westrdmischen Kaiser, Romu- 
lus Augustinus. 

Justinian I., 482/3-565, seit 527 ostromischer Kaiser. 

wie die Goten durch Kaiser Justinian aus Italien vertrieben werden: 
Im Jahre 553. 

126 wie die Langobarden von Norditalien Besitz ergreifen: Im Jahre 570. 

129 Columban, urn 600, Missionar des iro-schottischen Christentums. 

GalluSy um 555 bis um 645, irischer Missionar, Begriinder der 
Monchsschule in St. Gallen. 

Winfrid-BonifatiuSy um 672 - 754, christlicher Missionar in den 
germanischen Landen. 

130 ein frdnkisches Rechtsbuch: Das sogenannte «Salische Gesetz» (Lex 
Salica), um 500 n.Chr. niedergeschrieben. 

131 Mohammed: Um 570 - 632, Begriinder des Islam. 

133 Wilhelm von Humboldt, 1767-1835, deutscher Staatsmann und 
Philosoph, Sprachforscher. 

aber bet den Arabern der wahre Aristoteles: Von den Schriften des 
Aristoteles kamen die philosophischen Schriften direkt nch Eu- 
ropa, wahrend die naturwissenschaftlichen zu den Arabern ge- 
langten und iiber diese erst nach dem christlichen Europa kamen. 

KarlMartell, um 688-741. 

134 Walther von der Vogelweide, um 1170 bis um 1230, mittelhoch- 
deutscher Dichter. 

«Gar banglich bedachte ich mir. . .»: Aus «Der Wahlstreit»: Die drei 
Dinge. 

136 Kolonen: Personlich freie, aber (erblich) an ihren Landbesitz 
gebundene Pachter in der rdmischen Kaiserzeit. 

137 Pippin dem Kleinen: Pippin III., 714-768, Vater Karls des Grofien. 
Childerich. . . abzusetzen: im Jahre 75 1/ 52. 

Widukindy unterwarf sich im Jahre 785. 
139 Herzog Tassilo } Herzog von 748 - 782. 



141 Wolfram von Eschenbach, um 1170 bis nach 1220, bedeutendster 
mittelhochdeutscher Dichter, «Parzival», <<Willehalm>>, «Titurel». 

Hartmann von der Aue, um 1170 bis nach 1210, mittelhochdeut- 
scher Dichter, «Erec», «Iwein», «Der arme Heinrich». 

145 nach dem Worte Kegels: Siehe Hinweis zu Seite 61 . 

149 Ludwig der Fromme, 778 - 840, seit 814 Kaiser, abgesetzt nach 
der Schlacht auf dem Liigenfelde 833. Im Jahre 843 Teilung des 
Reiches. 

150 ...werden diese Wissenschafien gelehrt: Die sogenannten «sieben 
freien Kiinste»: Grammatik, Logik, Dialektik, Arithmetik, Geo- 
metric, Astronomie, Musik. 

151 «Zwar bin ich gescheiter als alle die Laffen...»: Goethe, «Faust I», 
Nacht, 366-367. 

152 Karl III, der Dicke, 839-888, Kaiser seit 881, 887 abgesetzt. 

1 53 Arnulf von Kdrnten, um 850 - 899, Kaiser von 896 - 899. 

155 Auf die Karolinger folgte. . .: 
Karolinger bis 
Konrad I. (Franke) 
Sachsisches Haus: 



Frankisches (Salisches) Haus: 





911 






911- 


918 


Heinrich I. 


918- 


936 


Otto I. 


936- 


973 


Otto n. 


973- 


983 


Otto m.(983) 


996- 


1002 


Heinrich It. 


1002- 


1024 


Konrad II. 


1024- 


1039 


Heinrich HI. 


1039- 


1056 


Heinrich IV. 


1056- 


1106 


Heinrich V. 


1106- 


1125. 



156 Schlacht bei Lowen: flamisch Leuven , im Jahre 89 1 . 

156/157 finnisch-ugrische Volkerschafien..., die Magyaren: In das Donau- 
Theifi-Gebiet, um das Jahr 900. 

159 Adalbert von Preufien, eigentlich Adalbert von Prag, Apostel der 
Preufien, seit 982 Bischof von Prag, starb 997 den Martyrertod, 
war befreundet mit Kaiser Otto DDE. 

Cluny: War Ausgangspunkt der auf Befreiung der Kirche von der 
Herrschaft des Kaisertums gerichteten Reformation. 

160 Gregor VIL, Monch Hildebrand, Papst von 1073 - 1085. 



160 Diese Gesinnung... ist von... Dante als gerecht anerkannt: In sei- 
nem Buche «De Monarchia». 

163 «Wa$ ihr den Geist der Zeiten heifit...»: Goethe «Faust I», Nacht, 
577-579. 

169 Konrad von Marburg, Beichtvater der heiligen Elisabeth von Thii- 
ringen, papstlicher Inquisitor; wurde 1233 von Rittern erschlagen. 

Albertus Magnus, 1193-1280, Dominikaner, scholastischer Philo- 
soph, Doctor universalis. 

Kaiser Friedrich Barbarossa, 1 125 - 1 190, Kaiser seit 1 1 55. 
171 Johannes Tauler, um 1300-1361. 

Heinrich Suso, 1295-1366, deutsche Mystiker. 
«Theologia deutsch» Siehe Hinweis zu Seite 215. 

175 Vineta (Wendenstadt): Wendischer Handelsplatz des Nordens auf 
der Insel Wollin (Ostsee), im 10. und 11. Jahrhundert. 

176 Tizian, um 1476 - 1576, italienischer Maler. 

Kaspar Zollner, erfand 1498 die gezogenen Laufe fur Gewehre 
(nach Reinhold Gunther, «Deutsche Kulturgeschichte», Leipzig 
1902). 

180 Im ersten richtigen Kreuzzug: 1096-1099 unter Gottfried von 
Bouillon, gestorben 1100. 

Rudolf von Schwaben, Gegenkonig zu Heinrich IV., wurde 1077 
gekront. 

Ghibellinen: Staufen-Anhanger. 

Guelfen: Vertraten die papstlichen Interessen. 

Bemhard von Clairvaux, 1090-1153, Abt, Kreuzzugsprediger. 
Frieden von Konstanz: 1183. 

182 Unter dem Staufenkaiser Friedrich II. (1215-1250) geschah derMon- 
goleneinfall: Schlacht bei Liegnitz im Jahre 1241. Die Mongolen 
siegten, zogen sich aber aus nicht leicht verstandlichen Griinden 
zuriick. 

183 Jacob von Molay, um 1250-1314, letzter Groftmeister des Temp- 
lerordens. 



183 Albert von Bremen: Albert von Buxhovden, urn 1165-1229, 
Bischof und Griinder von Riga. Missionar der baltischen Lander. 

1 84 Richard von Cornwall, 1209 - 1272. 

Alfons von Castilien, 1226 - 1284, regierte 1252 - 82. 

Rudolf von Habsburg, 1218 - 1291, Kaiser ab 1273. 

Heinrich Jasomirgott, Markgraf und Herzog von Osterreich, 
1114-1177. 

186 Einfdlle der Turken: ab 1353. 
Ottokar von Bohmen, 1230 - 1278. 

Auf stand der Schweizer Eidgenossen und Bildung der Eidgenossen- 
schaft. Bundesbrief 1291. 

Albrechtl. von Osterreich, Kaiser von 1298-1308. 

187 Adolf von Nassau, Kaiser von 1292 - 1298. 
Heinrich VII. von Luxemburg, Kaiser von 1308-1313. 

188 So wurde der Papst nach Avignon gefuhrt: Er residierte dort von 
1309-1377. 

Karl IV., Karl von Luxemburg: Regierte 1346-1378, Kaiser seit 
1355. 

189 Kaiser Sigismund, regierte von 1410 - 1437. 

190 Konzil von Konstanz: 1414-1418. 

Girolamo Savonarola, 1452-1498, Dominikaner in Florenz, Geg- 
ner der Medici, sittlicher Prediger und Reformer, als Ketzer ver- 
brannt. 

Jean le Charlier de Gerson, 1363-1429, einer der gelehrtesten 
Theologen des 15. Jahrhunderts. 

19 1 Kaiser Friedrich III, 1415 - 1493, Kaiser seit 1452. 

192 Armer Konrad: Bauernbund im Bauernaufstand 1514 in Wurttem- 
berg, Anfiihrer Gotz von Berlichingen. 

Bundschuh: Namen und Feldzeichen aufstandischer Bauernver- 
bande, seit 1493. 

193 Johannes Reuchlin, 1455 - 1522, deutscher Humanist. 

Erasmus von Rotterdam, 1466-1536, Gelehrter und fuhrender 
Humanist. 



193 Bartolomeo Diaz, 1450 - 1500, Portugiese. 

194 Vasco da Gama, 1469 - 1525, portugiesischer Seefahrer. 

Christoph Kolumhus, 1451 - 1506. 

199 Gnosis: Wesentlichste Erkenntnislehre der ersten christlichen 
Jahrhunderte. Hauptvertreter Origenes und Klemens von Alex- 
andrien. Siehe Hinweis zu Seite 87. Vgl. auch Rudolf Steiner 
«Christus und die geistige Welt» (6 Vortrage, Leipzig 1913/14), 
GA Bibl.-Nr. 149. 

Dionysius Areopagita: Erster Bischof von Athen, von Paulus be- 
kehrt, Martyrer. «Schriften» in zwei Banden, 1823. 

201 Dies ist bei Aristoteles klar ausgefuhrt: In der «Metaphysik», Pader- 
born 1951,KapitelXI. 

209 Goethe sagt: «Denn solang du das nicht hast. . .»: In seinem Gedicht 
«Selige Sehnsucht», 5. Strophe. 

210 Johannes von Ruysbroek, 1293-1381, flamischer Mystiker, Prior 
im Augustinerkloster Groenendaal. Werk «Die Zierde der geist- 
lichen Hochzeit» 1350, deutsch 1923. 

Nikolaus von Kites, 1401 - 1464, Philosoph und Kardinal. 

2 1 1 Konzil von Basel: 1431- 1443. 

«Bruder des gemeinsamen Lebens»: (Fratres communis vitae). Aus 
der «Devotio moderna» im 14. Jahrhundert allmahlich sich ent- 
wickelnde Form einer klosterlichen Gemeinschaft ohne bindende 
Geliibde. Siehe auch Seite 192. 

212 «De docta ignorantia»: Erschien im Jahre 1440. 

Johannes Muller, 1801 - 1858, Physiologe, Anatom, Naturforscher. 

Hermann von Helmholtz, 1821-1894, Mediziner und Natur- 
forscher. 

215 «Theologia deutsch». Ein Neudruck derselhen ist nach einer Hand- 
schrift von 1497 durch Franz Pfeijfer besorgt worden: Siehe Georg 
Baring «Bibliographie der Ausgaben der Theologia deutsch» 
(1516-1961). 

218 Karl Julius Schrder, 1825-1900, osterreichischer Literarhistoriker, 
Professor fur Literatur an der Technischen Hochschule in Wien. 
Siehe Rudolf Steiner «Mein Lebensgang», Seiten 54 - 58, Bibl.-Nr. 28. 



219 Herman Grimm, 1828 - 1901, deutscher Kunst- und Lkerarhistori- 
ker. 

Henrik Ibsen, 1828-1906. 

EmileZola, 1840-1902. 

Lew Nikolajewitsch Graf Tolstoi, 1828 - 1910. 

221 Julien Offray de Lamettrie, 1709-1751, franzosischer materialisti- 
scher Philosoph. Hauptwerk: «L'homme-machine.» 

Schon Goethe klagt. . .: In «Dichtung und Wahrheit», 11. Buch. 

Paul H. D. Baron d'Holbach, 1723 - 1789, franzosischer atheisti- 
scher Philosoph, gehorte zu den Pariser Enzyklopadisten. Haupt- 
werk: «Systeme de la nature.* 

Jean Jacques Rousseau, 1712-1778, franzosischer Kulturphilosoph 
schweizerischer Herkunft. 

223 Friedrich Gottlieb Klopstock, 1724-1803, Hauptwerk: «Messias». 

224 Marquis Posa: Eine der Hauptgestalten in Schillers Drama «Don 
Carlos». 

225 In seinen «Briefen uber die dstbetiscbe Erziehung. . .»: Im 12./ 13. und 
14/15. Brief. 

230 « Wie alles sich zum Ganzen webt. . .»: «Faust I», Nacht, 447. 

23 1 Wolffsche Pbilosopbie: Christian von Wolff, 1679 - 1754, Philosoph 
und Mathematiker, Professor in Halle. 

John Locke, 1632-1704, engl. Philosoph. 

233 «Gerne dien' ich den Freunden...»: Schiller «Die Philosophen, 
Gewissensskrupel». 

236 Christian Gottfried Korner, 1756-1831, Freund Schillers. Spater 
preufiischer Staatsminister. 

238 «Nur durch das Morgenrot des Schdnen...»: Schiller in seinem 
Gedicht «Die Kunstler». 

239 Johann Kaspar Friedrich Manso, 1760-1826, in seiner Schrift 
«Gegengeschenk an die Sudelkoche von Weimar und Jena. Poeti- 
sche Epistel», Leipzig 1797. 

241 Gotthold Ephraim Lessing, 1729 - 178 1. 



241 «Wenn Gott vor mir stiinde...»: In «Theologische Schriften.» Les- 
sings samtliche Schriften, herausgegeben von Karl Lachmann, 
Leipzig 1897, Band 13, Seite 23 ff. 

243 Prosahymnus an die Natur: In «Goethes Naturwissenschaftliche 
Schriften>>, herausgegeben und kommentiert von Rudolf Steiner 
in Kurschners ^Deutsche National-Litteratur» (1883-97), Nach- 
druck Dornach 1975, GA Bibl.-Nr. la-e; Band 2, Seite 5-7. 

246 Was Hebbel als notwendige Voraussetzung des Tragischen fordert: 
Friedrich Hebbel (1813-1863) in «Vorwort zu <Maria Magda- 
lena»>: «...denn das Tragische mufi als ein von vornherein mit 
Notwendigkeit Bedingtes, als ein, wie der Tod, mit dem Leben 
selbst Gesetztes und gar nicht zu Umgehendes auftreten.» 

248 «Konnte (man) Ibnen zeigen, ...»: Brief Schillers an Goethe vom 
1. Marz 1793. 

Es erinnert diese Auffassung an ein Gesprach Schillers mit Goethe. . .: 
Siehe Brief Schillers an Wilh. v. Humboldt am 9. November 1795 
in «Briefwechsel zwischen Schiller und Wilhelm von Humboldt*, 
Stuttgart 1900. 

249 Schillers Auffassung. . . die Hebbel spdter formulierte: Siehe Hinweis 
zu Seite 246. 

250 Thomas Carlyle, 1795-1881, englischer Historiker. 

25 1 «Max> bleibe bei mir. . . »: «Wallensteins Tod», 3 . Aufzug, 1 8 . Auftritt. 

253 Edouard Schure, 1841-1929. «Sanctuaires d'Orient» wurde von 
Marie Steiner-von Sivers ins Deutsche ubersetzt unter dem Tkel 
«Die Heiligtiimer des Orients*, Leipzig 1923. 

Richard Wagner, 1813-1883. 

258 «Doch was ihr tut...»: «Wilhelm Tell», 1. Aufzug, 3. Szene. 

259 Friedrich Theodor Vischer, 1807- 1887. 

Eduard von Hartmann, 1842-1906. 

Gustav Theodor Fechner, 1801 - 1887. 

259/260 «Demetrius»...«nicht uber Sklaven herrschen wollen»: Erster 
Aufzug: Demetrius in Unterredung mit dem Konig. Wortlich: 
«Ich will nicht herrschen uber Sklavenseelen.» 

261 Wilhelm von Humboldt: «Er wurde der Welt. . .»: Aus dem Kapitel 
«Vorerinnerung» zu «Briefwechsel zwischen Schiller und Wil- 
helm von Humboldt», Stuttgart 1900. 



261 Karl Gutzkow, 1811 - 1878. 

263 Caroline von ScblegeL, 1763 - 1809, Gattin von August Wilhelm von 
Schlegely 1767-1845, spater verheiratet mit Schelling. 

264 Friedrich von Schlegel, 1772-1829, Bruder von August Wilhelm 
von SchlegeL 

264/265 Das Wort Scbillers: «Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er 
spielt»: in «Uber die asthetische Erziehung des Menschen», Fiinf- 
zehnter Brief. 

265 Ludwig Tieck, 1773-1853, Dichter der Romantik. 

265 Theodor Kdmer> 1791 - 1813, Dichter, starb den Heldentod in den 
Befreiungskriegen. 

266 Korners Vater: Christian Gottfried Korner, 1756-1831, Schrift- 
steller. 

In einem Buck uber Schiller: «Schiller-Reden» gehalten von Jacob 
Grimm, Ludwig Doederlein, Friedrich Theodor Vischer, August 
Stoeber, Carl Grunert, Karl Gutzkow u.a. Ulm 1905. 

Jakob Grimm, 1785-1863, Sprachwissenschafter. 

Ernst Curtius, 1814- 1896, Archaologe und Historiker. 

Moriz Carriere, 1817- 1895, philosophischer Schriftsteller. 

270 Otto Brahm, 1856-1912, Literarhistoriker und Kritiker, Mitbe- 
grunder der Freien Buhne in BerHn. 

Scherer-Scbule: Wilhelm Scherer, 1841-1886, Germanist, Profes- 
sor fur Literaturgeschichte in Berlin. 

Peter von Cornelius, 1783-1867, deutscher Maler; Nibelungen- 
kartons. 

271 Jakob Minor, 1855 - 1912, Literarhistoriker. 

273 « Welcbe Religion ich bekenneh: Schiller, Votivtafeln, Nr. 30 «Mein 
Glaube». 

276 Christian von Wolff, 1679-1754, Philosoph und Mathematiker, 
Professor in Halle. 

Alexander Gottlieb Baumgarten, 1714-1762, Philosoph. 
Sokrates, um 470-399 v.Chr. 

277 Ascbylos, um 525 bis um 455 v. Chr. 



279 «Das <Was> bedenke...»: Goethe: Ausspruch des Homunculus in 
«Faust» II, Laboratorium, 6992. 

280 Goethe gibt dem Ausdruck, indem er das Scbone eine Manifestation 
der Naturgesetze nennt: Maximen und Reflexionen 183. 

282 «Weit hinter ihm in wesenlosem Scheine...*: Goethe, Epilog zu 
Schillers «Glocke». 

283 «Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben. . .»: «Faust» II, Palast 
11575. 

287 Wolfgang Kirchbach, 1857-1906, Schriftsteller, eine der leitenden 
Personlichkeiten des Giordano Bruno-Bundes. 

292 Wilhelm Ostwald, 1853 - 1932, deutscher Physiker, Chemiker und 
Philosoph. Auf der Naturforscherversammlung in Liibeck 1895 
hielt er eine Rede iiber «Die Uberwindung des Materialismus». 
Siehe auch sein Werk «Vorlesungen iiber Naturphilosophie», 
1902. 

. . . eine Zeitschrift gegrundet worden: «Annalen der Naturphiloso- 
phie», herausgegeben von Professor Wilhelm Ostwald, 14 Bande, 
1901-1921. 

299 Tycho de Brake, 1546 - 1601, danischer Astronom. 

302 Maurice Maeterlinck, 1862-1949, belgischer Schriftsteller; sein 
Werk «Die Hochzeit der Bienen» erschien auf deutsch 1901 in 
Jena. 

304 Angelas Silesius (Johannes Scheffler), 1624-1677. «Obn > mich 
kbnnf Gott...»: Wortlich: «Gott mag nicht ohne mich ein einzigs 
Wiirmlein machen, Erhalt ich's nicht mit ihm, so mufi es stracks 
zerkrachen», in «Der Cherubinische Wandersmann». 

307 Ludwig Buchner, 1824-1899, materialistischer Philosoph, be- 
kanntestes Werk «Kraft und Stoff» 1855. 

311 Monismus und Theosophie: Uber diesen Vortrag schreibt Rudolf 
Steiner an Wilhelm Hiibbe-Schleiden am 13. Oktober 1902 (vgl. 
«Briefe Band II», Bibl,-Nr. 39): 

«Es war mir iiberraschend, wieviel Interesse ich mit meinem Vor- 
trag <Monismus und Theosophio (im Giordano-Bruno-Bund) ge- 
funden habe. Wolfgang Kirchbach fiihrte am Abend des Vortrags 
den Vorsitz, und auch er war im hochsten Mafte interessiert. Das 
war ein Publikum, das daran gewohnt ist, auf Grundlage der 
Haeckelschen Anschauungen iiber Monismus zu horen. Uber- 
morgen wird eine offentliche Diskussion iiber meinen Vortrag 



stattfinden. Im Verlauf des Vortrags habe ich auch Mrs. Besant 
und ihre ganze Geistesart charakterisiert. Es wird jetzt eben alles 
davon abhangen, ob wir imstande sind, so zu wirken, dafi man 
uns durch den Anschlufi an die theosophische Bewegung nicht 
kompromittiert findet. Ich wufite, was ich an dem Abend ris- 
kierte. Aber wir haben ein starkes Entweder-Oder notig. Der 
Graf Hoensbroech verliefi nach meinen ersten Satzen den Saal. Vor 
den ubrigen mehr als dreihundert Menschen habe ich IV4 Stunden 
unter - das darf ich wohl sagen - gespanntester Aufmerksamkeit 
gesprochen. 

Ich gebe mich gewifi keinen Illusionen hin, aber ich denke, die 
anwesend waren, haben zum grofiten Teil das Bewufitsein davon- 
getragen, dafi sie da vor etwas stehen, an dem sie nicht voriiberge- 
hen durfen. Und dies Publikum des Giordano-Bruno-Bundes 
kennt mich als einen Menschen, der in den Naturwissenschaften 
wohl Bescheid weifi. - Auch an diesem Tage hatte ubrigens, wie 
mir gesagt wird, [Franz] Hartmann seine Berliner Anhanger bei 
Raatz am Plan-Ufer vereinigt. Von dem, was sich in Berlin Gros 
der Theosophen nennt, war also nichts da. 

Und ich kam den Leuten mit echt deutscher Theosophie. Der 
mittlere Teil meines Vortrags war eine Interpretation des Satzes, 
den I. H. Fichte 1833 in seinem Buche uber <Selbsterkenntnis> 
geschrieben hat: 

<Hat sich das Ewige selbst als der unendlich sich offenbarende 
Geist gezeigt, so ist darin zugleich die hochste Vermittlung aller 
Erkenntnisstufen und entgegengesetzten Standpunkte des Be- 
wufitseins gewonnen. Die Philosophic ist Theosophie geworden.> 
. . . Nun wollen wir sehen, was wird. . .». 

312 nach Haeckel im 22. Gliede seiner organischen Ahnenreihe: «Natiir- 
liche Sch6pfungsgeschichte» 2. Band, 2. Teil: Allgemeine Stam- 
mesgeschichte, Tierische Ahnenreihe oder Vorfahrenkette des 
Menschen; Berlin 1898 und «Uber den Stammbaum des 
Menschengeschlechts», Vortrag in Jena 1865. 

312 David Friedrich Strang 1808-1874, deutscher freigeistiger prote- 
stantischer Theologe, . . . hat es gepriesen y dafl die Naturwissenschaft 
uns vom Wunder erlost hat: in seinem Werk «Der alte und der neue 
Glaube», Bonn 1881. 

Carl von Linne t 1707- 1778, Botaniker, ...im 18. Jahrhundert sag- 
te...: in «Genera plantarium» 8. Aufl. Vindo bonae 1791, Band I, 
Seite IV. 



313 Adolf von Harnack, 1851-1930, evang.-liberaler Kirchenhistori- 
ker, «Das Wesen des Christentums», 4. Aufl. Leipzig 1901, S. Ulff. 

Robert G. Ingersoll, «Moderne Gotterdammerung», deutsch von 
Wolfgang Schaumburg, Leipzig o. J. 

Galileo Galilei, 1564-1642. 

314 ...erschien von dem Sdhne Fichtes ein Buch: Immanuel Hermann 
Fichte, 1797-1879, Philosoph und Psychologe, «Grundzuge zum 
Systeme der Philosophie» Erste Abteilung: Das Erkennen als 
Selbsterkennen. Heidelberg 1833. 

«Betrachten wir die Naturwesen. . .»: a.a.O. Seite 316 ff. 

315 (Ludwig) Feuerbacb. . . der da sagt, der Mensch bat Gott nacb seinem 
Bilde gescbaffen: In «Das Wesen der Religion», Leipzig 1851, S. 
224, heifk es wortlich: «Denn nicht Gott schuf den Menschen 
nach seinem Bilde, wie es in der Bibel heifit, sondern der Mensch 
schuf. . . Gott nach seinem Bilde.» 

Duboc hat die Theosophie eine weibliche Philosophie genannt: 
Charles Eduard Duboc, 1822-1910, Dichter und Schriftsteller, in 
der Zeitschrift «2ukunft», Hg. Maximilian Harden, Jahrg. 1901, 
1. Marzheft, Berlin. 

316 Antoine Wiertz, 1806-1865, belgischer Maler, lebte in Briissel 
(Wiertz-Museum). 

Otto Lebmann-Rufibuldt, Schriftsteller, Geschaftsfiihrer und zeit- 
weise 2. Vorsitzender des Giodano Bruno-Bundes. 

318 In den Schriften der Vedantaphilosophie: Brihadaranyaka Upanis- 
had 3,2,1 Iff.: «. . . <Yajnavalkya>, sprach Qaratkarava Artabhaga], 
<wenn nun die Stimme des verstorbenen Menschen ins Feuer ein- 
geht, sein Odem in den Wind, sein Auge in die Sonne, sein Geist 
in den Mond, sein Gehor in die Himmelsgegenden, sein Leib in 
die Erde, sein Selbst in den Raum, sein Korperhaar in die Pflan- 
zen, sein Kopfhaar in die Baume, sein Blut und Same ins Wasser, 
wo bleibt dann der Mensch?> <Reiche mir deine Hand, lieber Art- 
abhaga^ sprach er. <Wir beide wollen darum allein wissen. Nicht 
gehort unser Wissen vor die Leute.> Sie gingen beide hinaus und 
unterredeten sich. Was sie besprachen, davon sprachen sie als von 
dem Karman. Gut wird einer durch gute, schlecht durch bose Tat. 
Darauf schwieg Jaratkarava Artabhaga.» Zitiert nach «Upanisha- 
den», Diederichs Taschenbuchausgaben, 1964. 



SACHWORT- UND NAMENREGISTER 



Abdera 28 

Abendmahl 144 

Adalbert von Bremen 161,183 

Adalbert von Preufien 159 

Achilleus 40 

Adel 128, 140, 150, 154, 164, 166, 

174, 181, 184 
Adolf von Nassau 187 
Adrianopel 116 
Agypten 34, 35, 131, 204, 214 
Aonenlicht 214,215 
Aschylos 253, 255, 277 
Asthetik 259,267,271,276 
Afrika 117, 193 

Nordafrika 132 
Agrigent 22 
Alanen 110 
Alarichl. 116 
Albertus Magnus 169 
Albrecht I. (Kaiser) 186 
Albrecht von Osterreich 187 
Alessandria 180 
Alexander der Grofie 37, 133 
Alexandria (Alexandrien) 45, 87 
Alfons von Castilien 184 
Amerika 96 

Amiens, Peter von 166, 179 
Ananda 214-216 
Anaxagoras 23,27 
Anaximander 19,21 
Anaximenes 21 

Angelus Silesius 18, 49, 208, 304 
Angelsachsen (Volk) 129 
Angelsachsen (Land) 133 
«Annalen fur Philosophie» 239 
Apollonius (von Tyana) 85 



Aquino 42,48 

Aquitanien 121 

Araber 131-133, 142, 143, 159 

Arianismus, Arius 90, 96, 110, 

111,119, 130 
Arier 107 
Aristophanes 28 
Aristoteles 17, 19, 21, 22, 26, 36- 

42, 44, 50, 51, 53, 120, 133, 201, 

202, 206, 268, 276, 277,280 
Arithmetik 151, 152 
Arius, Arianismus 90, 96, 110, 

111, 119, 130 
Arnulf von Karnten 153,156 
Asen 108, 113 
Asien 131,132 
Asoka 97 

Astronomic 151,152,211 
Asura 108 

Athanasius 90, 110, 111 
Athen 23, 34, 35, 37, 43 
Attila 121, 122 
Audhumbla 108 
Augustinus 46, 48, 52, 203, 313 
Augustus 73, 86 
Avignon 188 
Awaren 139 



Bacon, Francis von Verulam 66, 
305 

Barbarossa, Friedrich 169, 180, 
181 

Barnabas (Joses) 89 
Basel, Konzil von 211 
Bauernbiindnisse 192 



Baumgarten, Alexander Gottlieb 
276 

«Asthetica» 276 
Bayern(Volk) 139 
Bayern (Land) 138, 139, 155 
Beamte 82-84, 128, 142, 147, 150, 

163, 173, 191 
Bergen (Stadt) 175 
Berlin 94,271,304 
Bernhard von Clairvaux 180 
Bibeliibersetzung 110, 116, 172 
Bildung 85, 152, 164, 165 
Bischof 156, 159, 164, 166, 173, 

177 

Bistum 156, 161, 187, 190 
Blutsgemeinschaft 112 
Bohme, Jakob 49 
Bohmen (Land) 188,189 
Bohmen, Ottokar von 186 
Bonifatius, Winfried 129 
Bouillon, Gottfried von 180, 
182 

Brahe, Tycho de 299, 303 
Brahm,Otto 270 
Brandenburg (Land) 106, 115, 
188 

Brandes, Georg 66 

Bremen, Adalbert von 161, 183 

Breslau 175 

Britische Inseln 129 

Briidergemeinden 103 

Bruno, Giordano (s.a. Giordano- 
Bruno-Bund) 52, 143, 212, 215, 
227, 230, 292,315 

Buchdruckerkunst 97, 101, 125, 
192 

Biichner, Ludwig 62, 269, 273, 

307,311 
Burger, Gottfried August 235 



Bunsen, Robert Wilhelm 267 

«Spektralanalyse» 267 
Burgund (Land) 160 
Burgunder(Volk) 115,121 
Buttler (aus Schillers «Wallen- 

stein») 250 
Byzanz 116 

Casaren 81,84,86,90,92 
Caligula 84 
Canossa 160, 161 
Caracalla, Marcus Aurelius 81, 
92 

Carlyle, Thomas 250 
Carriere, Moriz 266 
Cartesius (Rene Descartes) 52, 
53 

Cams, T. Lucretius 44 
«Uber die Natur» 44 

Castilien, Alfons von 184 

Chatten 106, 112 

Chemie 97, 132, 143 

Cherusker(Volk) 127 

Childerich m. 137 

China 162 

Chinesen 113 

Chit 214-216 

Chlodwig 111, 162 

Christentum 46, 51, 73-75, 83, 
84, 87-92, 109-111, 117, 119, 
120, 122, 123, 125, 129-132, 
134, 144, 146, 148, 158, 162, 
180-184, 189, 190, 193, 278, 
317 

Christus (s.a. Jesus) 46, 47, 49, 
111, 130, 160, 165, 166, 182, 
204, 207,210 

Chrypff , Nikolaus, von Kues 
s.u. Nikolaus von Kues 



Cicero, Marcus Tullius 31 
Clairvaux, Bernhard von 180 
Clermont (Stadt) 179 
Cluniazenser 159 
Cluny 159, 160 
Columban 129 
Cornelius, Peter 270 
Curtius, Ernst 266 
Cusanus s. Nikolaus von Kues 
Cypern 43,89 
Cyrene 34 

Danen 139,156 

Dante, Alighieri 17,68,101,160, 
170, 268 

Darwin, Charles 23, 61, 266, 298 

«Die Entstehung der 
Arten» 61, 266 

«Der Kampf urns Dasein» 23 
Demokrit 23,24 
Descartes, Rene 52, 53 
Deutsche 103, 107, 129 
Deutschland 66, 97, 107, 109, 

125, 147, 150, 152, 154, 159, 

166, 167, 169, 170, 171, 184, 

211,222,225,238,315 

Mitteldeutschland 175 

Norddeutschland 175 

Suddeutschland 99, 171, 174 
Devas 108 
Dialektik 150, 151 
Diaz, Bartolomeo 193 
Diogenes (von Sinope) 31 
Dionysios Areopagita 199, 200 
Dionysos 253,255,277 
docta ignorantia, De 199-216 
Dogma, Dogmatismus 83, 84, 89, 

90, 94, 129, 132, 144, 165, 166, 

183 



Dogmenrecht 83 
Doktor 151 
Dominikaner 182, 188 
Donau 106, 109, 114, 116, 145 
Dorfgemeinschaft 112, 113, 147 
Drama, griechisches 247, 249, 
277 

Dreifiigjahriger Krieg 242 
Dresden 229,261 
Dualismus 230-232, 234, 288-290, 
318 

Duboc, Julius 315,316 

Du Bois-Reymond, Emil 57, 271 

Eckermann, Joh. Peter 263 
Eckhart, Meister 49, 151, 171, 

199, 204, 207-209,212 
Edda 107 
Eigentum 112,113 
Elbe 105,152 
Eleusinische Mysterien 253 
Elsafi 192 

Empedokles 22,23,27,28 
England 125, 133, 144 
Entdeckungen, grofie 97, 124, 

125, 162, 185, 193 
Epikur, Epikureer 42, 44 
Erasmus von Rotterdam 193 
Erfindungen, grofie 97, 101, 124, 

125, 162, 185 
Erfurt 138, 175 
Erinnyen 250 
Essaer 97 
Euklid 32-35 
Euripides 23,253 

Fechner, Gustav Theodor 259, 
266, 267 

«Vorschule der Asthetik» 266 



Feuerbach, Ludwig 62, 315 
Fichte, Immanuel Hermann 314 
Fichte, Johann Gottlieb 59, 60, 

172,314 
Finnen(Volk) 156 
Florenz 191 

Franken (Volk) 110, 115, 117, 
119-131, 133, 136-139, 146, 148, 
150, 162 
Franken (Land) 144, 155, 160 
Frankfurter, «Der Frankfurter* 
216 

«Theologia deutsch» 215, 216 
Frankreich 85, 86, 99, 116, 125, 

152, 154, 167, 171, 188, 221, 238 

Siidfrankreich 121, 177 
Franziskaner 182 
Freidenker, «Der Freidenker» 

285-319 

Freiheit, Freiheitsbewufitsein 
104, 118, 145, 154, 169, 172, 173, 
222, 274, 275 
Friedmann, Dr. Hermann 287 
Friedrich H. (Kaiser) 182 
Friedrichm. (Kaiser) 191 
Friedrich Barbarossa 169, 180, 
181 

Friesen 106, 112, 127 
Fiirsten 147, 166, 185, 186, 188, 
194 

Galilei, Galileo 51, 313, 315 

Gallien 115,117,118 

Gallier 111 

Gallus 129 

Gama, Vasco de 194 

Geist, s.a. Heiliger Geist 203 

Geistige Hebammenkunst 30, 36 

Gelassenheit 208 



Geldwirtschaft 116, 131 
Gemeineigentum 112, 135 
Geometrie 151, 152 
Gepiden 110, 122, 126 
Germanen 75, 90-92, 98-100, 103- 

107, 109, 111-117, 119, 121, 123, 

125-127, 129, 133-135, 140, 147, 

159, 183 
Germanien 91,97 
Gerson, Jean Charlier de 190 
Geschichte 96 
Geschichte des Mittelalters 

94-105 

Romische Geschichte 73-93 
Ghibellinen 180 
Giordano-Bruno-Bund fur ein- 

heitliche Weltanschauung 

285-319 
Globe Theater 70 
Gnosis 199,203,214 
Gobineau, Jos. Arthur Graf von 

317 

Goethe 20, 59, 62, 64, 66, 96, 
151, 209, 218, 219, 221, 225, 
230, 232-240, 243, 245, 248, 
249, 256, 261-265, 267-271, 275, 
277,279-283,303 
«Epilog zu Schillers Glocke» 
261 

«Egmont» 235 

«Faust» 151, 230, 234, 238, 
271 

«Grofikophta» 281 
«Hymnus an die Natur» 230 
«Iphigenie» 235 
Metamorphosenlehre 293, 294 
Urpflanze 236 

«Wilhelm Meister» 238, 239, 
248, 263 



«Xenien» 239,263 
Georgias 28 

Goten (s.a. Ostgoten, Westgo- 
ten) 110, 111, 117-119, 121-123, 
125, 126, 146 

Gotik 177 

Gottesfreund aus dem Oberland 
209 

Gottfried von Bouillon 180, 182 
Gottfried von Strafiburg 171 
Gracchen 100 
Gracchus 79 

Graf, s.a. Landgraf 139,147,149, 
156 

Grammatik 150 

Gregor VDL 60, 164, 165, 180 
Griechen 98, 99, 103, 104, 109, 

202, 238, 268 
Griechenland 29, 34, 82, 98, 100, 

101, 103, 104, 106, 107, 133, 

150, 193,277 
Griechisches Drama 247, 249 
Griechische Kultur 19, 41, 98, 

146 

Griechische Dramatik 277 
Griechisches Mysteriendrama 
253 

Griechische Tragodie 253, 254, 
257 

Griechische Weltanschauung 

17-45, 47, 52 
Grimm, Herman 219, 270, 275 
Grimm, Jakob 266 
Grofigrundbesitz 118, 119, 127- 

129, 136, 139, 142, 149, 154, 157 
Grundbesitz 100, 126, 128, 136, 

138, 140, 141, 144, 149, 155, 

185 
Guelfen 180 



Gunther(Waltharilied) 121 
Gutenberg, Johann Gensfleisch 

zum 192 
Gutzkow, Karl 261,266 



Habsburg, Rudolf von 184, 186 
Habsburger 184 
Hadrian 81 

Haeckel, Ernst 59, 61, 298, 299, 

300, 303, 308, 312 

«Weltratsel» 298-300 
Hagen von Tronje (Waltharilied) 

121 

Hagenau(Elsafi) 192 

Halys (Flufi, jetziger Name: Ki- 

sil-Irmak) 19 
Hamburg 175 

Handel 140, 141, 157, 158, 173, 
182 

Handwerk, Handwerker 36, 140, 

157, 158, 169 
HannovonKoln 161 
Hanse 175 

Harnack, Adolf 51,64,313 

«Wesen des Christentums» 51 
Hartmann von der Aue 141 
Hartmann, Eduard von 63, 259, 
273 

«Philosophie des Unbewufi- 

ten» 273 
«Das Unbewufite vom Stand- 

punkte derDeszendenztheo- 

rie und des Darwinismus» 

273 

Hatto von Mainz 153 
Hausmeier 128 

Hebammenkunst, geistige 30, 36 



Hebbel, Friedrich 246, 249, 255, 
258 

«Judith» 258 
Hegel, Georg Wilh. Friedr. 17, 

60, 61, 105, 145, 267, 305, 314 
Heidelberg 171 
Heiliger Geist 203,204 
Heiliges Romisches Reich 74 
HeinrichL 155,157 
HeinrichH. 103,155 
Heinrichin. 155,161,163 
Heinrich IV. 155, 160, 161, 164, 

165, 180 
Heinrich V. 155 
Heinrich der Lowe 181 
Heinrich von Luxemburg 187, 

188 

Heinrich der Stolze 181 
Heliand 130, 165 
Hellenen 98 

Helmholtz, Herm. Ludw. Ferd. v. 

212 
Henosis 206 
Heraklit 21,22,24,27 
Herder, Joh. Gottfried von 103, 

222, 229, 232-234, 241, 263, 266, 

269 

«Ideen zur Geschichte der Philo- 
sophic der Menschheit» 229 
Herkules 106 
Herminonen 106 
Heruler 116, 146 
Herzoge 147, 155, 156, 158, 185, 

186 

Hildesheim 175 
Holderlin, Friedrich 287 

«AndieNatur» 287 
Horige 140, 141, 156, 166, 169 
Hohenstaufen (Stamm) 182,187 



Holbach, Paul Heinrich Diet- 
rich, Baron von 221 
«Systeme de la nature* 221 

Holgers, Maria 287 

Hottentotten 312 

Homer 85, 109, 268 

Horus 204 

Hufe 112,136 

Humanismus 193 

Humboldt, Wilhelm von 133, 
249, 261 

Hume, David 54, 55, 231 

Hunnen 110, 116, 121, 122, 139 

Hus, Johannes 189, 191 

Hypnotismus 316,318,319 



Ibsen, Henrik 219, 226 
Idealismus 257, 261, 273, 275, 

276, 281 
Ilias 107 

Immunitat 137, 138 
Inder 106,109,247 
Indien 97, 193, 194 
Ingersoll, Robert G. 313 
Ingwaonen 106 
Hand 99, 119, 133, 144 
Irmin 106 
Isis 204 
Island 107 
Israel 141 
Istwaonen 106 

Italien 117, 125, 139, 153, 160, 
167, 170, 171, 191, 193, 225, 268 
Norditalien 126, 169, 175, 180 
Siiditalien 35 



Jacob von Molay 183 



Jasomirgott, Heinrich 184 

Jena 235,239,241 

Jerusalem 180 

Jesus (s.a. Christus) 51, 130 

Johannes der Taufer 183 

Johannes (1. Brief des J.) 46 

Johanniterorden 182 

Joses (Barnabas) 89 

Juden 86, 108, 178 

Judentum 45, 46, 86 

Julius (aus Schillers «Philosophi- 
sche Briefe» bzw. «Theosophie 
des Julius») 242, 243, 245, 247 

Justinian I. 125 



Kant, Immanuel 20, 42, 54-57, 
59, 221, 222, 229-234, 242-244, 
249, 276, 279, 281, 290, 295, 313 
«Kritik der praktischen Ver- 

nunft» 230 
«Kritik der reinen Verminft» 

230 

«Kritik der Urteilskraft» 276 
Karl der Grofte 91, 110, 111, 

122, 131, 135, 137-139, 141, 

147-149, 154, 158, 165 
Karl der Kahle 144,200 
Karl HI. 152 
Karl IV. 188 

Karolinger 128, 137, 152, 153, 155 
Karthago 117 

Katalaunische Felder 121, 122 
Kategorischer Imperativ 231, 232 
Katharer 177, 179, 187 
Katharsis 206,277,278,280 
Katholische Kirche 76, 84, 92, 
103, 130 



Kelten 99, 107, 116, 119, 120, 129, 

133, 148 
Kepler, Johannes 51 
Ketzer 169, 177, 179, 180, 187 
Kirchbach, Wolfgang 287, 291, 

293,297, 305 
Kirchhoff, Gustav Robert 267 

«Spektralanalyse» 267 
Kisil-Armak(FlufiHalys) 19 
Kition 43 
Klazomena 23 

Klemens von Alexandrien 87 
Klopstock, Friedrich Gottl. 223 

«Messias» 223 
Kloster 36, 133, 138, 141, 142, 

145, 150, 162, 164, 165, 191, 192 
Kohn (Berlin) 318 
Koln 161, 171, 174, 175, 192 
Konigsberg 221,276 
Konigtum 128, 136 
Korner, Christian Gottfried 266 
Korner, Karl Theodor 229, 236, 

242, 265, 266 
Kolonen 136 
Kolumbus, Christoph 194 
Kompaft 101 
Konradl. 155 
KonradH. 155 
KonradHI. 180 
Konrad von Marburg 169 
KonstantinL 90 
Konstantinopel 212 
Konstanz, Konzil von 190 
Konzil von Basel 211 
Konzil von Konstanz 190 
Konzil von Nicaa 90,111 
Kopernikus, Nikolaus 26, 51, 97, 

125, 143, 194, 210, 298, 299, 

304, 306,315 



Krafft-Ebing, Richard Freiherr 

von 318 
Krebs, Nikolaus von Kues 

s. Nikolaus von Kues 
Kreuzziige 159, 162, 164, 166, 

167, 176, 180, 181, 182, 241 
Kunst 254-256, 270, 272, 275, 

280, 287 
Kusaner, Der 

S. Nikolaus von Kues 
Kyffhauser 181, 182 
Kyniker 31, 32 
Kynosarges 32 
Kyrenaiker (Volk) 32 

Lachmann, Benedikt 305 
Laertes 106 

Lamarck, Jean Baptiste Pierre 

Monetede 298,299 
Lambert von Hersfeld 192 
Lamettrie, Julien Offray de 221 
Landgraf (s.a. Graf) 140 
Lampsakus 23 

Langobarden 106, 126, 130, 139, 

146 
Lateiner 109 
Lechfeld 158 

Lehmann-Rufibiildt, Otto 316, 

318,319 
Leibniz, Gottfried Wilhelm, 

Freiherr von 53 
Lengefeld, Charlotte von 236 
LeoderGrofie 122 
Lessing, Gotthold Ephraim 66, 

241,268, 269, 276, 277 
Linne, Karl von 312 
Lippe(Flufi) 106,109 
Locke, John 54,231 



Logik 42,150,223,244 
Logos 203,207,210 
London 66, 70, 175 
LotharL 149 
Lothringen 160 
Lotze, Rudolf Hermann 305 
Lowen (flam. Leuven) 156 
Lucian 84,85,87 

«DerTraum» 84 
Lucretia 86 

Ludwig der Fromme 149 
Ludwig das Kind 153 
Liibeck 175 
Liigenfeld 149 

Luther Martin 50, 51, 56, 103, 
172 

Luxemburg, Heinrich von 187, 

188 
Lydier 19 

Maeterlinck, Maurice 302 

Magdeburg 175 

Magister 151 

Magyaren 156-158 

Majordomus 128 

Mannheim 226 

Mannus 106, 113 

Manso, Johann Kaspar Friedrich 

239 
Manu 106 
Marburg 169 
Marienburg (Schlofi) 183 
Marhis, Gajus 79 
Marko 102 

Marlowe, Christoph 70 
Martell,Karl 133, 137 
Marx, Karl 61,267 
«Kritik der politischen 
Okonomie» 267 



Materialismus 24, 94, 144, 168, 
200, 220, 221, 227, 272, 273, 
292, 312 

Mathematik 26, 55, 58, 96, 132, 

148, 199 
Mathesis 199 

Mauren 132, 133, 139, 142, 162, 
167 

Mayer, Robert 288 
Mazedonien 37 
Meder(Volk) 19 
Medici (Mediceer) 191 
Medizin 132, 143 
Megara 34 
Megariker 32 

Meister Eckhart 49, 151, 171, 

199, 204, 207-209, 212 
Merowinger 120, 126, 128, 136, 

137 

Merseburg 138 
Mesopotamien 132 
Metaphysik 223 
Michelangelo, Buonarroti 267, 
268, 270 

Militsch (Milicius/Militz/tsche- 
chisch Milec), Johann 103 

Minor, Jakob 271 

Mithras 181, 182 

Mittelalter, Geschichte 94-195 

Mittelaiter, Weltanschauungen 
46-57 

Mitteldeutschland 175 
Monche, Monchswesen 92, 119, 

120, 129, 141-144, 148, 162, 

169, 171, 182 
Mohammed 131, 132 
Molay, Jacob von 183 
Moleschott, Jacob 62 
Mongolen 96, 182, 186 



Monismus 230, 232, 290, 295, 

296, 297,311-319 
Moor, Karl (aus Schillers «Die 

Rauber* 227 
Moral 276, 278 
Morgenland 165, 167 
Moses 241 
Miicke, Johanna 95 
MUller, Johannes 212 
Mtinzen 141 
Musik 151,152,256 
Muspelheim 108 
Mysterien, eleusinische 253 
Mysteriendrama 256,277 

griechisches 253 
Mysterienkult 253 
Mystik (Mystiker) 49, 50, 129, 

142, 171, 176, 177, 199-216 

Nassau, Adolf von 187 
Naturalwirtschaft 116, 131 
Naturwissenschaft 19, 57, 59, 61- 
63, 148, 169, 269, 272, 287-289, 
291, 292, 295, 296, 311-315, 
318 

Neue Weltanschauungen 57-65 
Neumann-Hofer, Otto 68 
Neuplatonismus 45 
Neuzeit,Weltanschauungen 46-57 
Nicaisches Konzil 90,111 
Nicolai 317 
Niederlande 211,242 
Niederosterreich 184 
Nietzsche, Friedrich 43, 247, 253, 
254,256, 272 

«Die Geburt der Tragodie aus 
dem Geiste der Musik» 253, 
256, 272 
Niflheim 108 



Nikolaus von Kues 210-216 
«De docta ignorantia (Von der 

gelehrten Unwissenheit)» 

212, 214, 215 
Nominalismus 168, 182 
Nordafrika 86, 132 
Norddeutschland 175 
Norditalien 126, 169, 175, 180 
Normannen 152, 153, 156 

Oberland, Gottesfreund aus dem 
209 

Octavio (aus Schillers «Wallen- 

stein») 246 
Octavius 80 
Oder 105 
Odoaker 125 
Odysseus 106 

Osterreich, Albrecht von 187 
Osterreich (Land) 139, 150, 153, 
154, 161 

Niederosterreich 184 
Optimaten 79, 80 
Orient 141, 159, 162, 176, 182, 

193 
Origines 87 
Osiris 204 

Ostgoten 110,116,117 
Ostpreufien 183 
Ostwald, Wilhelm 292 
OttoL 155-157 
OttoII. 155 
Otto HI. 155,159 
Ottokar von Bohmen 186 

Paderborn 138 
Palacky, Franz 102,103 
Palastina 86,97, 108, 166, 182 
Papierbereitung 162 



Papst 74, 91, 130, 131, 137, 139, 
153, 160, 161, 164, 180, 183, 
188, 190 

Paracelsus 49,212 

Paris (Stadt) 151,152,190 

Parmenides 24-26,29 
«Uber die Natur» 25 

Parzival 99 

Passau 158 

Paulsen, Friedrich 64 

Paulus, Apostel 47, 199 

Pelasger 98 

Peloponnesischer Krieg 29 

Penzig, Dr. Rudolf 298 

Perikles 23 

Perser 107-109 

Persien 108,163 

Peter von Amiens 166,179 

Petrus 93 

Pfaffe 151 

Pfaffengasse (Rheingegend) 188 
Pfalz 189 
Pfeiffer, Franz 215 
Phidias 85 

Philipp von Mazedonien 37 

Philo,Judaus 45 

Philosophic 52, 57, 143, 223, 

256, 287,314,315 
Physik 27,96,97,223 
Piccolomini, Max (aus Schillers 

«Wallenstein») 250, 251 
Pippin (Sohn Karls des Gr.) 149 
Pippin der Kleine 137, 139 
Plato (s. a. Neuplatonismus) 33- 

38, 45, 120, 129, 146, 151, 199- 

216 

Pleroma 214-216 
Plotin 45 
Poitiers 133 



Polen 161 

Pontifex Maximus 73, 74, 87, 91 
Portugal 193 
Prag 103, 171, 189 
Preuften(Land) 159,183 

Ostpreufien 183 

Westpreufien 183 
Privateigentum 112, 113, 135 
Prodicus 28 
Proletariat 79,80 
Protagoras von Abdera 28, 29 
Protestantismus 313 
Pseudo-Dionysius 200 
Phyrrho 44 

Pythagoras, Pythagoraer 26, 27, 
35,214,215, 230 

Rafael (aus Schillers «Philosophi~ 

scheBriefe») 242 
Raffael,Santi 267,270 
Rationalist 200 
Realismus 168, 182, 280, 295 
Recht, Rechtsprechung 127, 136, 

139, 160, 179 
Recht, Dogmenrecht 83 
Recht, romisches 76, 78, 81, 83, 

100 

Reich (deutsches) 164 

Reich (rom.) 74-77, 79, 86, 89-92, 

97, 98, 103, 115, 116, 146, 163 
Reichel, Eugen 67 
Religion, religios 18, 46, 50, 51, 

53, 56,62, 86-88, 107,111,113, 

119, 131, 132, 165, 253-256, 

273,313-315 
Renaissance 68, 193 
Reuchlin, Desiderius 193 
Richard von Cornwall 184 



Rhein 106, 109, 115, 145, 171, 

174, 175, 188, 192 
Richter, (Rechtsprechung) 128, 

137 

Ried(Ort) 158 

Rittertum 79, 170 

Romer 86, 98, 99, 104, 105, 109, 

111, 115, 116, 146 
Romisches Christentum 117 
Romische Geschichte 73-93 
Romische Kultur 84 
Romisches Recht 76, 78, 81, 83 
Romisches Reich 74-77, 79, 86, 

89-92, 97, 98, 103, 115, 116, 

146, 163 
Romische Weltanschauung 75 
Roland (Rolandsage) 99,102 
Rom 73-77, 79, 80-83, 85-88, 100, 

101, 107, 116, 117, 120, 122, 

129, 130, 133, 144, 161, 165, 

176, 180-182, 184, 190 
Romanischer Baustil 177 
Rotterdam, Erasmus von 193 
Rousseau, Jean Baptiste 221, 222, 

227 

Rudolf von Habsburg 184, 186 
Rudolf von Schwaben 180 
Rufiland 96, 107, 125, 175 
Ruysbroek, Johannes 210, 215 

Sachsen (Volk) 110, 127, 130, 
137, 138, 146, 148, 165 

Sachsen (Land) 155, 161 

Sanger, Fritz 318,319 

Sapieha (aus Schillers «Deme- 
trius» 260 

Sarazenen 167 

Sat 215,216 

Savonarola, Girolamo 190 



Schafer, Dr. (Berlin) 304, 306, 
309 

Schelling, Friedrich Wilhelm 

Johannvon 60,314 
Scherer, Wilhelm 270 
Schieflpulver 101, 162, 176 
Schiller 64,66,69,217-283 

«Uber Anmut und Wiirde» 
235 

«Braut von Messina» 253, 
255-257 

«Briefe iiber die asthetische 
Erziehung des Menschen» 
225, 243,274,277 
Brief an Goethe 64,233 
«Demetrius» 255, 259, 260 
«Don Carlos» 229, 232, 248 
«Fiesco» 227,228,248 
«Geisterseher» 281 
«Gotter Griechenlands» 277 
«Jungfrau von Orleans* 252, 
255 

«Kabale und Liebe» 227, 228, 

248, 268 
«Die Kiinstler» 247 
«Lied von der Glocke» 261, 

263 

«Maria Stuart* 252, 255 
Marquis von Posa (aus «Don 

Carlos») 229,232 
«Naive und sentimentale 

Dichtung» 238 
Octavio («Wallenstein») 246 
«Philosophische Briefe» 242, 

247 

«DieRauber» 227,268 

«Die Schaubuhne als eine mo- 

ralische Anstalt betrachtet» 

226, 279 



«Der Spaziergang» 245 
«Theosophie des Julius» 242, 

243, 245 
«Uber den Zusammenhang 
der tierischen und geistigen 
Natur des Menschen» 223 
«Wallenstein» 239, 240, 242, 

245-252,260, 265 
«Was heifit und zu welchem 
Ende studiert man Univer- 
salgeschichte?» 236, 241 
« Welches ist der Zusammen- 
hang zwischen Materie und 
Geist?» 223 
«Wilhelm Tell* 255, 258 
«Xenien» 239,263 
Schlegel, August Wilhelm 66, 

263-265 
Schlegel, Caroline von 263 
Schlegel, Friedrich von 264 
Scholastik 49, 50, 53, 57, 142, 

143, 168,211,313 
Schopenhauer, Arthur 63, 278, 
305 

Schottland 119, 125 
Schreiber (Vervielfaltiger) 151 
Schreibinstitut 191 
Schroer, Karl Julius 218, 219 
Schure, Edouard 253,277 

«Sanctuaires d'Orient» 253 
Schwaben, Rudolf von 180 
Schwaben (Land) 155,189 
Schwarzes Meer 107,116 
Schweizer Eidgenossen 186, 258 
Schwertbriider 183 
Scotus Erigena 120, 144, 200 

«Uber die Einteilung der Na- 
tur* 120,144 
Seidenweberei 162 



Semnonen 115 

Sensualismus 231 

Shakespeare 66^72, 249, 259, 264, 

268,313 

«Coriolan» 70 

«Hamlet» 69-71 

«HeinrichV.» 67 

«Julius Casar* 70 

«K6nigLear» 70 

«Macbeth» 67,69-71 

«Othelio» 69, 70 

«Richardm.» 249 

«Verlorene LiebesmUh» 70 

«Wie es Euch gef allt» 70 
Sigismund (Siegmund), Kaiser 

189, 190 

Siegfried (Nibelungenlied) 102 
Sinope 31 
Sizilien 35 
Skandinavien 108 
Skeptizismus 42,44 
Slawen 99, 166, 183 
Sokrates 28, 30-32, 34-36, 257, 
278 

Somnambulismus 316 
Sophistik 28-30,43,83 
Sophokles 253 

Spanien 99, 115-117, 132, 133, 

139, 167 
Spektralanalyse 267 
Spinoza, Baruch 57,58 
Spiritismus 281,311,318,319 
Stadte 101, 102, 123-125, 131, 
133, 140, 143, 145, 153, 157, 
158, 162, 164, 169, 170, 172- 
179, 185-187, 189, 191, 192, 194 
Stagira 36 

Stamm, Stammesverwandtschaft 
106, 109, 110, 112, 113, 119, 



121, 123, 126, 127, 132, 136, 
137, 147, 149, 152, 154, 155, 
163 

Steiner, Rudolf 94, 95, 291, 293, 
294-296, 298, 305, 307, 311, 
316-319 

«Philosophie der Freiheit» 64 
«Welt- und Lebensanschauun- 
gen im 19. Jahrhundert» 64 
Stern, Dr. Wilhelm 304, 308 
Stirner, Max 63, 274 

«Der Einzige und sein Eigen- 
tum» 274 
Stoizismus 42, 43 
Strafiburg 171 

Strafiburg, Gottfried von 171 
Stratford 69, 70 
Straufi, Friedrich 312 
Suddeutschland 99, 171, 174 
Sudfrankreich 121, 177 
Siiditalien 35 
Sueven 106 

Suso, Heinrich 49, 171, 212, 215 
Syrien 132 

Tacitus 97, 105-107, 109, 113 

«Germania» 97, 105 
Tassilo 139 

Tauler, Johannes 49, 171, 190, 

204, 208, 209, 212 
Tauschhandel 141 
Tempelherren 182, 183 
Terczky (aus Schillers «Wallen- 

stein») 250 
Tertullian 88 
Thales 19, 21, 27, 305 
Themistokles 23 
Theologia deutsch 171, 215, 216 
Theosophie 311-319 



Thomas von Aquino 42, 48, 49 
Thrakien 37 
Thuringen 187 
Thuringer 127, 147 
Tieck, Ludwig 66, 265 
Tizian, Vecellio 176 
Tolstoi, Alexei, Graf 219, 226, 
272 

Totentanz 177 
Tragodie 253, 254, 257 
Tristan (Heldensage) 99 
Tiirken 186, 193, 194 
Tuisto 106, 113 

Ugrier 156 

Ulfila (Wulfila) 110, 116 
Ungarn (Land) 158, 161, 188 
Universitaten 171 
Unwissenheit, Von der gelehr- 

ten 212 
Uppsala 110 

Vandalen 116, 117, 119, 122 
Vasallentum, Vasallenwesen 118, 

127, 128, 155, 156 
Veda 202 

Vedantaweisheit 214, 215, 308, 

317,318 
Venedig 176, 193 
Vineta 175 

Vischer, Friedrich Theodor 259, 

266, 267, 271 

«Asthetik» 271 
Volkerwanderung 98, 110, 117, 

118, 123,135, 140, 146,162, 194 
Vogt (Richter) 149 
Vogt, Carl 62 

Voltaire, Francois Marie Arouet 
de 222 



Wagner, Richard 253, 254, 256 

Wahrheit 20, 25, 28, 30, 46, 48- 
50, 52-55, 58, 59, 62, 89, 151, 
255,269, 280, 291, 298-310 

Waldenser 177, 187 

Wallenstein, Herzog von Fried- 
land 242, 246, 247 

Walter von Habenicht 179 

Walter von der Vogelweide 134 

Walthari (Walther von Aquita- 
nien, Waltharilied) 121 

We 108 

Weichsel 105 

Weimar 232, 235, 239 

Wenden 156 

Weltanschauungen 17-65, 75, 220, 

240, 269, 270, 272, 285-319 
Weser 106, 152 

Westgoten 110, 114, 116, 117, 

119, 132 
Westpreufien 183 
Wiclif 103, 189, 191 
Widukind 137 

Wieland, Christoph Martin 222 

Wien 171, 176 

Wiertz, Anton Joseph 316 

«Der Mensch der Zukunft» 316 
Wili 108 

Wille, Dr. Bruno 287, 294 
Winckelmann, Johann Joachim 

268, 269, 277 
Winfried Bonifacius 129 
Wissenschaft 18-20, 129, 131-133, 
143, 146, 148, 150, 151, 162, 
167-169, 172, 182, 220, 231, 
254, 255, 291, 293, 298-310, 
313,314,316 
Wolff, Kaspar Friedrich 53, 54, 
231, 276 



Wolfram von Eschenbach 141, 171 
Wotan 108, 113 
Wulfila (Ulf ila) 110,116 

Xenien 239, 263 



Zeno von Kition 43 
Zolibat 161, 165 
Zollner, Kaspar 176 
Zola, Emile 219 
Zypern 43, 89 



Ymir 108